Landtagswahl in Hessen: Das braune Herz des Westens
NSU, der Anschlag in Hanau, Walter Lübcke: Immer wieder sorgen Rechtsextreme in Hessen für Hass und Terror. Im Wahlkampf spielt das kaum eine Rolle.
Berlin taz | Peter Beuth gab sich bestimmt. Die Polizei habe nach dem Hanauer Anschlag ihre Arbeit „gut gemacht“, sagte der hessische Innenminister im Juli im Untersuchungsausschuss zu dem Attentat. Es sei nicht zu verhindern gewesen, der Täter „zu schnell, zu planmäßig“ vorgegangen. Auch der Mordanschlag auf den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke war für den CDU-Mann nicht verhinderbar. Ob die Behörden den Rechtsextremismus unterschätzt hatten? „Das würde ich nicht sagen“, so Beuth im Untersuchungsausschuss.
Also alles richtig gemacht im Umgang mit Rechtsextremen in Hessen? Es gibt einige, die das anders sehen. Von Hessen als „Hotspot rechten Terrors“ spricht die Linkspartei, von einem „flächendeckenden Versagen der Sicherheitsbehörden“ im Fall Lübcke und von „Abgründen der Innenpolitik“ auch im Fall Hanau. Auch die hessische SPD sieht im Kampf gegen den Rechtsextremismus „eine ganze Reihe von Mängeln“, vor allem des Verfassungsschutzes.
Tatsächlich weist Hessen eine gewisse rechtsextreme Kontinuität auf. Schon 1966 zog die NPD mit 7,9 Prozent der Stimmen in den hessischen Landtag ein – es war der erste Eintritt in ein deutsches Landesparlament, eine Serie weiterer folgte. In Hessen blieb es indes bei einer Legislaturperiode. CDU-Mann Alfred Dregger drängte die Partei mit einem Rechts-außen-Kurs zurück. 1993 waren es dann die Republikaner, die in Offenbach 15 Prozent holten oder in Frankfurt 9,3 Prozent.
Und ausgerechnet in Hessen, in Oberursel (Taunus), gründete sich am 6. Februar 2013 die AfD, die fortan bundesweit in Parlamente einzog, 2018 auch mit 13 Prozent in den hessischen Landtag. Es blieb nie nur bei verbaler Hetze. Schon 1982 taten sich in Frankfurt die Rechtsextremen Odfried Hepp und Walter Kexel zusammen und verübten Sprengstoffanschläge auf US-amerikanische Militäreinrichtungen im Rhein-Main-Gebiet. Als sich ab den 90ern Rechtsextreme im Blood-and-Honour-Netzwerk organisierten, gab es einen Ableger auch in Hessen, der eng mit dem Thüringer Pendant vernetzt war.
Ermittler ignorierten rechtsextremistischen Hintergrund
Aus dieser Szene ging der 1998 abgetauchte Nationalsozialistische Untergrund (NSU) hervor, der eine jahrelang ungeklärte Mordserie verübte. Dessen erstes Opfer: der Blumenhändler Enver Şimşek aus dem hessischen Schlüchtern, ermordet am 9. September 2000 in Nürnberg. Später folgte ein NSU-Mord auch in Hessen: am 6. April 2006 in Kassel, an dem jungen Internetcafébetreiber Halit Yozgat. Am Tatort war auch ein Verfassungsschützer, Andreas Temme. Warum, ist bis heute nicht geklärt. Für die Terrorserie sahen auch hessische Ermittler jahrelang keinen rechtsextremen Hintergrund.
Am 2. Juni 2019 folgte dann der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Der rechtsextreme Täter benannte als Motiv den Einsatz des CDU-Manns für die Aufnahme von Geflüchteten. Einen guten Monat später schoss ein anderer Rechtsextremer in Wächtersbach einen Eritreer nieder, das Opfer überlebte schwer verletzt. Am 19. Februar 2020 ermordete ein Rassist in Hanau neun Menschen, danach auch seine Mutter und sich selbst. Und als die Bundesanwaltschaft vor einigen Monaten bundesweit gegen terrorverdächtige Reichsbürger vorging, wurde der mutmaßliche Anführer in Frankfurt/Main festgenommen: Heinrich Prinz Reuß. Auch in Heppenheim und Wetzlar gab es Festnahmen.
Die Aufzählung zeigt: Das rechtsextreme Bild ist diffus geworden. Es protestierten auch rechte Pegida-Ableger in Hessen, später reihten sich Rechtsextreme auch in Coronaproteste ein. Zugleich flogen rechtsextreme Chatgruppen innerhalb der hessischen Polizei auf. In einer davon, Titel „Itiotentreff“, zogen die Beamten über Juden, Geflüchtete oder Menschen mit Beeinträchtigung her. Aufgeflogen war die Gruppe im Rahmen von Ermittlungen zur NSU-2.0-Drohserie, bei der Daten einiger der Bedrohten zuvor auf hessischen Polizeirechnern abgerufen wurden. Warum? Auch das ist bis heute nicht geklärt.
An einen Zufall glaubt Çetin Gültekin nicht. „Die Taten passieren immer wieder in Hessen, weil Nazis hier große Freiräume haben“, sagt der 49-Jährige, dessen Bruder Gökhan beim Hanauer Anschlag erschossen wurde, „weil Politik und Polizei beim Thema Rechtsextremismus immer wieder versagen.“
Bericht zu Hanau erst nach der Landtagswahl
Gültekin verfolgte den Untersuchungsausschuss zum Hanau-Attentat, war immer wieder vor Ort. Warum durfte der Attentäter Waffen besitzen? Warum war der Polizeinotruf in der Tatnacht überlastet? Warum war der Notausgang verschlossen? Warum wurden Angehörige abschätzig behandelt? Für Gültekin hat sich in allen Punkten Behördenversagen bestätigt. „Aber eingestanden wurde das immer erst, als es nicht mehr anders ging“, beklagt er. „Und Konsequenzen gezogen wurden keine. Das ist total enttäuschend.“
Gültekin ärgert auch, dass der Ausschuss seinen Abschlussbericht erst nach der Landtagswahl vorlegen will. Schwarz-Grün hatte erklärt, dass man das Thema aus dem Wahlkampf heraushalten wolle. Nicht nur Gültekin hätte aber genau dort gerne „die Kette des Versagens“ im Fall Hanau thematisiert gesehen. Mehrere Angehörige fordern nun weitere Aufklärung mit der Kampagne „Kein Abschlussbericht“ ein. „Wir werden weiter laut sein“, sagt Gültekin.
Auch zum Lübcke-Mord tagte ein Untersuchungsausschuss. Auch hier ging es um Fragen, warum der Attentäter Stephan Ernst mit Waffen trainieren konnte, warum der Verfassungsschutz ihn vor der Tat als ungefährlich eingestuft und nicht mehr beobachtet hatte. Aus heutiger Sicht sei das ein Fehler gewesen, konstatierte der Ausschuss. Indes, auch hier herrschte Uneinigkeit, am Ende legten die Fraktionen neben dem Abschlussbericht gleich drei Sondervoten vor. Was Familie Lübcke von der Arbeit der Sicherheitsbehörden hielt, machte ihr Anwalt im Prozess klar: Einen wehrhaften Staat habe es im Fall Lübcke nicht gegeben, dem Verfassungsschutz warf er ein „Komplettversagen“ vor.
Auch die hessische Politik steht immer wieder in der Kritik. Nach dem NSU-Mord an Halit Yozgat lehnte es Volker Bouffier, damals Innenminister und später CDU-Ministerpräsident, ab, dass V-Leute direkt von Ermittlern befragt werden – wegen Quellenschutzes. Zusammen mit den mitregierenden Grünen sperrte sich die CDU später gegen einen Untersuchungsausschuss, stufte eine NSU-Akte zunächst für 120 Jahre als geheim ein. Von den sechs beteiligten Polizisten an der „Itiotentreff“-Chatgruppe sind fünf zwar freigestellt, aber bis heute weiter im Dienst – bei laufenden Bezügen.
Rechtsextremismus im Wahlkampf kaum Thema
Nach dem Hanauer Attentat stellte sich Beuth sofort vor die Polizei, besuchte bis heute nicht die Opfer. „Beuth hat alles immer schöngeredet, er hat uns ignoriert oder verhöhnt“, klagt Gültekin. Inzwischen erklärte Beuth seinen Rückzug zum Ende der Legislatur.
Im Wahlkampf ist der Rechtsextremismus indes kein Thema. SPD-Spitzenkandidatin und Bundesinnenministerin Nancy Faeser geißelt die Parolen der AfD und die wacklige Brandmauer der CDU. Ein zugespitztes Wahlkampfvideo zu dem Thema ließ Faeser zurückziehen. Es ließ die CDU erzürnen. Sonst aber taucht das Problem Rechtsextremismus höchstens am Rande auf. Die SPD verspricht im Wahlprogramm hierzu einen Aktionsplan, die Grünen ein hessisches Demokratiefördergesetz und die CDU den Ausbau einer Sonderermittlungsgruppe bei der Polizei. Darüber diskutiert wird kaum.
Für Reiner Becker ist das Bild differenziert. „Tatsächlich gibt es eine bedrückende rechtsextreme Geschichte in Hessen“, erklärt der Leiter des Demokratiezentrums Hessen. Dennoch will Becker nicht von einer bundesweiten Hochburg sprechen. Anderswo sei der Rechtsextremismus strukturell stärker. Momentan gebe es fast keine Neonazikameradschaften mehr, der AfD-Landesverband gehöre zu den schwächeren, und die NPD sei derart in der Krise, dass sie zur Wahl gar nicht antrete, sondern zur Stimmabgabe für die AfD aufrufe. „Die Rechtsextremen sind trotzdem weiter da. Die Gefahr ist nicht weniger, sondern unübersichtlicher geworden“, erklärt Becker. „Vieles wird von der AfD absorbiert.“
Die Politik sei aber auch nicht gänzlich untätig gewesen, so Becker. Seit dem Lübcke-Mord geht die Sonderermittlungsgruppe der Polizei, die „Besondere Aufbauorganisation“, gegen die Szene vor, das Waffenrecht wurde verschärft, nach dem Chatskandal das Frankfurter SEK aufgelöst. „Diese Maßnahmen waren auch unumgänglich“, betont Becker. „Nun muss der Druck hoch bleiben.“
Tatsächlich könnte die AfD am Wahlabend zweitstärkste Kraft werden. Nach den Verboten der rechtsextremen Hammerskins und Artgemeinschaft durch Innenministerin Faeser rückten Polizeikräfte auch in Hessen aus, so gegen den früheren hessischen NPD-Chef Marcel Wöll. Gültekin begrüßt die Verbote. Aber es macht ihm Angst, dass die Fälle immer wieder auftreten. „Was muss noch passieren, damit hier die rechtsextreme Gefahr gebrochen wird?“
Leser*innenkommentare
Lindenberg
Unglaubliche vier Jahre dauerte es, bis die Franfurter Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen zynischer Polizeichats abgeschlossen hatte und Anklage erhob. Einen Prozess gibt es immer noch nicht.
Denn das Landgericht Frankfurt ließ eine Klage nicht zu, da die Chats angeblich in einem geschlossenen Kreis stattfanden. Jetzt ist das Oberlandesgericht als nächste Instanz gefragt.
Die Staatsanwaltschaft Frankfurt veröffentlichte eine Presseerklärung, dass das OLG in einem anderen Fall bereits entschieden hatte, dass auch eine kleine Chatgruppe eine juristisch relevante Öffentlichkeit sein kann.
Dass diese Presseerklärung veröffentlicht wurde, deutet auf den erheblichen Unmut der Staatsanwaltschaft hin. Dass Oberlandesgericht antwortete ebenfalls mit einer Presseerklärung, dass die Einzelfallprüfung entscheidend sei.
Es stellt sich die Frage, warum die Grünen als Koalitionspartner der CDU nicht aufgrund dieses Streites beim hessischen Justizminister protestieren.
Ist die Justiz wie in der Weimarer Republik auf dem rechten Auge wieder blind?
Es ist allein dem jüdischen Juristen Julius Gunkel zu verdanken, dass die während der Weimarer Republik systematisch vertuschten Morde der Justiz bei rechtsextrem motivierten Mordfällen an Hand einer Statistik in einem Buch nachgewiesen werden konnten.
Emil Julius Gumbel untersuchte um 1920 politisch motivierte Morde von rechts und links. Mehr als 350 rechtsextremen Morden standen rund 20 linksextreme gegenüber. Linke Täter bekamen Todesurteile, rechte im Schnitt nur vier Monate Haft.
Gumbel wurde von den Nazis verfolgt, sein Buch zu dem Thema von den Nazis verbrannt, ist aber 2016 wieder veröffentlicht worden.
Gumbel wurde nach dem Krieg lediglich eine Gastprofessur in Deutschland angeboten.
Kein deutscher juristscher Lehrstuhl ist nach Gunkel benannt, keine Zeitung berichtete über seinen Tod im Exil.
www.deutschlandfun...on-rechts-100.html
Jochen Laun
@Lindenberg "Es stellt sich die Frage, warum die Grünen als Koalitionspartner der CDU nicht aufgrund dieses Streites beim hessischen Justizminister protestieren". Mit welchem Ziel? Soll das Ministerium dafür sorgen, dass das Landgericht eine andere Entscheidung trifft? Eine Justizschelte, die dafür plädiert, es mit der Gewaltenteilung nicht so genau zu nehmen, ist wenig glaubwürdig, finde ich.
Winnetaz
Ein bedrückende Zusammenstellung. Danke für das Gesamtbild.
Ob das Thema im Wahlkampf hoch gekocht werden sollte, ist eine andere Frage. Erstens ist die aktuelle Lage ja offensichtlich besser als zur Zeit der älteren Vorfälle, so dass die aktuelle Landesregierung da keinen allzu schlechten Job macht.
Zweitens würde das den Rechtsextremen Aufmerksamkeit bringen, die sie nicht verdient haben (und somit indirekt vielleicht sogar ungewollt Werbung und weiteren Zulauf). Das ist auch generell bei Berichterstattung über die AfD: Sie freut sich über die Aufmerksamkeit, auch wenn die Berichterstattung kritisch ist.
Ein zweischneidiges Schwert. Einfach ignorieren wäre oft besser. Die würde dann kaum jemanden interessieren, wenn die Erwachsenen im zivilisierten demokratischen Diskurs unter sich über die Probleme unseres Landes diskutieren würden.
Pfanni
Mir fällt auf, dass in diesem Beitrag zu dem Mordopfer Lübcke auch dessen Parteizugehörigkeit benannt wird: CDU! Dies wird in den Medien (einschl. taz) zumeist verschwiegen. Denn passt es eigentlich nicht zu der These, wonach es fast eine Einheitsfront der Rechten mit der CDU gibt.
Aber die CDU ist keine „Einheitspartei“, in der alle die gleichen Meinungen haben. Auch Prominente mit anderen Meinungen sind darin vertreten, wie es der ermordete Kasseler Regierungspräsident W. Lübcke war.
Demzufolge taugt die CDU nicht zum „Verbündeten“ für die AfD, auch wenn diese es gern hätte. Es wird nach der nächsten Wahl bestimmt keine Koalitionsregierung AfD/CDU geben.
Piratenpunk
@Pfanni Menschen wie Lübcke mag es noch in der Union geben, keine Frage.
Nur bedeuten einzelne Mitglieder, die sich für eine menschenwürdige Behandlung Geflüchteter einsetzen, noch lange nicht, dass die Union als Ganzes immun gegen die Zusammenarbeit mit der AfD wäre. Wirklichen öffentlichen Widerspruch gegen Merz' rassistische Ausfälle und Fake News gab es aus der Partei kaum.
Ich würde mich nicht drauf verlassen, dass es nächstes Jahr keine Zusammenarbeit von konservativen und Faschisten geben wird.
Ajuga
@Pfanni Das war mal so.
Stadtkindhans
Hessen ist 1985 aber auch das 1. Bundesland mit Grüner Regierungsbeteiligung. Frankfurt war während der 1968er Studentenrevolten wichtigster Schauplatz in der BRD. Nicht zu vergessen die vielen linken Politiker, Philosophen und Aktivisten, die bis heute aus diesem Land hervorgingen. Natürlich unvergessen die Schlachten mit dem Staat, von der APO über die Startbahn West bis hin zum Hambacher Forst etc.. Von den Morden der RAF ganz zu schweigen, verübt auch von Hessen in Hessen.
fly
Die Rolle des Verfassungsschutzes sollte aufgeklärt werden. Wer da wen warum deckt, wird interessant sein.
Aber momentan ist Hessen ist nicht DAS braune Herz. Die AFD hat bei der Bundestagswahl in den Wahlkreisen in BW, RP etc ähnlich abgeschnitten.
Alex_der_Wunderer
@fly ...das kleine braune Herz schlägt all zu oft in diesen kleinen unscheinbaren Dörfern, abseits jeder Zivilisation - da keimt & brodelt es in Dorfgasthäusern und Vereinsheimen, wer von den Einheimischen sich dem nicht beugt, ist raus aus der " Gemeinschaft "...wie sollen wir da unauffällige Beobachter vom Verfassungsschutz einschleusen ?
Wie soll man da politische Resozialisierung durchführen ?
Hier muss von unseren politisch Verantwortlichen in Berlin - Geld in die Hand genommen werden, um professionell, prophylaktisch - schon im Keim unanständigem, menschenverachtenden Gedankengut , ein P vorzusehen und die Verbreiter Dingfest zu machen.
Thomas Brunst
taz-Zitate: "(...) Immer wieder sorgen Rechtsextreme in Hessen für Hass und Terror. (...) Tatsächlich weist Hessen eine gewisse rechtsextreme Kontinuität auf. (...) An einen Zufall glaubt Çetin Gültekin nicht. „Die Taten passieren immer wieder in Hessen, weil Nazis hier große Freiräume haben“, sagt der 49-Jährige, dessen Bruder Gökhan beim Hanauer Anschlag erschossen wurde, „weil Politik und Polizei beim Thema Rechtsextremismus immer wieder versagen.“ (...)"
Danke Herr Litschko für den guten Artikel über das Problembundesland Hessen; das fortwährende Rechtsextremismusproblem in Hessen sehr gut auf den Punkt gebracht!