Meşale Tolu über Staatsempfang: „Erdoğan sollte sich zu Hause fühlen“
Nach seinem Besuch in Deutschland ist der türkische Präsident wieder abgereist. Die Journalistin Meşale Tolu, die monatelang in der Türkei in Haft saß, zieht Bilanz.
Frau Tolu, Sie haben versprochen, Sprachrohr derjenigen zu sein, die weiterhin aus politischen Gründen in der Türkei in Haft sind. Was sagen Sie nach dem Staatsbesuchs Erdoğans in Deutschland?
Die Kanzlerin und der Bundespräsident haben ihre Differenzen mit Erdoğan zur Sprache gebracht. Das ist erfreulich. Trotzdem: Zu mehr als zwei Dritteln ging es in der Pressekonferenz am Freitag um gemeinsame Werte und Interessen. Ich als eine, die in der Türkei im Gefängnis saß, sehe keine gemeinsamen Werte. Die Türkei hat sich von den Werten der EU und des Westens entfernt. Wir müssen über inhaftierte Journalisten sprechen, über zu Unrecht geführte Prozesse, über die Samstagsmütter. All das bewegt die Opposition.
Wurde dem türkischen Präsidenten tatsächlich wie befürchtet der rote Teppich ausgerollt?
Der Teppich wurde ausgerollt, am Flughafen und vor dem Schloss Bellevue. Diese Bilder sind für Erdoğan sehr wichtig. Ob er auch symbolisch ausgerollt wurde, lässt sich noch nicht sagen. Ob hinter geschlossenen Türen wirtschaftliche Abmachungen getroffen wurden, werden wir erst noch erfahren. Dann erst wird der wahre Inhalt dieses Besuchs ans Licht kommen.
Die Proteste gegen Erdoğan fielen kleiner aus als erwartet. Wie kommt das?
Die Proteste waren nicht so groß, wie wir uns erhofft hatten. Die Bundesregierung hatte viele Orte abgeriegelt, die Menschen sind teilweise gar nicht durchgekommen.
Die Journalistin und Übersetzerin wurde 1984 in Ulm geboren. In Frankfurt/M. studierte sie Ethik und Spanisch auf Lehramt. Sie zog 2014 nach Istanbul und arbeitete für die kleine Nachrichtenagentur ETHA und den Radiosender Özgür. Im April 2017 wurde Tolu festgenommen und erst acht Monate später aus der Haft entlassen. Ende August 2018, nachdem eine Ausreisesperre gegen sie aufgehoben wurde, kehrte sie nach Deutschland zurück. Tolu wird Unterstützung einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen. Ein Prozess gegen sie läuft weiterhin.
Erdoğans Anhänger haben allerdings erfolgreich mobilisiert.
Die, die für Erdoğan schwärmen, sind frei durchgekommen. Alle anderen nicht. Mir hat aber die Aktion in der Pressekonferenz gefallen, auch wenn der Journalist Adil Yiğit vom BKA rausgeschmissen wurde. Er hatte nur ein T-Shirt an, auf dem „Pressefreiheit für Journalisten in der Türkei“ stand. Ich hätte mir gewünscht, dass sich die anwesenden deutschen Journalisten mit ihm solidarisieren. Hätte das BKA nicht eingegriffen, hätten wir das Signal gesendet: Hier können Journalisten ihre Meinung sagen. Stattdessen haben die Sicherheitskräfte ihn abgeführt – vor den Augen des Verantwortlichen, der in der Türkei etliche Journalisten inhaftiert hat. Erdoğan sollte sich wie zu Hause fühlen.
Nach mehrmonatiger Haft und Ausreisesperre konnten Sie die Türkei im August verlassen. Das wurde von Beobachtern als Versuch der Annäherung an Deutschland und die EU gewertet. Ist der Staatsbesuch die logische Fortsetzung dieser Entwicklung?
Ich denke nicht. Erdoğan hat in der Pressekonferenz gesagt: ‚Ihr wolltet von uns ein paar Journalisten. Die haben wir Euch gegeben.‘ Aber es ist anders: Während ich und einige andere freigelassen wurden und ausreisen durften, sind andere in Haft gekommen. Adil Demirci ist nach meiner Freilassung verhaftet worden. Max Zirngast, der österreichische Journalist, ist nach mir in Haft gekommen. Ein Deutscher hat eine Haftstrafe von fast neun Jahren bekommen. Würde die Bundesregierung die Augen öffnen, würde sie feststellen: Eigentlich sind wir nicht im Plus, sondern im Minus.
Wie geht es jetzt mit Ihnen weiter? Werden Sie zum Gerichtstermin am 16. Oktober in die Türkei reisen?
Meine Anwälte werden das jetzt nach dem Erdoğan-Besuch abwägen. Der Journalist Can Dündar wurde ja von Erdoğan sehr persönlich angegriffen, das ist kein gutes Zeichen. Aber ich würde gern zurückfahren, auch weil mein Mann Suat Çorlu weiter in der Türkei festgehalten wird. Ich will mich für seine Ausreise einsetzen.
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