piwik no script img

Foto: Bjarne Meisel

Leben im Märkischen ViertelStolz und Vorurteil

Hochhaussiedlungen könnten die Wohnungskrise lösen, haben aber keinen guten Ruf. Was sagen Menschen, die hier leben oder aufgewachsen sind?

W enn ich früher aus der Schule nach Hause kam, beeilte ich mich mit den Hausaufgaben, um ready zu sein, wenn die Stimme meines Kumpels Tobi durch die Gegensprechanlage schallte: „Kann Bianca zum Spielen runter kommen?“ Zwang der Regen uns dazu, drinnen zu bleiben, ließ Tobi zum Trost einen mit Süßigkeiten gefüllten Korb an einer Schnur von seinem Balkon im 12. Stock zu unserem, ein Stockwerk tiefer, herunter. Ich nahm die Ware entgegen und legte eine Dankeschönnachricht in den Korb.

Tobi und ich wuchsen im selben Plattenbau des Märkischen Viertels auf, einer sogenannten Großwohnsiedlung in Berlin-Reinickendorf. Wir Anwohne­r*in­nen sprechen für gewöhnlich vom MV, andere nennen es Sozialghetto, Betonwüste, Problemfamilienkiez, Arbeiterquartier, Trabantenstadt.

Es ist ein Zuhause mit vielen Namen. Welcher aber trifft es wirklich? Christa Reicher, die als Professorin für Städtebau und Entwerfen an der RWTH Aachen auch zu Großwohnsiedlungen geforscht hat, spricht von einer „großen Diskrepanz zwischen der Innen- und Außenwahrnehmung von Großwohnsiedlungen“. Sie sagt: „Der Ruf ist meist schlechter als die Wertschätzung der Bewohnerschaft.“

Vor 60 Jahren zogen die ersten Bewohne­r*in­nen ins Märkische Viertel. Damals galten solche Siedlungen als Wohnform der Zukunft. Städte wollten die engen Gründerzeitsiedlungen mit Hinterhöfen, Seitenflügeln und ­Toilette auf halber Treppe hinter sich lassen. Und es wurde viel Wohnraum in kurzer Zeit benötigt. Wie heute. Zeit, nachzufragen: Was ist denn nun zu halten von der Idee, massenhaft in die Höhe zu bauen? War es eine gute oder eine schlechte? Und wie leben die Menschen dort heute?

Errichtet wurde das Märkische Viertel, wie viele Großwohnsiedlungen, als Antwort auf die Wohnungsnot nach dem Zweiten Weltkrieg. Ganze Städte waren zerbombt, es musste schnell, günstig, ressourcenschonend gebaut werden. Die serielle Bauweise entsprach diesen Kriterien: In Fabriken vorgefertigte Betonteile werden auf der Baustelle zusammengefügt. Ein bisschen wie Legosteine im Kinderzimmer.

Überall in Deutschland – Ost wie West – entstanden solche Siedlungen. Ihre Namen sind zumeist regional bekannt als Synonym für „die Hochhaussiedlung“, oft am Rande der Stadt: München-Hasenbergl, Stuttgart-Asemwald – auch „Hannibal“ genannt –, Bremen-Tenever, Hamburg-Mümmelmannsberg, Göttingen-Holtenser Berg, Dresden-Gorbitz, Rostock-Lütten Klein, Berlin-Marzahn, Jena-Lobeda, Halle-Neustadt oder Leipzig-Grünau.

Heute bieten Großwohnsiedlungen Wohnraum für über 8 Millionen Menschen deutschlandweit und haben einen Anteil von 20 Prozent am gesamten Mietwohnungsbestand. Das MV besteht aus 18.000 Wohnungen für 45.000 Menschen, darunter überdurchschnittlich viele ältere. Auch der Anteil der Kinder und Jugendlichen liegt nach Angaben des Bezirksamts Reinickendorf weit über dem Berliner Durchschnitt. Auffällig hoch ist der Anteil der unter 15-Jährigen, die in Familien leben, die finanziell vom Staat unterstützt werden. Wegen der günstigeren Mieten ziehen Großwohnsiedlungen häufig Menschen an, die nicht viel Geld haben.

In Ost und West waren mit den neuen Großwohnsiedlungen Hoffnungen verbunden. Die Leute freuten sich über den höheren Lebensstandard

Beata Chomątowska ist eine polnische Journalistin und Schriftstellerin, die in ihrem Buch „Betonia“ die Idee von Häusern aus Beton in architektonischen und soziologischen Kontext setzt und dafür Großwohnsiedlungen in verschiedenen Städten Europas besucht hat. Chomątowska erklärt, dass im kapitalistischen Westen und damit nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich, Großbritannien, Schweden große Wohnsiedlungen im Rahmen von Programmen entstanden, die von der zentralen oder kommunalen Verwaltung gefördert wurden: „Diese Wohnungen waren vor allem für Menschen mit niedrigerem Einkommen bestimmt. Im Osten wohnten alle in Plattenbauten, da es keine solcher Einschränkungen gab.“

In Ost und West waren mit den neuen Großwohnsiedlungen Hoffnungen verbunden. Die Leute freuten sich über den höheren Lebensstandard etwa durch die Zentralheizung, die Räume waren heller, oft gehörten Balkone standardmäßig dazu, ebenso ein eigenes Badezimmer. Für viele boten die Wohnungen in der neuen Siedlung zum ersten Mal die Möglichkeit, überhaupt eine bezahlbare eigene Wohnung zu bekommen.

Das gilt auch für meine Eltern. Sie sind 1989 aus dem damals noch kommunistisch regierten sozialistischen Staat Polen nach Deutschland gezogen, um ihren Kindern bessere Chancen für die Zukunft zu verschaffen. Der erste Stopp war ein Übersiedlerheim im Berliner Villenviertel Wannsee. Der Umzug in die Wohnung im Plattenbau im MV kam meinen Eltern wie ein riesiger Fortschritt vor. Plötzlich hatten sie 85 Quadratmeter statt 30 mit zwei Kindern zur Verfügung und mussten weder Küche noch Bad mit anderen Familien teilen.

Die direkte Nachbarschaft bestand zwar nicht länger aus Wäldern, Seen und schicken Einfamilienhäusern, aber dafür konnte man von unserem Balkon aus den ehemaligen Mauerstreifen sehen, den Fernsehturm, der in der Ferne am Horizont winzig wirkte und manchmal auch einen Heißluftballon, wie einen kleinen Punkt am Himmel, der als Touristenattraktion über Berlin-Mitte flog. Am meisten liebte ich den Ausblick an Weihnachten, wenn die unzählbaren Fenster in den vielen hohen Gebäuden um mich herum von Lichterketten warm erleuchtet waren.

Hoch hinaus: Vieles strebt nach oben im MV Foto: Bjarne Meisel

Viele Menschen neigen dazu, die Vergangenheit zu verklären. Die Erinnerung an eine Blockgemeinschaft, ähnlich wie in einer Kleinstadt oder einem Dorf, lädt zu nostalgischen Gefühlen ein. Der „Plattenbauromantik“ wurde nicht umsonst ein eigenes Wort gewidmet.

Ihr gegenüber stehen abfällige Stereotype über Großwohnsiedlungen. Stichwort: sozialer Brennpunkt. Ein Ort der Kriminalität, der Drogen und des Schmutzes. Dabei befindet sich der Norden des Viertels, laut polizeilichem Kriminalitätsatlas der Bezirksregionen Berlins, im unteren Mittelfeld, was die Anzahl krimineller Straftaten angeht. Der Süden des Viertels fällt im stadtweiten Vergleich sogar in die Kategorie mit den wenigsten Strafvorkommen.

Das ändert nichts am Vorurteil. Spätestens nachdem ich auf ein Gymnasium außerhalb des Viertels gewechselt war, wurde mir als Jugendliche bewusst, dass meine Nachbarschaft keinen guten Ruf genießt. Statt zu widersprechen und klarzumachen, dass mich meine Kindheit im MV weniger an „4 Blocks“ und mehr an die Kinder von Bullerbü erinnerte, schwieg ich. Ich erzählte weder von dem Jugendzentrum, in dem ich Holz hacken lernte sowie an Kunstkursen und Kochnachmittagen teilnahm, noch von den Spielplätzen, auf denen ich Piratin, Hexe und Prinzessin war. Ich erzählte nichts von dem Baldachin, den meine Eltern auf meinen Wunsch hin in mein gemütliches Kinderzimmer gehängt hatten oder von meiner Nachbarin Oma Anna, die maximal mit Yoguretten dealte.

Erst nachdem wir aus dem Märkischen Viertel rausgezogen waren, fing ich an, gern zu erzählen, wo ich aufgewachsen war. Plötzlich war ich stolz auf etwas, für das ich mich früher geschämt hatte. Ich integrierte meine Vergangenheit in eine Selbsterzählung irgendwo zwischen Aufsteigergeschichte und Lederjackenimage. Etwas, das mir früher mitleidsvolle Blicke beschert hatte, verschaffte mir plötzlich Anerkennung.

Dabei habe ich es nicht mal selbst rausgeschafft, sondern durch meine Eltern. Sie haben mit ungesundem Fleiß, Glück und den Privilegien weißer, christlicher Ausländer einen Weg gefunden, das MV hinter sich zu lassen. Und mich haben sie mitgenommen. Unsere Scham war und ist ein großer Treiber, aber sie hat uns nichts geschenkt, nur gekostet.

Heute wird Wohnraum wieder dringend benötigt, serielles Bauen ist erneut Thema. Auch deshalb lohnt ein genauer Blick auf Großwohnsiedlungen wie das Märkische Viertel – obgleich die neuen Gebäude anders aussehen werden als die von damals. Christa Reicher, die Architekturprofessorin aus ­Aachen, sieht eine neue Chance für das Konzept des seriellen Bauens.„Mit Hilfe von digitaler Vernetzung, Software und Automatisierung ermöglicht diese Bauweise eine drastische Verkürzung der Bauzeit vor Ort“, sagt sie. „Eine mögliche Beeinträchtigung der Lebensqualität von Anwohnern der Baustelle durch Lärm und Schmutz wird reduziert, weil die fertigen Bauteile hier nur noch zusammengesetzt werden.“

Es ist ein Zuhause mit vielen Namen. Welcher aber trifft es wirklich?

Außerdem macht die Vorfertigung es einfacher, Bauzeiten realistisch einzuschätzen und Prozesse zu optimieren. Reicher sagt aber auch, dass es bei dem hohen Druck, der auf dem Wohnungsmarkt lastet, „nicht nur um Masse gehen kann, sondern auch um Wohn-, Lebens- und Gestaltqualität“.

Politisch scheint die Frage, wie wir neuen Wohnraum schaffen, Vorrang vor der Frage zu haben, wie wir die Lebensqualität in bestehenden Wohnräumen verbessern. „Wir brauchen wahrscheinlich 20 neue Stadtteile in den meistgefragten Städten und Regionen – so wie in den 70er Jahren“, sagte Kanzler Olaf Scholz 2023 bei einer Veranstaltung der Heilbronner Stimme.

In den 70ern wurde die Nachhaltigkeit der seriellen Bauten in den Kategorien Zeit- und Materialeinsparung gemessen. Lebens- und Gestaltqualität hingegen bedeutet für die meisten Menschen, in Naturnähe zu wohnen oder in einem belebten Stadtteil mit guter Infrastruktur, hübschen Cafés, Kinos, Ausgehmöglichkeiten. Auch meine Familie ist aus dem MV rausgezogen, als sie es sich leisten konnte.

wochentaz

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Heute wohne ich in einer Genossenschaftswohnung mit sieben Mietparteien, ich habe 50 Quadratmeter für mich ganz allein. Meine Nachbarschaft besteht aus einer Apotheke, einem Lidl und einem Tchibo. Der Bär steppt hier auch nicht gerade, aber ich habe zwei U-Bahnhöfe sowie einen Park direkt vor der Nase und einen wunderschönen Innenhof – gerade mal 15 Fahrradminuten vom Märkischen Viertel entfernt, im selben Bezirk.

Ich fahre immer noch regelmäßig dort hin, etwa wenn ich Freun­d*in­nen besuche. Spätestens an Weihnachten ist es wieder soweit, wenn sie im Gartencenter Holland gegenüber meiner alten Grundschule die Miniaturwelten ausstellen. Dann statte ich meiner alten Hood einen Besuch ab und ich weiß jetzt schon, dass ich dabei viel Wärme im Bauch haben werde.

Wie geht es den Menschen, die heute im Märkischen Viertel leben? Unsere Autorin hat drei von ihnen getroffen.

„Der Himmel hier ist nie frei. Das macht schon was mit einem“

Daunenjacken machen sich gut in zugigen Plattenbauunterführungen. Vielleicht widmete Selim ihnen deshalb einen Song: „In meiner North-Face-Daunenjacke 2003, wir haben Hosen in den Socken so wie 2002.“ Rein optisch würde er sich gut als harter Straßenrapper machen: breite Schultern, Glatze, schwarzer Vollbart. Aber wenn Selim rappt, werden weder Frauen verachtet, noch Homosexuelle beleidigt oder Gewalttaten verherrlicht. Selim hat selbst zu viel Rassismus erlebt, als dass er auf billige Pointen setzen würde. Im MV bietet er wöchentlich Rap-Coachings für Jugendliche in Jugendzentren an.

Selim, Rapper und Rap-Coach für Jugendliche Foto: Bjarne Meisel

Wie ein Leuchtturm sticht das knallrote Gebäude vor dem grauen Himmel und den zahlreichen Plattenbauten hervor. Das Jugendzentrum comX grenzt ans Jugendamt Reinickendorf und befindet sich in unmittelbarer Nähe zur Kleingartenkolonie Frohsinn, der Jugendkunstschule Atrium und der Familienfarm in Lübars. Als Selim die Tür zum Jugendzentrum öffnet, hält ihm ein Junge zur Begrüßung die Faust hin. „Wir machen gleich Nudelauflauf!“ Einmal in der Woche ist Kochtag. Selim verspricht, zum Essen zu kommen.

Selims Kollege Burak sitzt bereits am Rechner und mastert einen Song. „Meine Herkunft: Ausland. Gehasst vom Amt. Meine Herkunft: Ausland. Wir sind Immigrant“, hohe Stimmen tönen aus den Boxen. Es sind die Stimmen von geflüchteten Kids, die in den Wohnungen der Gemeinschaftsunterkunft Senftenberger Ring im MV leben und dort zur Schule gehen. Sie sind durchs Musikmachen ins comX gekommen, Selim hat sie eingeladen. Um ihn herum stehen Mikrofone, ein Schlagzeug, Gitarren, sogar eine Radiostation, von der aus eine queere Sendung produziert wird. Die Tonkabinen sind professionell mit schallisolierendem Schaumstoff verkleidet. „Es ist wichtig, dass die Kinder spüren, dass wir sie ernst nehmen. Sie sollen nicht mit einem Handymikro abgespeist werden. Wenn ich als Jugendlicher einen Ort wie dieses Studio gekannt hätte, ich hätte hier gewohnt.“

Selim ist in einer kleinen Wohnung im Wedding aufgewachsen. Keine Platte, aber auch kein Luxus. Seine Vorliebe für Musik entdeckte er schon als Kind: „Mein Stiefvater hat Tote Hosen gehört, also habe ich mit Deutschrock angefangen.“ In der Grundschule kam Rap dazu. „Irgendwer hat mir dann Samy Deluxe gezeigt und der hat genau über die Dinge gerappt, die mein Leben bestimmt haben. Er wusste, wie es ist, mit einem anderen Vater aufzuwachsen, wenn der eigentliche Vater eine andere Hautfarbe hat, was dich zum einzigen Schwarzen Kind in einer weißen Familie macht.“ Mit Rap hat Selim ein Ventil für seine Gefühle gefunden. Schon im Kinderzimmer, zwischen Hochbett und 50-Cent-Poster, schrieb er erste Songs und nahm sie mit einem Kassettenrekorder auf.

Dennoch schlug er zunächst einen Werdegang als Übersetzer für Deutsch, Englisch und Französisch ein. Klingt vernünftig, machte ihn nur leider nicht glücklich. „Während der Pandemie hatte ich Zeit zum Nachdenken. Ich dachte oft an meinen Opa, der immer gesagt hat: Mach, was dir Spaß macht!“. Selims Opa wurde 1956 in Ungarn während Widerständen gegen die Sowjetunion verletzt und flüchtete nach Deutschland. „Er hat eine neue Sprache gelernt, studiert und mit meiner Oma eine Familie durchgebracht. Am Ende war er Professor und Doktor.“

Selim vor seinem Tonstudio Foto: Bjarne Meisel

Mit seinem Opa als Vorbild, das sich nicht unterkriegen lässt, wagte Selim den Neustart. Gemeinsam mit dem befreundeten K’Sino nahm er ein Album auf und gründete das Label „Global Origins“. Zeitgleich fing er im Jugendzen­trum an, mit dem Nachwuchs Songtexte zu ­schreiben. Freunde waren Selims erster Bezugspunkt zum MV. Seine Oberschule befand sich an der Grenze zwischen Wedding und Reinickendorf. So knüpfte er schon als Teenager erste Kontakte mit Menschen aus der Siedlung und entwickelte Sympathie für das MV. „Die Probleme, die die Leute in meinem Kiez haben, dem Wedding, sind die gleichen wie hier im MV. Die Höhe der Häuser ist der einzige Unterschied. Der Himmel im MV ist nie frei. Ich glaube, das macht schon was mit einem.“

Trotzdem ist das MV für Selim zu einem Ort der Perspektive geworden. Er bewundert, dass hier „viele Menschen aus verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen Problemen zusammenleben und das größtenteils ohne Konflikte“. Der Gedanke, seine Bühnencoachings in einem reicheren Stadtteil zu unterrichten, kam Selim nie. „Rap ist für mich eine Ausdrucksform für Leute mit Struggles, die Diskriminierung und Marginalisierung erfahren. In einem Kiez wie dem MV, in dem sich viele ungesehen fühlen, kann Rap helfen, Wut auf gesunde Weise auszudrücken.“

Wer sich überlegt, was man außer ‚Hurensohn‘ sagen kann, wird kreativ

Plattenbauten haben eine lange Karriere als Kulisse in Musikvideos von Rappern wie Sido. Dessen Song „Mein Block“ machte das MV berühmt. Raue Klänge treffen auf raue Architektur. Einerseits kann Rap ein politisches Sprachrohr für marginalisierte Gruppen sein, andererseits kommt es in den Texten nicht selten zur Gewaltverherrlichung. „Mit dem Wunsch, Rap­pe­r*in zu werden, kann man die Kids allein lassen oder man holt sie ab, wo sie auf einen warten“, findet Selim. „In unseren Kursen gibt es Regeln: Diskriminierung ist tabu. Wer sich nicht daran hält, muss gehen. Aber meistens entstehen Gespräche – und wer sich überlegt, was man außer ‚Hurensohn‘ sagen kann, wird kreativ.“

Die Kinder sind froh über Selims Angebot, zumal sie in einem Kiez leben, in dem „die Bordsteine um 18 Uhr hochgeklappt ­werden“, wie Kollege Burak es formuliert. Was Selim und sein Team in erster Linie an ihre ­Schützlinge weitergeben wollen, ist ein Gefühl von ­Zugehörigkeit. „Viele Jugendliche bringen ­Probleme mit: finanzieller Druck, keine oder nicht präsente Eltern. Da ist niemand, der ­ihnen sagt: Hey, du machst das gut! In einer ­Gegend, in der man immer lernt, hart zu sein, ist es wichtig, eine Möglichkeit zu finden, Gefühle auszudrücken.“ Rap kann diese ­Möglichkeit sein, ohne an Coolness ein­zubüßen.

„Bruder, was geht!“ Iboza betritt das Studio, alle nennen ihn Ibo. Ein 18-Jähriger in orangefarbenem Rollkragenpullover, mit Silberkettchen und Brille. Ibo ist fast jeden Tag im Studio, um Musik zu machen. „Früher war Ibo mal richtig schüchtern, heute tritt er auf Bühnen auf, rappt zu eigenen Beats“, erzählt Selim. Ibo guckt auf seine Schuhe, aber er lächelt.

Gemeinsam nehmen die beiden ein Insta-Reel auf, in dem sie die finanziellen Kürzungen im Jugendbereich durch den Senat kritisieren. Iboza spricht direkt in die Handykamera: „Bruder, das ist auf jeden Fall ein ganz großer Fehler. Ich habe da gelernt, erwachsen zu werden.“ Es warten noch einige Kinder im MV aufs Erwachsenwerden. Menschen wie Selim sind es, die ihnen jetzt schon eine Stimme geben.

„Die Wohnung ermöglicht es mir, mobiler zu sein als früher“

Die Frau mit den lilafarbenen Locken gleitet mit einem Rollstuhl in den Fahrstuhl ihres Wohnhauses im Märkischen Viertel. Als Heike vor zehn Jahren auf der Intensivstation lag und sich ihr Gesundheitszustand schlagartig verschlechterte, besorgte ihr Bruder die Wohnung in dem behindertenfreundlichen Plattenbau.

Heike, 60, ehemalige Krankenschwester Foto: Bjarne Meisel

Der volle Basteltisch in der Küche zeugt von Heikes großer Leidenschaft. Pailletten und Perlen, säuberlich in Boxen sortiert, die sie zu dreidimensionalen Grußkarten verklebt. An den sonnengelben Wänden im Wohnzimmer hängt ein Porträt, das sie mit Ende 20 zeigt: erhobenes Kinn, schnittiges Barett. Darunter steht Heikes Bett mit Haltegriff und rutschfester Matratze. Eine Porzellankatze bewacht den Fernseher, auf dem die ehemalige Krankenschwester Florian Silbereisens Shows guckt. Früher hat sich Heike um Pa­ti­en­t*in­nen gekümmert, heute ist sie selbst die Patientin. Wer sich mit der mittlerweile 60-Jährigen unterhält, erlebt eine fröhliche Frau. Doch wer genauer hinhört, dem wird auch ihre Einsamkeit nicht entgehen.

Heike leidet am Anti-Hu-­Syndrom, einer Autoimmunerkrankung, die zu Gleichgewichtsstörungen, Schmerzen, ständiger Müdigkeit und Kraftlosigkeit führt. „Halbjährlich mache ich eine Chemo. Danach ist mein Immunsystem völlig unten.“ Heike musste nicht nur ihren Job aufgeben, sondern auch ihre alte Wohnung im Stadtteil Wedding. Die sechs Stufen bis zum Fahrstuhl waren jedes Mal eine Herausforderung. Und ihr Rollstuhl blieb stets angekettet im Eingangsbereich zurück, wurde einmal sogar geklaut.

Im MV kommt Heikes Rolli mit in die Wohnung. Aufgrund der standardisierten Bauweise sind Türen und Flure breiter als in Altbauten, Türschwellen gibt es kaum, die meisten Eingänge sind ebenerdig oder mit Rampen versehen. „Die Wohnung ermöglicht es mir, mobiler zu sein als früher, zum Beispiel kann ich alleine einkaufen, selbst bestimmen, was auf meinem Teller landet. Außer meiner Putzfee unterstützen mich nur meine Eltern.“ Einmal in der Woche kommt Heikes 82-jährige Mutter vorbei und frisiert ihre Haare. „Mein 87-jähriger Vater geht mit mir spazieren, weil ich sonst niemanden finde, der das macht.“

Heikes große Leidenschaft: Grußkarten mit Perlen verzieren Foto: Bjarne Meisel

Selbst die einfachsten Tätigkeiten kosten Heike viel Kraft. „Bis ich mich angezogen, gefrühstückt und meine Medikamente genommen habe, ist es 12 Uhr. Spätestens um zwei werde ich müde und brauche einen Mittagsschlaf. Manchmal schlafe ich bis 18 Uhr.“ Die freien Stunden, die Heike bleiben, nutzt sie zum Basteln und Lesen. Einer ihrer Lieblingsorte im MV war deshalb für lange Zeit die Weltbild-Filiale im Märkischen Zentrum, der einzigen Shopping-Meile der Siedlung.

„Leider hat Weltbild zugemacht …“ Heike zieht einen Aschenbecher zu sich heran, daneben liegt ein Lippenstift, Farbton: Rosewood. Sie zündet sich eine Zigarette an und schiebt sie zwischen die geschminkten Lippen. Nicht nur die Schließung der Weltbild-Filiale hat dazu geführt, dass sich das Bummeln im Märkischen Zentrum kaum noch für Heike lohnt. Seit Jahren wird dort gebaut, ein weiteres Wohnhaus soll entstehen und neue Geschäfte. Bereits 2022 sollten erste Bereiche fertig sein, stattdessen versperren Bauzäune Wege und Blickachsen. Wo sich heute eine riesige Baugrube befindet, war früher ein Brunnenplatz, an dem Heike gerne Menschen beobachtet hat – eine Möglichkeit, sich weniger allein zu fühlen.

Ich hätte gern jemanden, wo ich klingeln kann und sagen: Kannst du mir ein Loch in die Wand bohren?

„Obwohl ich schon zehn Jahre im MV wohne, ist es noch sehr anonym. Ich hätte gern jemanden, wo ich klingeln kann und sagen: Kannst du mir ein Loch in die Wand bohren?“ An einem Ort wie dem MV, an dem viel Raum zum Wohnen auf wenig Raum zum Leben trifft, merkt man das umso mehr. Um etwas gegen die Einsamkeit zu tun, hat sich Heike einen Seniorentreff im MV gesucht. Er wird vom Bezirksamt Reinickendorf organisiert. „Wir spielen Gesellschaftsspiele, basteln, quatschen. Außerdem finden Tanznachmittage und Tagesausflüge statt, zum Beispiel zum Eisbeinessen ins Restaurant.“ Heike erreicht den Seniorentreff im Senftenberger Ring eigenständig mit ihrem Rollstuhl. Besucht sie ihre Psychotherapeutin, bucht sie hingegen vorab den Sonderfahrdienst.

Für Menschen wie Heike, die durch ihr Alter oder ihre Behinderung bewegungseingeschränkt sind, ist das Rauskommen aus der Siedlung nicht leicht. „Außerdem kostet ein Café-Besuch mit Wasser, Kaffee, Kuchen und Trinkgeld schnell mal 15 Euro.“ Vor dem Fernseher sitzen zu bleiben wie manch anderer, sei aber keine Option, findet Heike. „Bei mir klingelt auch keiner und fragt: Möchtest du was unternehmen?“ Da müsse man schon selbst aktiv werden.

„Wenn ich es wirklich schaffen will, muss ich raus“

Mit einem Campingstuhl und einer Chipstüte unter dem Arm klettert Nils auf eines der Plattenbaudächer im Märkischen Viertel. Doch viel Zeit, um die Ankunft auf dem Olymp zu genießen, bleibt dem 15-Jährigen nicht, die Straßen unter ihm werden schon kurz darauf in Blaulicht getaucht. Die Polizisten holen Nils vom Dach, ohne zu ahnen, dass sie einem zukünftigen Kollegen gegenüberstehen.

Nils, 27, angehender Polizist Foto: Bjarne Meisel

Heute ist Nils 27 Jahre alt. Er hat einen in sich ruhenden Blick, Tattoos am Arm und ist breit gebaut. Man sieht ihm das regelmäßige Training an, das zu seinem Polizeistudium gehört. Trotzdem kann man sich noch vorstellen, wie Nils als kleiner Junge ausgesehen hat, vor allem wenn er lacht: „Ja, ich gebe zu, ich habe damals viel Mist gebaut. Typisch Teenager eben.“ Für Nils steckt das MV voller Erinnerungen, seine Familie lebt in dritter Generation in der Siedlung. Seine Oma und sein Opa zogen im Jahr der Gründung des Viertels in eine der Wohnungen. „Damals war ihre Straße noch ein Sandweg.“

Nils Großeltern wohnen immer noch im MV, genau wie er selbst. Nils lebt in der alten Wohnung seiner Eltern. Sechster Stock, 85 Quadratmeter, 750 Euro warm. Die Einrichtung ist schlicht: helle Holzmöbel, weiße Raufaser, eine Eckcouch und ein klobiger Kühlschrank voller Magnete. In Nils’ Schlafzimmer hängt eine Collage, auf der ein Paar zu sehen ist. Mal mit Lockenmähne in den Neunzigern, dann im Faschingskostüm. „Die Collage haben Mama und Papa zum Hochzeitstag bekommen“, sagt Nils. Er erzählt viel von seinen Eltern, sein Vater ist vor zwei Jahren an einem Herzinfarkt gestorben, seine Mutter vor anderthalb Jahren an Krebs. „Es ist meine Aufgabe, mich an sie zu erinnern.“

Nils’ Vater war als Installateur tätig. Als das Leben mit zwei Söhnen teurer wurde, ist er zu BMW ans Fließband gewechselt. Nils’ Mutter arbeitete 25 Jahre lang für den Mann, der sie zur Rechtsanwaltsfachangestellten ausgebildet hat. „Meine Eltern waren superfleißig. Als Teenager entwickelte ich deshalb Angst, ihre Erwartungen nicht zu erfüllen.“ Nils’ Vater spürte das. „Papa hat gesagt: Nils, du bist nicht schuld, dass du auf der Welt bist. Das war eine Entscheidung deiner Mama und mir. Solange du glücklich bist, sind wir das auch.“ Nils beschreibt seine Eltern als „Sechser im Lotto“. Es fiel ihm schwer, die Wohnung, die früher ihre war, neu einzurichten.

Mittlerweile hat Nils nicht nur die Wohnung aufgeräumt, sondern auch sein Leben. Zum Zeitpunkt des Todes seiner Eltern steckte er in einem Beruf fest, den er aus Planlosigkeit gewählt hatte. Ein Berufseignungstest hatte Nils vorgeschlagen, Lehrer, Handwerker oder Polizist zu werden. Letzteres sprach ihn am meisten an, doch er scheiterte schon am Onlinetest – und wurde Handwerker. Mit der Zeit merkte er, dass ihm menschliches Miteinander fehlt, dass sein Kopf unterfordert ist. Er machte eine Ausbildung zur Fachkraft für Schutz und Sicherheit – in der Hoffnung, dass der Beruf näher an dem eines Polizisten dran ist. „Letztendlich habe ich in der Mall of Berlin arme Schlucker aus den Läden gezogen. Nicht das, was ich mein Leben lang tun wollte.“ Aber einen erneuten Berufswechsel wagen?

„Ich dachte an meine Eltern und daran, dass sie mich darin bestärkt haben, das zu tun, was ich liebe“, also wiederholte er den Einstellungstest bei der Polizei, diesmal mit Erfolg. Lediglich die Augen sollte er sich noch lasern lassen, um das Studium für den gehobenen Dienst antreten zu dürfen. Seitdem nimmt er jeden Tag den einstündigen Bahnweg zur Polizeischule auf sich. Mit dem Studium verknüpft Nils viele Hoffnungen. Auf einen Berufsalltag, der ihn erfüllt, auf die Möglichkeit, anderen Menschen zu helfen, auf ein Leben mit stabilem Einkommen.

Als Nils mit seiner Dachdeckerausbildung begann, erzählte er niemandem, dass er im MV wohnt, denn fast immer habe sich etwas verändert, an der Art, wie er angeguckt wurde. Heute aber steht Nils mit Stolz dazu. „Weil ich in der Siedlung gelernt habe, mich in unterschiedliche Menschen reinzuversetzen. Und was ich dabei gemerkt habe, ist, dass man mit jedem, wirklich jedem, etwas gemeinsam hat. Das kann mir als Polizist helfen.“

Nach langen Tagen in der Polizeischule hat Nils gerne Zeit für sich allein. Oft zieht es ihn dann nach oben, in die 14. Etage seines Hauses. Meistens nimmt Nils die Stufen. Zu einem Plattenbau gehört neben dem Fahrstuhl ein Treppenhaus mit Balkon in jedem Stockwerk. „Es hilft mir, weit gucken zu können, um den Kopf freizubekommen“, Nils lehnt sich an das Geländer aus Beton und blickt in die Ferne. Hinter den Hochhäusern zeichnen sich vereinzelt Windräder ab, unter ihm breitet sich ein Parkplatz aus und die Straßen, auf denen er seine Kindheit verbracht hat.

Am liebsten hat Nils im Bolzplatzkäfig gekickt oder am Seggeluchbecken Enten gefüttert. „Da gibt es eine Bank, die habe ich immer meine Bank genannt. Ich mag den Ausblick aufs Wasser.“ Das Seggeluchbecken ist ein kleines künstlich angelegtes Gewässer im MV, unterbrochen durch die Finsterwalder Straße, umgeben von schmalen Grünanlagen und in Nachbarschaft zu einem Kleingartenverein, einer Kirchengemeinde und Sidos alter Schule. „Hier komme ich mit Leuten her, die zum ersten Mal die Siedlung besuchen, danach geht es zum Müllberg in Lübars.“

Ich habe hier alles und muss mich nie rausbewegen. Aber genau das ist mein Problem

Als Kind ist Nils im Winter auf dem Müllberg gerodelt, im Herbst hat er Drachen steigen lassen und im Frühling die angrenzende Familienfarm mit Kühen, Pferden, Hühnern und einem Café besucht. Schon Nils’ Großeltern sind zum Müllberg gefahren, als sie noch jung waren, auch wenn der Berg damals noch buchstäblich aus Müll bestand und sie vor Ort waren, um alte Möbel loszuwerden. „Ich will Leuten, die mich besuchen, immer zeigen, dass sich hier einiges verändert hat. Spätestens seitdem die meisten Häuser saniert wurden, ist hier nicht alles nur grau.“

Trotzdem will Nils auf lange Sicht raus aus dem MV. „Ich habe hier alles und muss mich nie rausbewegen. Aber genau das ist mein Problem“, sagt Nils. „Wenn ich es wirklich schaffen will, dann muss ich eben doch raus. Ich will niemanden schlechtreden. Hier leben viele Leute mit tollen Familien, funktionierendem Berufsleben.“ Aber man könnte sich eben auch leicht hängen lassen im Märkischen Viertel.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

10 Kommentare

 / 
  • Sehr schöne Reportage. Hochhäuser sind von der Ressourceneffizienz unschlagbar. Man stelle sich den Flächen- und Energieverbrauch vor, würden die Bewohner alle im Einfamilienhaus wohnen. Der Blick und die Ruhe vom Straßenlärm in den oberen Etagen sind auch ein Plus sowie die Vorteile von Hausmeisterservice und Aufzug für Senioren, die ihr EFH nicht mehr unterhalten können. Sogar die Anonymität kann einen Vorteil haben, denn man steht nicht so unter kollektiver Beobachtung wie in der EFH-Siedlung oder dem engen Dorf. Ein bisschen schicker gebaut, ist das in NYC oder Singapur nichts ehrenrühriges.

  • Direkt nach dem Krieg wurden keine Hochhaussiedlungen gebaut, sondern drei-, vierstöckige Blocks mit Grünflächen dazwischen, drei Mietparteien pro Stockwerk, zwei, drei und vier Zimmer. Ich habe immer in solchen Wohnungen gelebt; sie sind paradiesisch. Kinder finden Kontakt, Mieter kümmern sich ums Grün. Wenn etwas kaputt geht, hilft der Vermieter. Repariert werden Schäden mit einfachen Mitteln. Mein Gasherd ist eine Antiquität, läuft aber prima, sogar bei Stromausfall. In einigen Orten werden diese Gebäude aufgestockt, auch eine gute Idee. Bloß nicht abreißen! Den Menschen wurde Lebensstandard gegönnt, obwohl schnell viele Wohnungen gebraucht wurden: Singles erhielten zwei Zimmer, Tageslichtbad mit Wanne, Waschbecken, Klo und eine Küche, keine Kochnische.



    Brutalismus kam in den 70ern ins Spiel. Ich liebe ihn. Oft sind die Fassaden verschachtelt oder terrassiert, Kirchen in diesem Baustil werden von magischen Licht durchflutet. Die ausgehöhlten Balkone sind zum Bepflanzen gedacht. Diese vielgeschmähten Bauten atmen die Euphorie der Architekten. Der Sichtbeton sollte UNSICHTBAR sein, überwuchert von üppigem Grün!



    Hochhäuser auch gut. Jede mehrstöckige Siedlung stiftet Nestwärme.

  • Danke für den Artikel. Natürlich wären moderne "Platten" ein (!) Element zur Bewältigung der Wohnraumkrise. Platzsparend, energieeffizient, und bezahlbar für die Mieter - wenn sie denn staatlich finanziert würden und der Bauherr und Vermieter keine Gewinnabsicht hätte sondern das Ziel, bezahlbaren, klimapolitisch und städteplanerisch sinnvollen Wohnraum zur Verfügung zu stellen.

    Da aber gute 95 Prozent der Wahlbevölkerung Parteien wählen, die keinerlei ernsthafte Absicht haben, staatlich finanzierten Wohnungsbau voranzutreiben, wird daraus nichts.

    Auch bei den Grünen steht das leider nicht auf der Prioritätenliste, die wollen lieber schicken Altbau oder tiny houses, dabei wäre das eines der Themen schlechthin um zu beweisen dass man in der Lage ist, sozialen Klimaschutz zu betreiben.

  • Ist das sozialromantisch? Dann verstehe ich nicht, warum so seit dem Ende des realsozialistischem Traums eigentlich kaum noch einer freiwillig wohnen will. Im Westen ja schon länger nicht. Ich hatte mal beruflich länger mit einer „Plattensiedlung“ zu tun und wir haben versucht, so etwas wie ein „Wir“ - Gefühl zu stärken, einfach ein Bewusstsein des aktiven Miteinanders. Ist ziemlich gescheitert und es wurde klar, „die Platte“ ist kein Dorf, kein Kiez, kein Viertel und keine Stadt, sondern einfach nur ein „Zufälligkeitssilo“ ohne durchgehenden Sozialbezug.

  • Ich habe den Eindruck, dass die Platte insgesamt vor allem für Kinder und Jugendliche sehr schlecht ist. Sieht man dann auch an den Schulen in der Umgebung. Die Anonymität ist für Kinder insgesamt nicht gut. Für Senioren oder Studis z.B. kann das durchaus funktionieren. Ich habe auch von großen Wohnprojekten gehört, bei denen dann die Zielgruppe eher wohlhabende Mieter waren, was auch gut funktionieren soll.

    Ansonsten muss Lärmschutz klar mitgedacht werden. Sobald auch nur eine Mietpartei keine Rücksicht zeigt sind dann locker 12 andere Wohnungen quasi unbewohnbar. Für Werkarbeiten und insbesondere Bohren müsste man eigentlich kleinere Zeitfenster einführen, damit nicht den ganzen Tag gebohrt wird, weil das eben im halben Haus zu hören ist. Und es ziehen dann regelmäßig Leute aus, weil sie den Lärm nicht mehr ertragen können. Also auch wieder ein. Und dann geht es von vorne los. Wer seine Lebensjahre reduzieren will ist dort gut aufgehoben.

  • Auch hier: Jahrzehntelanges Totalversagen.



    Seit Ewigkeiten weiß die Politik daß viele Senioren in viel zu großen Wohnungen wohnen, gerne eine kleinere Wohnung zögen aber die neue Miete viel zu teuer ist.



    Seit Jahrzehnten.

    Und was hat die Politik erreicht: Nichts.

    Das würde den Wohnungsmarkt deutlich entlasten.

    Ob schwarz, ob grün, ob rot, ob gelb: Alle hatten ihre Chance. Alle hatten Regierungsverantwortung.



    Und haben versagt.



    Anders kann man das nicht sagen.



    Versagt.



    Man kann das schönreden aber es bleibt eine Tatsache.

    Kein Wunder, dass die Menschen die Nase voll haben von dieser Politik.

  • Man kann Wohnblocks ja auch attraktiv gestalten. Keine Schachteln, sondern mehr mit Erkern oder terrassenförmig, mit grünen Innenhöfen; Architekt/innen dürften noch mehr Ideen haben.

    Klar verteuert das den Bau, aber es muss nicht viel sein und es ist gut in Lebensqualität und Gesundheit der Menschen angelegt.

  • "Hochhaussiedlungen könnten die Wohnungskrise lösen"



    Ähm aktuell in Hohenschönhausen in unserer Nachbarschaft im Aushang gesehen:



    Anbieter eine der größten Wohnungsbaugesellschaften Berlins.



    74qm, 3-Zimmer, im Plattenbau, Zweitbezug. Energieeffizienzklasse A, ich meine 32 kWh war der Wert 🤔



    Keine Tiefgarage, kein Parkplatz, kein Luxus. Ne schnöde Neubauplatte für 1642€ warm...😂



    Es gibt keine sozialverträgliche Lösung - das ist die Wahrheit 🤷‍♂️



    Energieeffizientes Bauen ist aktuell nicht unter 20€ Zielmiete für den Quadratmeter zu leisten.



    Und alte Platten haben wahnwitzige Energiewerte und man hört im 8. Stock wenn der Nachbar aus dem 2. Stock gegen die Heizung im Bad knallt...



    Ein echter Wohntraum 👍

    • @Farang:

      Tja, sie versuchen es eben. Ist halt Neubau und vielleicht finden sie einen Dummen / Verzweifelten, der's bezahlen will und kann.

    • @Farang:

      "Energieeffizientes Bauen ist aktuell nicht unter 20€ Zielmiete für den Quadratmeter zu leisten."

      Das ist dann richtig, wenn Wohnung primär Mittel der privaten Rendite sind. Das gilt nicht unbedingt, wenn Wohnungen sich im öffentlichen Besitz befinden und primär für die Deckung des Wohnbedarfs produziert und vermietet werden.

      "Mit knapp 5,50 Euro Kaltmiete pro Quadratmeter lassen sich Wohnungen wirtschaftlich und nachhaltig bewirtschaften. ... Das ist ein Ergebnis der neuen Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung zu Organisationsstrukturen und Bewirtschaftungskosten öffentlicher und genossenschaftlicher Wohnungsunternehmen."

      Quelle: www.rosalux.de/pub...fite-mit-der-miete

      Mit eingeschlossen sind darin Energieeffizienz, schallgeschützte Konstruktionen und Mobilitätsanbindung (private und öffentliche Verkehrsmittel).

      Hochhäuser können, wenn sie modern und bedürfnisgerecht konstruiert und gebaut sind, im Unterschied zum Plattenbau und überhaupt althergebrachten Bauweisen sehr wohl ein Luxuswohnen ermöglichen - und das Wohnraumproblem lösen.