Migrationsabkommen mit der Türkei: Ein „ganz normaler Prozess“?

Sollen abgelehnte Asyl­be­wer­be­r:in­nen in großem Stil in die Türkei abgeschoben werden? Lars Klingbeil versucht vor Ort, die Wogen zu glätten.

Ein Mann in Begleitung von weiteren Personen

Lars Klingbeil (SPD) bei seinem Türkei-Besuch am 30. September Foto: Fionn Große

Ankara/Istanbul taz | Starten demnächst „Spezialflüge“ mit abgelehnten Asyl­be­wer­be­r:in­nen von Deutschland nach Ankara und Istanbul? Und wenn ja, was ist der Preis, den die Türkei für die Abschiebeaktion in großem Stil verlangt? Es sind Fragen, die auch dem Co-Vorsitzenden der SPD, Lars Klingbeil, auf seiner dreitägigen Reise in die Türkei gestellt werden.

Etwa bei einem Gespräch mit Expertinnen am Mittwochmorgen. Eigentlich geht es um außenpolitische Fragen, um die geopolitische Rolle der Türkei. Doch am Ende des einstündigen Gesprächs will eine der Teilnehmerinnen doch wissen: „Was ist dran an diesem neuen Migrationsabkommen?“ – „Das ist kein großes Ding“, beschwichtigt Klingbeil. Es gehe lediglich um türkische Staatsbürger, die kein Bleiberecht in Deutschland hätten und deshalb ausreisen müssten. „Ein ganz normaler Prozess.“

Wie zunächst die FAZ berichtete, haben der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz und der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan eine informelle Absprache getroffen. Demnach sollen zunächst 200 abgelehnte Asylbewerber in die Türkei abgeschoben werden. Ankara habe sogar angeboten, bis zu 500 türkische Menschen pro Woche zurückzunehmen. Das soll bereits bei Erdogans Besuch in Berlin im vergangenen November eingefädelt worden sein. Geht es dem Kanzler, der das Thema Abschiebungen zur „Chefsache“ gemacht hat, um einen neuen Flüchtlingsdeal mit der Türkei?

Klingbeil, der gerade Ver­tre­te­r:in­nen der linken und sozialdemokratischen Oppositionsparteien in der Türkei besucht, versucht die Wogen zu glätten. „Über die Frage der Rückführungen redet die Bundesregierung bei ganz vielen Anlässen, genauso wie über die Frage, wie Fachkräfte gewonnen werden können. Und natürlich ist es ein Thema zwischen Deutschland und der Türkei, wie auch Visaerleichterungen gestaltet werden können“, so Klingbeil. Das dürfe aber nicht in einen Topf geworfen werden.

Türkei will Visaerleichterungen

Offenbar passiert aber genau das: Im Gegenzug dafür, dass die Türkei Landegenehmigungen für Abschiebeflüge erteilt, soll Deutschland Visaerleichterungen in Aussicht gestellt haben. Während Deutsche einfach mit dem Personalausweis in die Türkei reisen dürfen, ist es für Türkinnen und Türken, die ihre Verwandten in Deutschland besuchen oder Geschäfte tätigen wollen, oft extrem nerven- und zeitaufwendig, eine Einreisegenehmigung zu bekommen.

„Eine Vielzahl von Visa werden abgelehnt und es dauert viel zu lange. Wir erhoffen uns, dass die deutsche Seite das Problem löst“, so der Vorsitzende der sozialdemokratischen CHP, Özgür Özel, auf einer Pressekonferenz nach seinem Gespräch mit dem deutschen Parteikollegen. Sollte es Erleichterungen für Jugendliche oder Geschäftsleute geben, begrüße man das.

Özel machte aber auch klar, was man nicht wolle: „Es kann nicht sein, dass die Türkei als Auffanglager vor den Toren Europas fungiert“. Also kein neuer EU-Türkei-Deal, wie ihn die damalige Kanzlerin Angela Merkel 2017 eingefädelt hatte. Die Türkei erhielt sechs Milliarden Euro, um geflohene Syrerinnen und Syrer zu versorgen. Bis heute leben bis zu fünf Millionen von ihnen in der Türkei.

Allerdings soll es diesmal nicht um Flüchtlinge aus Syrien gehen, wie auch Klingbeil deutlich machte. „Das, was jetzt gerade im Raum steht mit den Rückführungen, hat erst mal nichts mit dieser Situation zu tun.“ Stattdessen will Deutschland die bis zu 15.000 türkische Staats­bür­ge­r:in­nen loswerden, die ohne Aufenthaltserlaubnis in Deutschland leben, in der Mehrzahl abgelehnte Asylbewerber:innen. Die Zahl der türkischen Asyl­be­wer­be­r:in­nen stieg im vergangenen Jahr sprunghaft an, von 24.00 auf 60.000. In diesem Jahr sank die Zahl der Anträge allerdings wieder auf das Niveau der Vorjahre.

Der Anstieg der Asylsuchenden habe mehrere Ursachen, so Yasemin Ahi, die sich bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Istanbul um die Themen Migration und der Demokratie kümmert: die zunehmenden Repressionen gegen politisch Aktive und die schlechte wirtschaftliche Situation in der Türkei. Die horrende Inflation, die selbst nach offiziellen Angaben bis zu 70 Prozent erreichte und tatsächlich wohl sogar höher lag, erlaube es vielen Eltern nicht mehr, ihre Kinder zu unterstützen. Die suchten dann ihr Glück in Deutschland. „Während es für gut ausgebildete Menschen Wege der Einwanderung gibt, sehen andere keine andere Möglichkeit, als einen Asylantrag zu stellen.“

Repression gegen Abgeschobene aus Deutschland?

Ein Teil der Asylsuchenden werden also Menschen sein, die in Deutschland eine wirtschaftliche Perspektive suchen. Gleichzeitig dürften viele auch aus politischen Gründen der Türkei den Rücken kehren. „Rund um die Präsidentschaftswahl hat der türkische Präsident Erdogan die Repressionen gegen Kri­ti­ke­r:in­nen noch einmal verschärft“, sagt Ahi. Das Demonstrationsrecht sei stark eingeschränkt worden, es gebe viele Inhaftierungen und Prozesse. „Das spüren vor allem Aktivist:innen, die sich für Frauen- und LGBTQI-Rechte einsetzen, aber auch die Kurd:innen, die politisch aktiv sind. Der Druck auf sie wurde enorm erhöht.“

Längst nicht alle erhielten Asyl in Deutschland, befürchtet Ahi, gerade wenn es noch keine Prozesse gegen sie gäbe. Sie warnt davor, dass von einer groß angelegten Rückführungsaktion auch Menschen betroffen sein könnten, welche die regierende AKP und die Politik Erdogans in der Vergangenheit kritisiert hätten und am Flughafen direkt verhaftet werden könnten.

Von den zunehmenden Repressionen konnte sich Klingbeil selbst ein Bild machen, als er am Dienstag den Vorsitzenden der verbotenen linken HDP-Partei besuchte, die sich inzwischen in DEM umbenannt hat. Tuncer Bakirhan empfing den deutschen Gast in einem Raum, der dem Warteraum eines Bürgeramts ähnelte, und entschuldigte sich für die bescheidenen Verhältnisse. Immer, wenn man verboten werde, werde auch die gesamte Einrichtung beschlagnahmt. Die HDP, die sich für kurdische Belange einsetzt, wurde bereits mehrmals verboten, gewählte Bür­ger­meis­te­r:in­nen sitzen im Gefängnis.

Und just am Mittwoch, als Klingbeil den Bürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoglu, traf, begann der Prozess gegen diesen: Wegen angeblicher Beleidigung der Wahlkommission, ein offensichtlich politischer Prozess.

Es sind Bedenken, die Klingbeil direkt weitergeben kann, wenn er am Mittwochabend wieder in Berlin landet. In zwei Wochen soll Scholz selbst in die Türkei reisen, um sich mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayip Erdogan treffen. Neben außenpolitischen Fragen, der Lage im Nahen Osten und dem Krieg in der Ukraine, wird es wohl auch um das Thema Migration gehen.

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