Migration und der Zerfall Europas: Menschenrechte: egal

Hätte die EU die Verhandlungen über Migration nicht auf die lange Bank geschoben, stünde sie weniger ratlos da.

Ein Mann wedelt mit einer weißen Fahne am Stacheldraht an der türkisch-griechischen Grenze.

An der Außengrenze der europäischen „Wertegemeinschft“: türkisch-griechische Grenze am 1. März Foto: Can Ozer/Depo Photos/imago

Die Situation an der türkisch-griechischen Grenze ist eine Krise mit Vorlauf. Sie war erwartbar, aber nicht unvermeidlich. Hätte die Europäische Union die Verhandlungen über einen Plan für den Umgang mit Migration nicht auf die lange Bank geschoben, hätte sie nicht mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan ein in mehrfacher Hinsicht dubioses Abkommen geschlossen und sich so erpressbar gemacht, hätte sie nicht so viel Angst vor Rechtsextremisten innerhalb der eigenen Grenzen gehabt: Sie stünde nun weniger hilflos da.

Hätte sie doch nur. Aber sie hat nicht. Und nun ist guter Rat teuer.

Die Europäische Union versteht sich nicht als Wirtschaftsverbund, sondern als Wertegemeinschaft. Von welchen Werten ist eigentlich die Rede? Der Achtung von Menschenrechten? Dem Ziel, internationalem Recht möglichst umfassende Geltung zu verschaffen? Dem uneingeschränkten Respekt vor der Würde des Menschen?

All diese Ziele werden im Zusammenhang mit Geflüchteten seit Jahren verletzt. Um nur ein Beispiel zu nennen: die europäische Zusammenarbeit mit der sogenannten libyschen Küstenwache – laut der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl ein Zusammenschluss von Milizionären, Menschenschmugglern und Menschenhändlern –, die keine andere Absicht verfolgt, als Geflüchtete von Europa fernzuhalten.

Das hat bisher, bis zu einem gewissen Grad, funktioniert. Pech für Geflüchtete, die in Libyen strandeten. Auch deshalb, weil Aufnahmen von einzelnen Booten weniger gute Fernsehbilder liefern als Tausende von Leuten, die eine Grenze stürmen wollen.

Nun aber gibt es diese Bilder. Was es nicht gibt, ist ein Plan. Was es auch nicht gibt: eine „Wertegemeinschaft“. Gut möglich, dass wir gerade die innere Auflösung der Europäischen Union besichtigen.

Das wäre das tragische Scheitern einer großen Idee. Aber nicht die Schuld der Geflüchteten. Sondern auf den Egoismus und die Feigheit derer zurückzuführen, die – glücklich und unverdient – in friedliche Staaten hineingeboren wurden.

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Jahrgang 1956, ist politische Korrespondentin der taz. Von 1996 bis 1999 leitete sie das Parlamentsbüro der Zeitung, vorher war sie sechs Jahre lang deren Korrespondentin für Ost-und Zentralafrika mit Sitz in Nairobi. Bettina Gaus hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt 2011 „Der unterschätzte Kontinent – Reise zur Mittelschicht Afrikas“ (Eichborn).

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