Linke Kulturszene in Chile: Woher Hoffnung nehmen?
Chile stimmt erneut über eine neue Verfassung ab. Viele Linke wollen diese ablehnen, selbst wenn damit die diktatorischen Pinochet-Gesetze gültig bleiben.
„Wenn du deine Vergangenheit nicht verstehst, wirst du sie wiederholen“, sagt die Person mir gegenüber. Eigentlich sagt sie es nicht, sie rappt es. Auf Spanisch. Dabei handelt es sich um eine Songzeile des chilenischen Rappers SubVerso: „Du kannst dich nicht vorwärtsbewegen, ohne zu wissen, was hinter dir ist“, heißt es dort weiter.
Fernanda Calhueque Berrios, die mir gegenüber sitzt an einem regnerischen Septembertag in Santiago de Chile und mitten in unserem Gespräch anfängt, Passagen aus dem 2000er Song „Nada menos, nada más“ zu rappen, ist Schauspielerin, Sängerin und Dozentin für Theater. Gemeinsam mit drei weiteren Frauen gründete sie 2018 das Musikkollektiv Gata Engrifá, um weiblich gelesenen Menschen den Zugang zum HipHop zu ermöglichen.
Wie hunderttausende Chilen*innen ging das Kollektiv vor vier Jahren auf die Straße, um gegen die noch aus der Militärdiktatur stammende Verfassung und das in ihr verankerte neoliberale System zu protestieren, das die immense soziale Ungleichheit im Land stützt. Der sogenannte Estallido social markiert eine Zäsur für das Andenland. Ausgelöst von Tariferhöhungen im öffentlichen Nahverkehr dauerten die Proteste, die ab dem 18. Oktober 2019 das ganze Land erfassten und auch international zu Protestwellen führten, bis zum Beginn der Pandemie an.
Calhueque Berrios und ihre Kolleginnen gingen beinahe täglich auf die Straße, performten Songs wie „Aborta la conducta“ (zu Deutsch: Treibt dieses Verhalten ab), um auf die alltägliche Gewalt, die Frauen* im Land erfahren, aufmerksam zu machen und sich für das Recht auf körperliche Selbstbestimmung einzusetzen.
Soziale Ungerechtigkeit und Machtmissbrauch
Dieses ist in Chile stark eingeschränkt: Abtreibungen sind nur in Ausnahmefällen legal möglich. Außerdem unterliegt „der Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung, Wohnraum und Rente den Regeln des Markts“, heißt es zu Beginn in „Sentido (en) Común“ (2020). In dem Dokumentarfilm begleiten die Journalistin wie taz-Autorin Sophia Boddenberg und der Musiker Michell Moreno die Proteste vor vier Jahren. Spontane Interviews mit Protestierenden, Aufnahmen von Straßenschlachten und Polizeigewalt sind darin zu sehen.
Empfohlener externer Inhalt
Der Film „Sentido en común“
„Der ganze Machtmissbrauch und die soziale Ungerechtigkeit haben sich angestaut“, sagt eine der Protestierenden, eine Frau mit weißem Kurzhaar, schätzungsweise in ihren Vierzigern und damit Teil einer Generation, die die Diktatur als Kind noch miterlebt hat.
Diese Jugend, die nach Ende der Diktatur in den 1990ern und frühen 2000ern aufwuchs, wusste noch um das Schweigen, das, wie der Neoliberalismus in der Verfassung verankert, den vorhergegangenen Generationen mit gewaltsam durchgesetzten Repressionen auferlegt wurde. Erst nach und nach wurde dieses Schweigen gebrochen, insbesondere von den Kindern und Enkel*innen Betroffener.
„Es gibt Erfahrungen, die man lebt oder weitergegeben bekommt, die unbewusst unsere Verhaltensweisen, unsere Gesten und auch unser Schweigen bestimmen“, sagt Véronica Estay Stange, mit der ich mich in der Küstenstadt Valparaiso treffe. In ihrer Arbeit beschäftigt sich die 1980 im mexikanischen Exil geborene Autorin mit transgenerational weitergegebenen Traumata und Erinnerungsarbeit.
Valpo, wie man die Hafenstadt nennt, war Ausgangspunkt vom Militärputsch am 11. September 1973, durch den Augusto Pinochet gewaltsam an die Macht kam. Estay Stange ist Literaturwissenschaftlerin, lebt in Frankreich und hat in diesem Jahr mit „La resaca de la memoria“ ein Buch über ihre Familiengeschichte geschrieben.
Geschichtsrevision von Pinochet-Anhängern
Sie ist unter anderem Mitglied von Historias Desobedientes, einem Kollektiv, dessen Mitglieder Angehörige derer sind, die in Militärdiktaturen Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen begingen. Estay Stanges Eltern wurden als Mitglieder der kommunistischen Partei in den 70er Jahren festgenommen, gefoltert und schließlich exiliert.
Über ihren Onkel väterlicherseits habe man nie gesprochen, sagt sie. Dabei ist er es, der vielen Chilen*innen in den Sinn kommt, wenn sie ihren Namen nennt. Miguel Estay alias „El Fanta“ war ebenfalls Mitglied der kommunistischen Partei, auch er wurde gefangengenommen, gefoltert und verriet letztendlich seinen Bruder sowie weitere Genoss*innen. Estay wechselte die Seiten, wurde als Folterer berüchtigt, bis er 1994 für den Mord an drei Kommunisten lebenslang in Haft kam.
Bereut habe er seine Taten nie, sagt Estay Stange, sie stattdessen gerechtfertigt und verharmlost. „Dass ich über meine Familiengeschichte schreibe und spreche, hilft vielleicht anderen meiner Generation, Dinge zu hinterfragen, die nie gesagt oder hinterfragt werden durften. Dinge, die heute zu Leugnung und Geschichtsrevisionismus führen“, sagt Estay Stange.
Auch Calhueque Berrios sieht die Gefahr der Geschichtsverklärung, die vor allem von Rechten und ehemaligen Pinochet-Anhängern betrieben wird. „Wir sind die Kinder und Enkel*innen eines diktatorischen System, das in Teilen weiterbesteht“, sagt sie und spielt dabei auch auf die aktuell bestehende Verfassung an. „Ich habe die Diktatur nicht erlebt, aber:“ ist auf Plakate gedruckt, die man immer wieder in Santiago verteilt findet, „ich lebe unter ihrer Verfassung“ hat jemand mit schwarzem Stift auf ein Exemplar an der Fassade des Kulturzentrum Gabriela Mistral geschrieben.
Während des Estallido social wollte man auf all das aufmerksam machen. Zunächst mit Erfolg: 2020 begann der Prozess zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung, von der sich viele Chile*innen maßgebliche Änderungen erhofften: Mehr Rechte für die indigene Bevölkerung Chiles, besonders für die Mapuche, denen ein Großteil ihres Landes geraubt wurde. Auch mehr Rechte für Frauen und Queers sowie Grundrechte wie einen niedrigschwelligen Zugang zu Bildung, Gesundheit, Altersversorgung und Pflege sollten garantiert, zudem der Umweltschutz gestärkt werden.
2022 dann der herbe Schlag: In einem Referendum stimmte die Mehrheit gegen den neuen Verfassungsentwurf. Rechte Desinformationskampagnen schürten vorab die Ängste der Menschen, in sozialen Medien kursierten Verschwörungsideologien und Falschmeldungen, um eine vermeintlich „kommunistische Diktatur“.
„Schauen Sie in welche Zeitung auch immer hierzulande, und Sie werden sehen, dass das, was die Linke zu erreichen versucht, diffamiert wird“, sagt Luis Navarro, als wir uns in seiner Wohnung in Bellavista, einem zentral gelegenen Stadtviertel Santiagos, treffen. Unweit von hier kamen 2019 Hunderttausende zusammen, auf der Plaza Italia, die kurzzeitig als Plaza Dignidad (Platz der Würde) in die Geschichte einging.
Der heute 85-jährige Navarro ist einer der bedeutendsten Fotografen des Landes. Seine Bilder aus der Zeit der Diktatur gelten als wichtige Zeitdokumente. Bevor sich jede*r mit seinem Handy als Fotograf und Reporter inszenieren konnte, waren es einige wenige, die unter Gefahr für Leib und Leben auf die Straße gingen. „Wenn du kein Geld hast, stirbst du in diesem Land“, sagt Navarro auf heute bezogen. Gesundheit wie auch Bildung seien hier Geschäftsmodelle: „Natürlich hat man hier Zugang zu allem, aber nur wenn man auch zahlen kann.“ Viele Chilen*innen verschulden sich deshalb oder leben prekär wie Navarro.
An den Protesten habe er damals nicht teilgenommen, zu müde sei er bereits, habe so viel Staatsgewalt erlebt, dass es für ein Leben reiche, sagt er. Im Zuge der Sozialproteste griffen Militär und Polizei gewaltsam ein, der damalige rechtskonservative Präsident Piñera sagte, man befände sich im Krieg. Organisationen wie Amnesty International prangern bis heute das Vorgehen des Staats gegen die Protestierenden als Menschenrechtsverletzungen an.
Verletzt wurden viele an den Augen, vorsätzlich, da sind sich Navarro und Calhueque Berrios sicher. Zur Einschüchterung, um den Blick auf die Realität zu verhindern, sagt einer der Protestierenden in „Sentido (en) Común“, sein linkes Auge verborgen unter einem Pflaster, so sei die Exekutive schon in den 70er und 80er Jahren vorgegangen. Am 17. Dezember soll es zu einer erneuten Abstimmung kommen. Der aktuelle Verfassungsentwurf wurde diesmal mehrheitlich von Vertreter*innen rechter Parteien ausgearbeitet, die unter anderem das Abtreibungsrecht noch weiter einschränken wollen.
Meine Gesprächspartner*innen werden den Entwurf ablehnen, da er keine Verbesserung zur Pinochet-Verfassung darstellt. Was danach kommt, weiß niemand so genau. Geschichte verläuft nicht linear, sondern in Zyklen, besagt eine Theorie. Um diese Zyklen zu durchbrechen, müssen wir uns aber der Vergangenheit erinnern, um es mit SubVerso zu sagen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
SPD-Linker Sebastian Roloff
„Die Debatte über die Kanzlerkandidatur kommt zur Unzeit“
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Kanzlerkandidat-Debatte
In der SPD ist die Hölle los