Migration und Klimawandel: Zählung der Unbekannten
Behörden und Entwicklungsorganisationen reden viel von Klimamigration. Was genau ist das? Es gibt verschiedene Definitionen und Schätzungen.
Wie unterschiedlich gerechnet wird, zeigen verschiedene Studien: Die „Klimakrise zwingt jährlich 20 Millionen Menschen zur Flucht“, warnte die Hilfsorganisation Oxfam anlässlich ihrer Studie zum Thema „Forced from Home“, die sie auf der UN-Klimakonferenz in Madrid vorstellte. Die Weltbank schätzt in einer Studie von 2018, dass im Jahr 2050 im schlimmsten Fall bis zu 140 Millionen Menschen jährlich wegen Klimaveränderungen ihre Heimat verlassen müssen. Sie suchen demnach als „Binnenmigrant*innen“ Schutz im eigenen Land.
Das Flüchtlingshilfswerk der UN (UNHCR) verwendet wieder andere Schätzungen: Demnach würden bereits heute etwa 25 Millionen Menschen pro Jahr durch Klimawandel und Naturkatastrophen vertrieben. Genauere Daten sind auch deshalb schwer zu erheben, weil Klimawandel keine offizielle UNHCR-Kategorie für Fluchtbewegungen ist. Die Behörde bleibt vage, wer Klimaflüchtling ist. „Menschen, die aufgrund von Klimawandel oder Naturkatastrophen vertrieben werden, könnten Flüchtlinge sein“, sagt Sprecher Chris Melzer.
Oxfam beruft sich in seiner Studie auf die Daten des Internal Displacement Monitoring Centers (IDMC) in Genf. Das IDMC, eine renommierte Nichtregierungsorganisation, die vom norwegischen Flüchtlingsrat NRC finanziert wird, sammelt weltweit Daten von Behörden, UN-Organisationen, NGOs und Medien über Binnenvertreibungen. Aus den IDMC-Statistiken ergeben sich über zehn Jahre gemittelt etwa 20 Millionen Vertriebene, die wegen Wetterextremen wie Überflutungen und Stürmen fliehen.
Mit Zahlen Aufmerksamkeit schaffen
Diese Zahlen hält Christiane Fröhlich vom Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien (GIGA) für zuverlässig. Allerdings seien sie nur so gut wie die Infrastruktur im jeweiligen Land, räumt Sylvain Ponterre vom IDMC ein. In Eritrea etwa registrierte das IDMC wohl wegen Datenproblemen nur 100 Vertriebene in den vergangenen zehn Jahren. Fröhlich erklärt auch, dass „die Organisationen mit diesen Zahlen Druck auf Entscheidungsträger aufbauen“. So erschien diese Studie rechtzeitig zum Klimagipfel von Madrid, bei dem um Entschädigung für Klimaschäden gerungen wurde.
„Klimawandel ist auf jeden Fall ein Treiber für Migration“, sagt Benjamin Schraven vom Deutschen Institut für Entwicklungspolitik. „Aber der Zusammenhang ist viel subtiler und komplexer, als dass er in einer Zahl dargestellt werden könnte.“
Viele Fragen sind unbeantwortet: Hat eine Katastrophe wie eine Überschwemmung oder eine langjährige Dürre die Migration ausgelöst? Wurden Menschen zum Umzug gezwungen oder suchen sie ohnehin eine neue Heimat? Wer gilt hier als Klimamigrant? „Eine Migrationsentscheidung ist nie trennscharf. Politische, wirtschaftliche, persönliche Gründe – alles spielt hinein“, sagt Schraven.
Erzwungene Immobilität vernachlässigt
GIGA-Expertin Christiane Fröhlich warnt außerdem vor der Wirkung solcher Zahlenspiele: „Die Zahlen können Alarmismus bedienen.“ Sie stellt daher die Frage, ob solche alarmierenden Zahlen von MigrantInnen in den Industrieländern eher zu mehr Angst oder zu mehr Klimaschutz führen. „In den letzten vier Jahren sind solche Zahlen auch dazu verwendet worden, für mehr Abschottung in Europa zu werben“, meint Fröhlich.
Beide ExpertInnen erinnern daran, dass in der Diskussion um erzwungene Mobilität ein Aspekt völlig fehle: die erzwungene Immobilität. „Die Menschen mit den wenigsten Ressourcen können überhaupt nicht mehr umziehen. Denn das kostet Geld“, gibt Fröhlich zu bedenken. „Noch stärker vom Klimawandel getroffen werden also diejenigen, die nicht mehr mobil sein können und so vor seinen Folgen nicht mehr fliehen können.“
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