Linke gegen Linke in Großbritannien: „Corbyn hat keine Fehler gemacht“
Labours Ex-Parteichef Jeremy Corbyn tritt bei Großbritanniens Neuwahlen erneut an – gegen seine alte Partei. Ein Ortsbesuch bei seinen Stammwählern.
Doch dieser Tage tragen die Besucher des „London Fashion Centre“ Sweatshirts, Jeans und Second-Hand-Klamotten, manche auch eine Kefiyah. Sie wollen gar keine Kleider kaufen. Sie gehen in den ersten Stock, wo ein freundlicher Mann im Gewerkschafts-T-Shirt die Besucher begrüßt. Das Büro gehört einer Stiftung zur Unterstützung britischer Strafgefangener, doch bis zum 4. Juli befindet sich hier das Wahlkampfbüro von Jeremy Corbyn.
Der inzwischen 75-Jährige, Galionsfigur der Labour-Linken und bei den beiden letzten britischen Wahlen 2017 und 2019 als Labour-Parteichef Anwärter auf das Amt des Premierministers, kandidiert bei Großbritanniens Neuwahlen am 4. Juli erneut in seinem Wahlkreis Islington North, den er seit 1983 im Unterhaus vertritt. Aber er kandidiert nicht mehr für Labour, sondern gegen Labour.
Nachdem sein Nachfolger Keir Stamer ihn erst aus der Parlamentsfraktion ausschloss, nachdem die britische Menschenrechtskommission 2020 einen vernichtenden Untersuchungsbericht über die Duldung von Antisemitismus bei Labour unter Corbyns Führung veröffentlichte und ihn dann nicht mehr zur Wiederwahl aufstellte, kündigte Corbyn seine Kandidatur als Unabhängiger im eigenen Namen an. Das beendete automatisch seine lebenslange Mitgliedschaft bei der Labour Party.
33jähriger Labour-Kandidat gegen den 75jährigen Corbyn
Für Labour tritt jetzt in Islington North der junge Unternehmer Praful Nargund an. Er ist 33, so alt wie Corbyn bei seiner ersten Wahl ins Parlament 1983. Er ist bereits Labour-Gemeinderat und betreibt mit seiner Mutter Kliniken zur künstlichen Befruchtung. Auf seiner Internetseite beschreibt er sich als eine Person, die sich für sozial gerechten Zugang zur IVF-Behandlung einsetze. Bisher scheint er größere Interviews vermieden zu haben. Sein Name ist auf der Straße kaum bekannt. Spricht man mit Wähler*innen, geht es immer nur darum, ob man wieder Corbyn wählen soll oder nicht.
Beim unangemeldeten Besuch in Corbyns Wahlkampfbüro ist Corbyn selber gerade nicht da. Eine junge Frau, die dort aushilft, ist bereit, mit der taz zu sprechen – aber nur draußen und anonym. Sie ist eine Studentin und schwärmt von Corbyn. Er habe sich immer für Dinge vor Ort eingesetzt, beginnt sie und nennt als Beispiel das örtliche Krankenhaus. Corbyn stehe außerdem für grüne Investitionen. „Eine Stimme für Corbyn ist eine Stimme für uns alle, anders als eine Stimme für Labour oder die Konservativen.“ Sie ist sauer auf die Labour-Führung, weil Starmer den Kreisverbänden nicht erlaube, Kandidat:innen selber zu bestimmen. „Damit ignoriert Labour riesige Bevölkerungsschichten“, behauptet sie.
Glaubt sie denn nicht, dass Corbyn selber etwas falsch gemacht habe? Sie versteht, worauf die Frage gerichtet ist, und antwortet, dass Corbyn ein Antirassist sei. Es sei wegen seines Einsatzes für Palästina und gegen Zionismus „unter die Räder gekommen“, wie sie es ausdrückt. Israel ist für die Corbyn-Enthusiastin ein Kolonialstaat ohne Existenzberechtigung, weil er nur Jüdinnen und Juden vertrete.
Gewohnt große Worte- auch ohne Partei
In einem Wahlkampfvideo nennt Corbyn einige seiner Errungenschaften: die Verhinderung einer Autobahn durch Islington, Schaffung eines Parks, Bau von Sozialwohnungen. Sein Ausschluss aus der Labour-Kandidatur habe die gesamte Community entmachtet. „Wir müssen aufstehen und sagen, dass wir das nicht mehr akzeptieren, und auf unseren Rechte beharren“, erklärt er zu seiner Kandidatur als Unabhängiger. Dann spricht er, als ob er noch Labourchef wäre, von großen Plänen: Umverteilung des Reichtums, Verstaatlichung von Wasser, Post und Strom, Kontrollen des privaten Mietsektors.
Überschätzt er sich da nicht als Kandidat ohne Partei? Corbyn sagt zu solchen Fragen immer in gewohnt großen Worten, seine Stimme solle den Premierminister zur Verantwortung ziehen, egal wer das ist. Es gehe schließlich um fundamentale Menschlichkeit und den Kampf für Frieden, Demokratie und soziale Gleichberechtigung.
Dem vollbärtigen Labourmitglied Ahmed (Name geändert), 74, gefallen solche Worte. Er wird Corbyn wählen, auch wenn er damit gegen seine Parteiregeln verstößt, sagt er. Der Mann im weißen Gewand bezeichnet sich als einstiger bangladeschischer Freiheitskämpfer und vor seiner Haustür in der viktorianischen Reihenhaussiedlung in einer Straße, die auch noch Corbyn Street heißt, leiert er gestikulierend eine ganze Liste von Eigenschaften Corbyns herunter: hervorragend, prinzipientreu, glaubwürdig, ernst, ehrlich.
Eine Frage der Definition
„Es ist eine Schande, was Labour mit Corbyn machte“, findet er. „Es ist nicht wegen dem Antisemitismus gewesen, sondern weil er vom linken Flügel der Partei ist.“ Er sei zwar weiter für Labour, aber diesmal nehme er eben das Risiko in Kauf, Corbyn zu wählen, in der Hoffnung, dass selbst wenn Corbyn in Islington North gewinnt, Labour trotzdem landesweit genug Stimmen hat.
Ein etwa 60 Jahre alter schwarzer Mann mit langen Dreadlocks will ebenfalls Corbyn wählen. An seinem Fenster hängt das Wahlplakat „Wählt Corbyn, eine unabhängige Simme für uns alle“ auf Labour-rotem Hintergrund. „Corbyn spricht vom Elend der Palästinenser“, erklärt er. „Nein, Corbyn hat keine Fehler gemacht. Es hängt doch alles davon ab, wie man Antisemitismus überhaupt definiert. Und überhaupt, Juden dienten unter den Nazis im Zweiten Weltkrieg und waren sogar im Ku-Klux-Klan“, verkündet er weiter. Als die taz diese Bemerkungen hinterfragt, will er seinen Namen nicht mehr nennen.
Im Café der Grünanlage Elthorne Park erzählen Thomas und Jane, beide über 70 Jahre alt, dass Corbyn sich einsetze, im Wahlkreis hart arbeite und dafür einen gute Rufe habe. „Man begegnet ihm hier oft auf der Straße“, sagt er.
Auch andere nennen die Sichtbarkeit des Politikers als positives Attribut. Der 50-jährige Finanz-Tech-Experte Terry hebt Corbyns nicht so gepflegtes Aussehen als Zeichen höherer Glaubwürdigkeit hervor, gegenüber geschniegelten Politikern in Anzügen. Seine Weltsicht teile er nicht, aber er werde ihn wieder wählen, wegen seiner Arbeit für die Menschen.
„Hängen gebliebener Altkommunist“
Auf der anderen Seite der mehrspurigen Hauptstraße, die den Wahlkreis in zwei Hälften teilt, stößt man auf mehr Labour-Wähler:innen. Tech-Assistentin Zoe Rouen, 38, auf Gassitour mit Hund, sowie Denise Sengal, 49, mit Kind auf dem Nachhauseweg vom Kindergarten, sprechen unabhängig voneinander von der Notwendigkeit einer Labour-Regierung für eine ausgeglichenere Gesellschaft. Corbyn sei nicht Labour und Labour müsse gewinnen, damit die Tories geschlagen werden können, sagen sie.
Janet, pensionierte Lehrerin, sagt vor ihrer Haustür mit gelben Gummihandschuhen, dass sie kommunal grün wählt, für das Parlament aber zu Labour hält. Und Corbyn? „Er hat einige gute Ideen, aber er ist ein eigensinniger Mann, der nicht in der Lage ist, mit anderen zusammenzuarbeiten, weil er keine Kompromisse eingehen will“, sagt sie. Nicht mal beim Brexit-Referendum sei er bereit gewesen, sich der Pro-EU-Mehrheit der Labourmitglieder anzuschließen.
Auch die 61 Jahre alte Künstlerin Nicole und ihr Nachbar Alan Sutton, der sich als Sozialist beschreibt, werden Corbyn nicht wählen. „In den 1980er Jahren, als ich jung war, fand ich sein Gegendenken noch interessant, doch seine spätere Parteiführung war katastrophal“, erinnert sich Nicole. „Er vertrat immer nur einzig seine Ansichten und jetzt als unabhängiger Kandidat erst recht.“ Sie kritisiert seine Sicht auf den Nahostkonflikt: „Hamas griff am 7. Oktober friedensbereite linke Kibbuze und junge Menschen auf einem utopischen Musikfest an. Corbyn beschrieb Hamas einst als Freunde.“
Sutton findet, Corbyn sei ein in den 1960er Jahren hängen gebliebener Altkommunist. „Er will Russland nicht einmal für den Angriff auf die Ukraine verurteilen und sagt immer noch Nein zur Nato, selbst jetzt, wo Finnland und Schweden für die Mitgliedschaft stimmten.“
„Ich werde auch diesmal konservativ wählen“
Es gibt auch Menschen, die weder Corbyn noch Labour wählen wollen. Beim Gießen seiner Gartenpflanzen erklärt der 78-jährige Rentner Oliver Martin, 78, er wähle die Konservativen. Früher ein Labour-Unterstützer, wählte er 2019 Boris Johnson. „Ich werde auch diesmal konservativ wählen“, sagt er. „Starmer spricht mich nicht an, und Rishi Sunak hat doch inzwischen gezeigt, dass er Versprechen halten kann.“
Er versteht auch nicht, dass Jeremy Corbyn nicht für Labour antreten darf, seine Parteifreundin Diane Abbott im benachbarten Wahlkreis Hackney North aber doch, obwohl sie Corbyns Ansichten teilt.
2019 gewann Corbyn, damals noch als Labourkandidat, den Wahlkreis Islington North mit 64 Prozent der Stimmen, 2017 waren es sogar 73 Prozent. Diese Wahl wird das ultimative Urteil linksorientierter Londoner:innen über den ehemaligen Labourchef.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin