Kuscheln und Sex in Corona-Zeiten: Ein Problem der queeren Familie
Wegen des Coronavirus muss Körperkontakt reduziert werden. Das zwingt viele Menschen nun dazu, ihre Intimität neu zu organisieren.
Die queere Familie zeichnet aus, dass dort Intimität auf viele verteilt wird. Die Person, mit der ich wohne, die, mit der ich ein Kind habe, die, mit der ich schlafe, und die, mit der ich kuschle, sind nicht zwangsläufig dieselbe – anders als in der romantischen Zweierbeziehung und anderen heteronormativen Modellen. Und wenn Sie jetzt sagen: „Moment! Ich bin hetero und bei mir ist das zum Teil aber auch so!“, na dann sind Sie eben auch ein bisschen queer und verstehen vielleicht besser, was ich meine.
Obendrein kommt manchmal noch die dazu, die ich fessle oder auspeitsche, die mich an der Leine führt, und so weiter. Auch die hat ihren Platz im Sicherheitsnetz aus Nähe und Zärtlichkeit, das die queere Familie ist.
Und nun kommt etwas, das – schmerzlich vernünftig – vorschreibt, dass man den Körperkontakt zu reduzieren hat. Plötzlich gibt es, vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte – und ich kann es selbst immer noch nicht fassen –, ein vernünftiges Argument für Monogamie. Ich erspare Ihnen den Absatz mit den üblichen Appellen, dass wir zum Wohle der Schwächsten die Arschbacken zusammenkneifen müssen. Das haben Sie ja längst kapiert, Sie leben schließlich nicht bei „Big Brother“.
Ich weiß nicht, ob kinky Menschen eher polyamor sind als Blümchensex-Leute, ich kann es mir aber vorstellen. Je spezifischer die Fantasien, desto unwahrscheinlicher ist es, dass die Lebenspartner*in zufällig genau auf alle dieselben Sachen steht wie man selbst. Oder, anderer Grund: Wenn man ohnehin schon die Füße am Beckenrand der Andersartigkeit badet, dann kann man auch gleich in den Pool springen. Sie verstehen. Oder nicht? Vielleicht ist eine Schwimmbadmetapher dieser Tage auch schlecht gewählt.
Wer darf in meine 2-Meter-Blase?
Die monogamen Paare jedenfalls werden weiterhin miteinander rummachen und man wird es ihnen nachsehen, weil sie es ja nur miteinander tun (*zwinker*). Der Rest von uns muss schauen: Wer soll der oder die eine sein, die noch in meine 2-Meter-Blase reindarf? Und will sie oder er es auch? Ja/Nein/Vielleicht/Nur Füßeln?
Ich möchte nix verharmlosen oder Lächerlich machen. Humor hilft mir gerade darüber hinweg, dass ich mir jetzt noch schnell einen Seelenverwandten suchen muss wie ein Pinguin. Nein, eigentlich ist es viel ernster: Queere Menschen, Kinky Menschen, Polys, und auch Sie, die Sie ganz oben im Text „Moment Mal!“ gerufen haben – sie alle müssen jetzt ihre Familie, ihre Intimität neu organisieren. Menschen durchhierarchisieren und entscheiden, wen man für die nächsten Monate zum inneren 2-Meter-Kreis dazuzählt und wen nicht. Und bei alledem bin ich mir sehr unsicher, ob wir in dieser Gesellschaft Körperkontakt ausreichend als Grundbedürfnis wahrnehmen.
Wie lange also immer es dauern mag, liebe große wunderbare Familie, bis wir uns wieder endlich alle anfassen dürfen, so viel wir es uns gegenseitig gestatten: Ihr seid nicht allein!
Leser*innenkommentare
Günter
In dem Bemühen, die Sexualmoral des Klerus als dominant abzulösen, ist Ihnen mit diesem Text ein Quantensprung gelungen. Insbesondere Ihren ersten Absatz habe ich mit großer Freude immer und immer wieder durchgelesen. Könnte daraus nicht weniger als eine neue Religion entstehen? Was Sie freilich zu einem Propheten werden lies.
Im 3. Buch Mose Kapitel 18 finden Sie Verordnungen für Ehe und Keuschheit von vor über 2000 Jahren. Persönlich schätze ich das dritte Buch sehr, können wir doch dort nachlesen, wie die Menschen damals ihr Zusammenleben nicht nur in diesem sensiblen Bereich zu regeln suchten. Ursprünglich und bis heute, sollte auch das Levitikon immer diskutiert, und einer dynamischen Auslegung nicht verschlossen bleiben.
Unser Christentum hat so was freilich nie verstanden.
Maria Burger
"Und bei alledem bin ich mir sehr unsicher, ob wir in dieser Gesellschaft Körperkontakt ausreichend als Grundbedürfnis wahrnehmen."
Das ist für mich der entscheidende Satz. Und ja, ich bin mir sicher, wir tun es nicht.
Thomas Friedrich
Machen Sie es doch wie die Flagellanten im Mittelalter und peitschen Sie sich zur Abwechslung selbst aus.
Olga Zermov
Ein paar wohlhabende und sehr kultivierte Freunde von mir haben den Ausbruch der Krise leider erst spät realisiert. Sie gehören zu den wenigen Menschen mit höchst verfeinerten Sinnen und einem unglaublichen kulinarischen Verstand. Ohne Kunstgenuß und Kulinarik wird das Leben für derartig sensible Menschen schnell zur Qual, was einfach gestricktere Zeitgenossen leider oft nicht verstehen können. Nun haben in ihrer Stadt Feinschmecker-Geschäfte und der Kulturbetrieb völlig übereilt und ohne Not geschlossen. Dummerweise haben sie keine Vorsorge getroffen und die Ihren Sinnen entsprechenden Stimulanzien zu bevorraten , obwohl es auf ihrem Anwesen genügend Platz vorhanden wäre. Ich weiß nicht wie ich diesen armen Menschen jetzt helfen kann. Das hier geschilderte schien mir von einer ähnlichen Dramatik! Es wird einem schlagartig klar in welchn düsteren Zeiten wir leben. Es ist zum Verzweifeln.
Günter
@Olga Zermov Prima! Besser kann man unsere "Not" nicht auf den Punkt bringen!
TazTiz
Andere können ihren Hobbys auch nicht mehr nachgehen. Es wird doch auch andere Ebenen der Kommunikation geben außer irgendeine Art von Sex.