Männer und Make-up: Ein paar sanfte Pinselstriche
Unser Autor hat sich gefragt, wieso er sich nicht schminkt. Eine Überlegung zu Geschlecht, gesellschaftlichen Konventionen und Gewalt.
Die Utensilien wären ja da. In einer Schublade, neben Schuhen und Schnürsenkeln, liegen eine Konturpalette, zwei Kästchen mit vielen verschiedenen Lidschatten. Burgunder, Glitter in verschiedenen Tönen, ein wenig Blau, Grün, Rot, Gold. Öffne ich die Schublade, rollen mir zwei Lipliner entgegen. Lipgloss ist auch da, Eyeliner, Primer, Concealer, Foundation. Ein rosa Beautysponge und Pinsel, mit denen ich die ganze Schmiere auf mein Gesicht auftragen kann. Könnte. Denn auf meinem Gesicht ist nichts davon. Kein Make-up, keine überzeichneten Lippen. Die Augen ohne Farben – ich traue mich nicht.
Klar, mir ist bewusst, dass viele Frauen Make-up als ein tägliches Gefängnis empfinden: Die gesellschaftliche Pflicht, das Aussehen zu verändern, das Gesicht vermeintlich zu verschönern. Frauen ohne Make-up sind in vielen Berufen und Situationen eine Sonderbarkeit. Männer mit Make-up sind es immer. Dabei könnte diese Auseinandersetzung mit dem Selbst, die Ästhetisierung des Gesichts, eine Tür öffnen: Einen Ausweg aus diesem Männlichkeitsbild, das noch immer so viele Männer prägt.
Ich interessiere mich für Drag. Schaue nicht nur „RuPaul’s Drag Race“, sondern besuche auch Dragshows in Berlin, beschäftige mich mit der Subkultur. Die Idee, Geschlecht mit Schminke dekonstruieren zu können, ist für mich einleuchtend und interessant. Gleichzeitig kann die Farbe im Gesicht auch ein Ausdruck des inneren Gefühls sein, einer Empfindsamkeit, die sonst vielleicht verborgen bleibt.
Auf meinem Körper habe ich im Laufe der Jahre viele Tattoos angesammelt. Hier treffen sich Motive, Muster, Farben, erzählen Geschichten von mir und von den Menschen, die sie erstellt haben. Aber mit Make-up im Gesicht aus dem Haus gehen, diesen Schritt kann ich noch nicht machen. Bis Oktober 2019 hat die Polizei 261 Fälle homo- und transfeindlicher Gewalt gezählt – allein in Berlin. Ich habe in der U-Bahn schon erlebt, wie ein Mann beleidigt und körperlich bedroht wurde, weil er zu „feminin“ aussah. Das macht mir Angst.
Kein „Frauending“
Ich identifiziere mich als Mann, nicht als Frau. Aber Make-up und, dazugehörig, High Heels sind für mich kein „Frauending“. Zumindest in der Theorie. Da stelle ich mir vor, dass sich Männer ebenso wie Frauen mit Mode und Make-up ausdrücken können, wie sie wollen. Ohne an den Grenzen zu scheitern, von denen die Gesellschaft entschieden hat, dass sie der Graben zwischen „Mann“ und „Frau“ sind.
Wieso sind rote Wangen „weiblich“, dunkle Augenringe aber „männlich“? Wieso löst die Idee, Farbe in ihr Gesicht zu bringen, für viele Männer eine Identitätskrise aus, die dann oft in Spott, Hass, Gewalt endet? Wieso diese große Angst vor einem Riss in der Männlichkeits-Panzerung, in die sie von Kind an gezwängt wurden? Was könnte aus diesem Riss hervortreten?
Diese ganzen Utensilien, ich habe sie freilich im Internet bestellt. Zwar bin ich vorher schon durch den ein oder anderen Drogeriemarkt gelaufen und habe verstohlen auf das Make-up geschaut. Habe die Frauen dabei beobachtet, wie sie Tester öffneten, daran rochen, sie auftrugen, sich dabei mit ihren Freundinnen unterhielten, verglichen. Sie schienen sich und ihre Farben zu verstehen.
Es hat mich gefreut, das zu sehen. Ein emotionaler Austausch, den es unter Männern nur sehr selten gibt. Derweil schlich ich zum Männer-Duschgel, das eigentlich immer blau ist und nach den Duschen in öffentlichen Badeanstalten riecht.
Welche Produkte ich für ein komplett geschminktes Gesicht bräuchte, habe ich in diversen Videotutorials auf YouTube nachgeschaut. Da gibt es Hunderttausende Videos von Menschen, die Schminktipps geben – viele davon sind Männer.
Das leichte Kitzeln
Als die Lieferung in meiner Wohnung ankam, schenkte ich mir ein Glas Wein ein und legte los. Strich mit dem Beautysponge, einem Schwamm in Eiform, über mein Gesicht. Ich trug Foundation auf, die sogar einigermaßen meiner Hautfarbe entsprach. Bedeckte die Augenlider mit verschiedenen Farben. Ich spürte eine gewisse Euphorie – die sanften Pinselstriche, das leichte Kitzeln.
Es war für mich eine bisher unbekannte Freude, mein Gesicht nicht nur zu sehen, sondern es eingehend zu studieren und so die Stellen zu finden, die geschminkt werden könnten. Mir ist vorher nie aufgefallen, dass meine Augenbrauen ziemlich tief über meinen Augen sitzen.
Vor etwa zehn Jahren begann ich mein Studium der Literatur- und Geschichtswissenschaft, schnell entdeckte ich die Genderstudies. Ich las die Bücher von Michel Foucault und Judith Butler. Setzte mich, sehr theoretisch, mit den Ideen von Geschlecht – Sex und Gender – auseinander. Mit dem Gedanken, dass es sich bei Gender um ein performatives Konstrukt handelt, das also immer und immer wieder aufgeführt wird, bis wir es für gegeben, für „natürlich“ halten. Für mich einleuchtend.
Ein Ausdruck der Gefühlswelt
An dem Abend, als ich mit dem nun schon zweiten Glas Wein vor dem Spiegel saß und mir Schminke ins Gesicht schmierte, wurde mir klar, dass ich mich nie trauen würde, so vor die Tür zu treten. Freilich, das Ergebnis sah auch furchtbar aus, aber es war mein erstes Mal, und diesen Makel wollte ich mir gerne verzeihen. Es war und ist die Angst, die mich abhält, geschminkt das Haus zu verlassen.
In meiner Vorstellung wäre Make-up für mich eine Fortsetzung meiner Tattoos. Ein Ausdruck dessen, wie ich mich an dem Tag fühle. Auch ein wenig Schauspiel, Camp, um auf die absurde Fassade zu deuten, die unser Leben doch zu großen Teilen ist. In meiner Vorstellung würde ich Farbe auf meinen Lippen haben, ein wenig Rot über meinen Augen, vielleicht auch Wimperntusche. Aber diese Vorstellung bleibt in meinem Kopf. Denn, und damit endet dieser kleine leuchtende Traum, würde ich so auf die Straße gehen, wären die Chancen nicht gering, dass ich Probleme bekomme.
Diese vermeintlich offene und liberale Gesellschaft, in der wir leben, sie kann sehr brutal werden, wenn sie ihre Konventionen angegriffen fühlt. Wenn diese ganzen Schubladen, in der sie sich so schön eingerichtet hat. Wenn die vielen Begriffe, die wir uns und anderen geben haben.
Wenn die Kategorien, die wir uns geschaffen haben, um nichts unerkannt zu lassen – wenn das alles sich als große Konstruktion offenbarte. Und die größte, wichtigste und bedeutendste dieser Konstruktionen ist noch immer das Geschlecht. Diese Binarität von Frau und Mann, die angeblich nicht aufgegeben werden darf. Es scheint einfach viel daran zu hängen.
Andere sind mutiger
Ich weiß, dass es Männer gibt, die geschminkt das Haus verlassen. Sie sind mutiger als ich, darum applaudiere ich ihnen. Ich weiß, dass Männer und trans Frauen deswegen Gewalt erleben. Angespuckt, beleidigt, verprügelt, ausgeraubt werden.
In der Theorie lässt sich sehr viel ausmalen. Das Internet mit seinen Videos und Blogs ist ein schöner Raum, diese Ideen zu formulieren und zu leben. Die Utensilien habe ich und mir gefällt der Gedanke daran. Aber ich habe Angst vor der Vorstellung, welche Gewalt diese Produkte auslösen können.
Wegen ein bisschen Farbe. Vielleicht ist genau jetzt die Zeit, es zu probieren. Die Gesellschaft scheint momentan so weit weg zu sein. In der Isolation werden die anderen Menschen und ihre Regeln immer verschwommener. So schade es ist, diese Nähe nicht mehr zu haben – vielleicht können wir diese Distanz auch nutzen, um die Konventionen zu überdenken, die mit der Gesellschaft kommen. Auch ich kann damit beginnen, in meiner Isolation, abseits dieser Zwänge – Pinselstrich für Pinselstrich.
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