Meduza-Auswahl 4. bis 10. Mai: Erinnerungskultur und Veteranen
Wie sich Russland an den Zweiten Weltkrieg erinnert und warum der „Traum der Veteranen“ vor dem Aus steht. Texte aus dem Exilmedium.
Das russisch- und englischsprachige Portal Meduza zählt zu den wichtigsten unabhängigen russischen Medien. Im Januar 2023 wurde Meduza in Russland komplett verboten. Doch Meduza erhebt weiterhin seine Stimme gegen den Krieg – aus dem Exil. Die taz präsentiert seit 1. März unter taz.de/meduza immer mittwochs in einer wöchentlichen Auswahl, worüber Meduza aktuell berichtet. Das Projekt wird von der taz Panter Stiftung gefördert.
In der Woche vom 4. bis 10. Mai 2023 berichtete Meduza unter anderem über folgende Themen:
Wer hat die Drohnenangriffe gegen den Kreml organisiert?
In der Nacht zum 3. Mai wurde der Kreml mit Drohnen angegriffen. Der russische Präsident selbst war zu diesem Zeitpunkt nicht da. Wer dahintersteckt, ist weiter unklar. Die russischen Behörden beschuldigten umgehend die Ukraine, Kyjiw bestreitet seine Beteiligung und deutet auf eine Operation unter falscher Flagge hin.
Der Politikwissenschaftler Kirill Shamiev, der zu zivil-militärische Beziehungen forscht und aktuell als Gastwissenschaftler beim European Council on Foreign Relations tätig ist, erklärt in diesem Interview mit Meduza (englischer Text), wie beide Seiten, Kyjiw und Moskau, vom Angriff profitieren.
Shamiev analysiert außerdem mögliche Folgen des Angriffs: „Die politische Führung der Ukraine tut ihr Bestes, um die innenpolitische Lage Russlands zu destabilisieren. Diese Angriffe richten sich nicht nur gegen die für die Front wichtige Infrastruktur, sondern auch tief in das russische Staatsgebiet hinein“, ist Shamiev überzeugt. Durch die Angriffe sieht er keine besonderen Vorteile für Russland, außer „für den patriotischen Teil der Gesellschaft“ und für die Legitimation „einer möglichen Reaktion“ des Kremls.
Das Putin-Regime instrumentalisiert den Zweiten Weltkrieg
Meduza veröffentlicht wöchentlich Podcasts. In dieser Folge (englischer Text) geht das Medienportal der Frage nach, wie der russische Staatspräsident Wladimir Putin sich die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg zunutze macht. Die Kapitulation Deutschlands wurde am späten Abend des 8. Mai 1945 in Berlin unterzeichnet – in Moskau war bereits der 9. Mai. Aus diesem Grund feiert man den Tag des Sieges in Russland und in den postsowjetischen Ländern am 9. Mai. Dieses Jahr, im Zuge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine, wurde die große Parade abgesagt.
Diese Folge des Meduza-Podcasts beschäftigt sich unter anderem mit folgenden Aspekten: Wie ist die moderne Mythologie des russischen Staates zum Zweiten Weltkrieg entstanden? Alles begann mit Boris Jelzin im Jahr 1995, erzählt Dr. Allyson Edwards, Dozentin für globale Geschichte und Politik an der Bath Spa University in England im Podcast. Und: Der Knackpunkt sei nicht Putins Militarismus, sondern Russlands Militarismus. Edwards versucht aber auch zu erklären, wo die antimilitaristischen russischen Stimmen geblieben sind.
„Der Traum der Veteranen“ bekommt keine Förderung mehr
Seit 2020 gibt es in Russland ein Projekt namens „Der Traum der Veteranen“, das versucht, Wünsche und Träume von russischen Veteranen des Zweiten Weltkrieges zu erfüllen. Der Unternehmer Yaroslav Selyutin hat das Wohltätigkeitsprojekt ins Leben gerufen.
Bis zum Jahr 2022 hatte es mehr als 500 Wünsche verwirklichen können: Einige Veteranen erhielten einen Fernseher, andere einen neuen Rollstuhl, manchen wurde ein Bad mit Warmwasser in ihre Datscha gebaut. Die Spenden kamen bis dahin meist von Menschen aus ganz Russland.
Wegen der russischen Invasion der Ukraine im Februar 2022 sinken aber die Spenden, und das Projekt steht nun kurz vor dem Aus.
Meduza veröffentlicht eine Reportage des Mediums Die Menschen am Baikalsee (russischer Text), in dem erzählt wird, wer bisher davon profitieren konnte – und wer nun nicht mehr. Von Januar bis April 2023 wurden nur 10 erfüllte Wünsche gemeldet, im gleichen Zeitraum im Jahr 2022 waren es 43. Neben dem Krieg gegen die Ukraine gibt es einen weiteren, ganz natürlichen Grund für den Rückgang der Wunscherfüllungen: Die Veteranen werden immer älter und weniger – fast alle Antragsteller sind über 90 Jahre alt.
Verhaftung wegen preisgekröntes Theaterstück
„Rechtfertigung des Terrorismus“ wird der Theaterregisseurin Yevgenija Berkovitch und der Dramatikerin Svetlana Petrischuk vorgeworfen. Beide wurden am 4. Mai in Moskau festgenommen. Der Auslöser: das Theaterstück „Finist, the Bright Falcon“, das von russischen Frauen, die von der islamistischen Terrorgruppe des sogenannten Islamisches Staats (IS) rekrutiert wurden, erzählt.
In diesem Text berichtet Meduza über den Fall und veröffentlicht ein Fragment der Theatervorstellung (englischer Text). Das Stück rechtfertigt nicht den Terrorismus, sondern verteidigt eine antipatriarchale und zweifellose antiterroristische Haltung. Die Schauspieler*innen sind fast ausschließlich Frauen. 2022 gewann das Stück den russischen Theaterpreis „Goldene Maske“ in zwei Kategorien.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!