Menschen mit Behinderung: „Wer AfD wählt, wählt gegen uns“
Zu den Menschen, die Angst vor einer AfD-Regierung haben, zählen auch Menschen mit Behinderung. Ernst genommen fühlen sie sich damit nicht.
Sechs Jahre später, im Mai 2024, sitzt sie auf einer Bühne in Freiburg und spricht über ihre Ängste. „Als behinderter Mensch bin ich wie kaum jemand anderes in dieser Gesellschaft abhängig von staatlichen Strukturen“, sagt die 39-Jährige. Man müsse sie nicht verschleppen und umbringen, um sie zu töten. „Wenn eine Partei rechtskonservativ ist, dann kann man davon ausgehen, dass es auch behinderte Menschen betrifft, das zeigt uns die Vergangenheit.“
Bei der Veranstaltung geht es um den Zusammenhang von Demokratie und Inklusion. Sarah Baumgart, die in Freiburg als Beauftragte für die Belange von Menschen mit Behinderungen arbeitet, sieht beides in Gefahr: „Mehr als einmal sind in den letzten Jahren Gesetze und Verordnungen erlassen worden, die mein Leben deutlich einschränken und mich behindern. Rechtskonservative, ableistische Politik ist eine Gefahr für mein Leben.“
Diese Politik hat nicht nur Auswirkungen auf das Leben von Sarah Baumgart, sondern auch auf ein gesellschaftliches Klima. So mehren sich seit einigen Jahren ableistische Gewalttaten. Ableismus wird häufig als Behindertenfeindlichkeit beschrieben, ist aber mehr. Es geht dabei um ein System von vermeintlicher Normalität, die nicht behindert ist. Menschen, die behindert oder chronisch krank sind, sind in diesem System nicht vorgesehen und werden diskriminiert.
Ableismus tötet
Ableismus ist nicht nur ein unfreundlicher Blick oder ein Schimpfwort. Ableismus kann töten. Zum Beispiel am 28. April 2021: An diesem Tag ermordete eine Pflegehelferin im Potsdamer Oberlinhaus vier Menschen mit Behinderungen und verletzte eine weitere Person schwer. Im Juli 2021 ertranken zwölf Menschen mit Behinderungen in einer Wohneinrichtung durch das Hochwasser im rheinland-pfälzischen Landkreis Ahrweiler. Trotz der Vorwarnung wurde den Menschen nicht geholfen.
Am 27. Mai 2024 wurde in Mönchengladbach eine Wohneinrichtung für behinderte Menschen mit einem Stein beschädigt, auf dem stand: „Euthanasie ist die Lösung“. Unter diesem Begriff wurden im Nationalsozialismus viele schwerstkranke, behinderte und chronisch kranke Menschen, darunter auch Kinder und alte Menschen, auf staatlichen Befehl hin getötet.
Das System der vermeintlichen Normalität spielt auch bei der Partei Alternative für Deutschland (AfD) eine Rolle. So stand das Parteiprogramm zum Bundestagswahlkampf 2021 unter dem Motto: „Deutschland. Aber normal“. Welche vermeintliche Normalität die AfD meinte, war auf den Wahlplakaten zu sehen: Weiße, nicht sichtbar behinderte Menschen. Was nicht sichtbar war: gleichgeschlechtliche Beziehungen, gendersensible Sprache, menschliche Vielfalt.
Was aus der Perspektive der AfD nicht normal ist, wird als verrückt geframt. So bezeichnete Maximilian Krah die „Tagesschau in Einfacher Sprache“ als „Nachrichten für Idioten“. Schon allein dieser Begriff ist ableistisch, da es ein abschätziger Begriff aus der NS-Zeit ist. In einer Erklärung bezeichneten rund 30 Sozialverbände die Rhetorik des EU-Abgeordneten als „verletzend und gefährlich“. Sie warnten vor Ausgrenzung von Menschen mit und ohne Behinderung, die nicht in das „völkisch-nationalistische Weltbild“ der AfD passten.
Feindbild Inklusion
Michael Zander ist Professor für Disability Studies, Inklusion und Psychologie an der Hochschule Magdeburg-Stendal und beschäftigt sich mit der AfD und ihrer Behindertenpolitik. Er beschreibt die Strategie der Partei so: „Das, was die AfD für normal hält, soll Priorität bekommen. Was dem nicht entspricht, wie das Recht auf inklusive Beschulung, soll bekämpft werden. Für die AfD ist Inklusion nicht normal.“ Zu sagen, die AfD sei pauschal gegen behinderte Menschen, hält Michael Zander aber für zu einfach.
Behinderte Menschen würden von der Partei auch instrumentalisiert. So habe es beispielsweise im Jahr 2016 eine Presseerklärung der AfD Sachsen-Anhalt gegeben, in der behinderte Menschen gegen Geflüchtete ausgespielt wurden. Die Forderung darin lautete, nicht Geflüchtete, sondern die Integration behinderter Menschen finanziell zu unterstützen.
Gegeneinander ausgespielt werden von der AfD auch behinderte gegen nicht behinderte Kinder. Im Sommerinterview 2023 beschreibt Björn Höcke, Vorsitzender der AfD in Thüringen, schulische Inklusion als eines der „Ideologieprojekte“, von dem man das Bildungssystem „befreien“ müsse. Seit 2009 hat Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert und sich damit für die gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderung ausgesprochen. Höcke beschreibt Inklusion als ein Projekt, das „unsere Schüler nicht weiterbringen“ und „nicht leistungsfähiger machen“ werde.
Nicht ernst genommen
„Ich finde das ganz gruselig, sowas zu hören“, sagt Christin Jung. Ihre Tochter Ida ist zehn Jahre alt und soll laut Höcke so ein Kind sein, das andere Schüler nicht weiterbringt. Christin Jung sieht das ganz anders. „Bisher habe ich immer nur mitbekommen, dass alle davon profitieren, wenn Kinder mit und ohne Behinderung zusammen beschult werden“, sagt die 37-Jährige.
Zusammen mit ihrer Tochter und ihrem Mann lebt Christin Jung in Chemnitz. Sie erzählt von Zukunftsängsten, die viele Menschen nicht sehen würden. „Sie fangen Stimmen, indem sie gegen Ausländer wettern, aber wer die AfD wählt, der wählt gegen unsere Familie und für die Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung“. Christine Jung hat Angst, wie es mit Ida weitergeht, „wenn wir mal nicht mehr da sind“. Die Hoffnung hat sie nicht aufgegeben, doch sie sieht auch Warnzeichen: „Wir brauchen Unterstützung, und wenn wir die nicht bekommen, wird es hart“.
Aktuell wartet Familie Jung auf die Bewilligung eines neuen Rollstuhls für Ida. Wenn sie Freunden von ihren Ängsten erzählt, dass sie den Ausschluss ihrer Tochter befürchtet, wenn die AfD an die Macht kommen würde, „dann bekommen viele ganz große Augen“. Das wird nicht wieder wie zur Nazizeit, so reagierten einige Bekannte. Die Argumentation kennt Sarah Baumgart auch. „Sie werden euch schon nicht vergasen“, musste sie sich anhören.
Auf den Zusammenhang von Vergangenheit und Gegenwart macht auch René Schaar aufmerksam. Beim Norddeutschen Rundfunk arbeitet er als Diversity Manager, er ist verantwortlich für Elin, die erste Sesamstraßen-Puppe mit sichtbarer Behinderung. Am 2. Juni 2024, einige Tage vor der Europawahl, postet René Schaar ein Video auf seinem Instagram-Account. Zu sehen ist er darin auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Neuengamme. Er berichtet von einem Ausflug mit seiner Schulklasse, mit der er als Kind dort war.
Stimmung kippt
Der Guide erklärte der Klasse, wer dort durch Arbeit vernichtet wurde. „Es waren auch die Kranken, die ‚Verrückten‘, die Ausgesonderten, die behinderten Menschen“, erklärt Schaar. Er lebt selbst mit einer Behinderung und reagierte damals aus Überforderung, wie er sagt, mit einem Scherz: Er könne ja dann direkt dort bleiben. „In diesem Moment habe ich realisiert, obwohl ich aus einer Täterfamilie komme, ich hätte genauso gut Opfer sein können“, so Schaar, „und es ist fraglich, ob es mich überhaupt gegeben hätte und, wenn ja, wie lange.“ In seiner Videobeschreibung steht: „Menschen mit Behinderungen und anderen marginalisierten Gruppen heute Teilhabe zu verwehren, ist der Anfang vom Ende.“
Dass diese Zeit naht, bemerkt auch Sarah Baumgart. Sie berichtet von einer großen Offenheit für Inklusion in den 2010er Jahren. Es gab Projektmittel für inklusive Projekte, das Bundesteilhabegesetz wurde angestoßen. Mit der Corona-Pandemie sei in diesem Bereich viel weggefallen. „Menschen mit Behinderungen wurden unsichtbar, auch ich“, sagt Baumgart. Als sie nach längerer Isolation mal wieder durch die Stadt ging, spürte sie Unsicherheit: „Die Leute standen mir im Weg, kamen gar nicht mehr zurecht mit meinem Elektrorollstuhl, quetschten sich noch schnell vor mir in den Aufzug“. Vor allem das Verhalten im ÖPNV sei viel weniger mitdenkend als zuvor, das habe sich auch bis heute gehalten.
Wenn Sarah Baumgart über die Entwicklung rund um die AfD und andere Parteien, die rechtskonservative Politik betreiben, nachdenkt, macht ihr eine Sache besonders Angst: dass nichtbehinderte Menschen über ihre Warnungen und Ängste lachen und denken würden, Menschen mit Behinderungen wollten sich bloß wichtig machen. Vielleicht sei die AfD nicht pauschal gegen behinderte Menschen, so Baumgart. Aber sie sei ganz klar gegen Inklusion und vertrete eine Vorstellung von Behinderung, die Gleichbehandlung und Selbstbestimmung ausschließe.
Auf dem Podium in Freiburg beschreibt Sarah Baumgart den möglichen Anfang vom Ende so: „Man kann mein Leben schleichend einschränken, bis es nicht mehr erträglich ist. Man kann Gesetze ändern, Leistungen streichen, meine Versorgung minimieren. Mir Selbstbestimmung, Assistenz, Hilfsmittel und notwendige Medikamente und Güter reduzieren, bis ich sterbe.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Sport und Krieg in der Ukraine
Helden am Ball