Militärsoziologe über die Entführungen: „Hamas wird die Geiseln nutzen“
Dass die Geiseln mit Gewalt befreit werden können, hält Militärsoziologe Yagil Levy für unwahrscheinlich. Warum Israel in Gaza vor einem Dilemma steht.
taz: Herr Levy, Israel bombardiert den Gazastreifen. Offiziell heißt es, dass sich die Angriffe nur auf Ziele der Hamas richten und die Zivilbevölkerung vorgewarnt wird. Ist das so?
Yagil Levy: Es ist richtig, dass es eine allgemeine Vorwarnung an die Zivilisten gab. Es ist aber auch richtig, dass Israel aktuell von der früher üblichen Methode des „Anklopfens“ absieht, bei der unmittelbar vor der gezielten Bombardierung eines Hauses die Bewohner vorgewarnt werden. Israel hat offiziell erklärt, dass Häuser, in denen sich bekanntermaßen Quartiere der Hamas oder des Islamischen Dschihads befinden, ohne Vorwarnung bombardiert werden. Was auch die hohe Zahl von zivilen Todesopfern erklärt.
Die Hamas versteckt sich gezielt hinter Zivilisten, nutzt gerade Krankenhäuser und UN-Einrichtungen. Wie kann, wie sollte man damit umgehen?
Das internationale Völkerrecht schützt Zivilisten auch, wenn sie als menschliche Schutzschilde missbraucht werden. Israel geht aber erklärtermaßen auch dann, wenn die Hamas sich hinter Zivilisten versteckt, mit voller militärischer Wucht vor, davon ausgehend, dass es wichtiger ist, Israel zu verteidigen und die Kämpfer wie die politische Führung der Hamas anzugreifen.
Der Professor für Politische Soziologie arbeitet an der Offenen Universität Israel und beschäftigt sich unter anderem mit zivilmilitärischen Beziehungen.
Nun plant die Armee offenbar eine Bodenoffensive. Erwarten Sie ein anderes Ergebnis als bei bisherigen Konfrontationen im Gazastreifen, wo nach dem Krieg alles so war wie vor dem Krieg?
Es besteht heute enormer Druck vonseiten der israelischen Bevölkerung und offenbar auch in den Reihen der Armee, nicht zu dem alten Zustand zurückzukehren. Sonst würde es keine Bodenoffensive und keine so massive Rekrutierung von Reservisten geben. Auf der anderen Seite beobachten wir, dass es die politische Führung, obschon die Reservisten schon seit einigen Tagen einsatzbereit sind, nicht eilig hat, eine Bodenoffensive zu starten. Ich vermute, dass sie noch nicht endgültig darüber entschieden hat. Ein Einmarsch bedeutet sicher eine große Zahl von verletzten und gefallenen Soldaten einerseits und auch auf palästinensischer Seite viele verletzte und tote Zivilisten. Die Regierung befindet sich in einem ungeheuer schwierigen Dilemma, auch mit Blick auf die Operation „Starker Fels“ 2014, die mit zahlreichen Opfern und letztendlich ohne Ergebnis endete. Die Führung lässt sich Zeit. Auf der anderen Seite wäre es auch kein gutes Signal, wenn die große Zahl der rekrutierten Reservisten wieder nach Hause geschickt wird, ohne zum Einsatz gekommen zu sein. Diese schwierige Lage erklärt auch die Bildung einer Großen Koalition und den Beitritt von Politikern, die moderater sind. Die Entscheidung liegt dann nicht mehr allein auf den Schultern der bisherigen Regierungskoalition.
Es sind 100 bis 150 Geiseln in den Händen der Hamas. Sehen Sie irgendeine Chance, die Entführten zu befreien, mit militärischer Gewalt oder durch Verhandlungen?
Die Möglichkeit, die Entführten gewaltsam zu befreien, ist sehr klein. Sie werden an verschiedenen Orten versteckt gehalten. Ich hege keine Zweifel daran, dass die Hamas versuchen wird, die Menschen für sich zu nutzen, ob als menschliche Schutzschilde oder um Israel von Angriffen abzuhalten. Es gab ja schon die Drohung, einzelne Geiseln zu ermorden, sollte Israel angreifen. Natürlich muss es Verhandlungen geben. Klar ist, dass Israel ein hoher Preis abgefordert werden wird. Hier muss an den über fünf Jahre festgehaltenen israelischen Soldaten Gilad Schalit erinnert werden, für den die Regierung letztendlich infolge des großen öffentlichen Drucks über tausend palästinensische Häftlinge tauschte. Heute ist die Rede von dutzenden Zivilisten, die aus vergleichsweise starken gesellschaftlichen Reihen kommen, Leute, die im Umfeld des Gazastreifens leben, in den Kibbuzim, in denen es diese Woche zu zahllosen Todesopfern kam. Die Regierung muss nicht damit rechnen, dass die Angehörigen und Freunde der Entführten die Hände in den Schoß legen und abwarten, was Netanjahu nun tun wird. Sie werden sehr auf Verhandlungen drängen. Auch für Verhandlungen ist es gut, dass es eine breite Regierung gibt, in der auch moderatere Politiker sitzen, um anschließend eine zurückhaltende Entscheidung zu rechtfertigen.
Es wird viel über den Zeitpunkt spekuliert, den die Hamas für den Angriff wählte. Der Jahrestag des Jom-Kippur-Kriegs spielte vermutlich eine Rolle. Sehen Sie noch andere mögliche Argumente, die für die Hamas wichtig gewesen sein könnten?
Ich glaube, dass wir nicht ausreichend wahrgenommen haben, welche Emotionen die Annäherung Israels an arabische Staaten und jüngst an Saudi-Arabien bei den Palästinensern auslöst. Sie bleiben machtlos außen vor. Gleichzeitig treibt die israelische Regierungskoalition den Siedlungsbau im Westjordanland und letztendlich die Annexion voran. Wir beobachten Gewalt vonseiten der Siedler, wie es sie noch nicht gab. Die massiven Besuche von nationalreligiösen Juden auf dem Tempelberg. All das mag die Hamas zur Aktion getrieben haben, obschon es gerade in jüngster Zeit deutliche wirtschaftliche Erleichterungen für den Gazastreifen gab im Gegenzug dafür, dass es dort ruhig blieb. Wir tendieren außerdem dazu, globale Zusammenhänge aus den Augen zu verlieren. Iran hatte sicher einen Einfluss und mag die Hamas mit dazu bewegt haben, nicht unbedingt logisch und rational mit Blick auf die eigenen Interessen vorgegangen zu sein.
Der Angriff ist ein furchtbares Versagen der Regierung, aber auch des gesamten Sicherheitsapparats, allen voran der Geheimdienste und der Armee. Wie konnte das passieren?
Um ehrlich zu sein, das ist etwas, was noch gründlich untersucht werden muss. Jeden Tag gibt es neue Informationen darüber, dass es offenbar doch Anzeichen dafür gab, dass ein solcher Angriff bevorstehen könnte, und die man ignorierte. Die Nachrichtendienste sind offensichtlich davon ausgegangen, dass die Hamas an Ruhe interessiert ist und nicht angreifen wird. Die Armee hat zahlreiche Truppen aus dem Gazaumfeld ins Westjordanland verlegt, um dort Siedlungen zu bewachen, vor allem während des Laubhüttenfestes. Es ist völlig klar, dass man sich zu sehr auf die technischen Sicherheitsanlagen verlassen hat und man deshalb glaubte, die Zahl der Soldaten reduzieren zu können. Ich möchte aber gern noch zwei weitere Punkte ansprechen: Das nachrichtendienstliche Konzept, das auf Einigung mit der Hamas setzt und davon ausgeht, dass es dann ruhig bleibt, erfüllt keinerlei politische Funktion. Seit Jahren gibt es keinen Ansatz dafür, das Palästinenserproblem zu lösen. Was auch dazu führt, dass der Iran an Einfluss gewinnt. Gleichzeitig konzentriert sich die Armee immer mehr auf die Modernisierung und Technologie, und zwar so weit, dass sie die grundsätzlichen Dinge vergisst, nämlich die Grenzen zu bewachen und Truppen in vernünftigem Umfang einsatzbereit zu halten. Wenn so etwas wie in den vergangenen Tagen passiert, dann gehört das zu dem Preis, den die Armee für ihre Arroganz zahlen muss. Aber was ich noch sagen wollte: Es herrscht in Israel die irre Vorstellung der Dialektik der Macht vor, die davon ausgeht, dass man mit Waffen und Gewalt allein vorgehen kann, während uns die andere Seite wiederholt vorführt, dass das nicht funktioniert.
Wie meinen Sie das?
Die Armee sorgt sehr dafür, dass sich der Irrglauben hält, für jedes politische Problem gebe es eine militärische Lösung, sei es eine technische, eine nachrichtendienstliche oder Truppen. Wieder und wieder müssen wir erleben, dass die andere Seite diese Spielregeln nicht akzeptiert, und jedes Mal versucht Israel etwas Neues, baut Sicherheitsanlagen, unterhält ein unglaubliches nachrichtendienstliches Netz innerhalb des Gazastreifens. Die Hamas hat uns jetzt bewiesen, dass sie damit umgehen kann und den israelischen Nachrichtendienst sogar mit falschen Informationen in die Irre führen kann. Wir müssen endlich einsehen, dass uns der Einsatz von Gewalt nicht weiterbringt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren