Untersuchungsausschuss zu Hanau: Der Notruf funktionierte nicht

Hessens Innenminister Beuth wurde als Zeuge vor dem Untersuchungsausschuss vernommen. Er benannte Fehler, Polizeiversagen sah er aber nicht.

Freunde und Angehörige nehmen an der Sitzung in Wiesbaden teil und halten Fotos der Ermordeten in die Kamera

Freunde und Angehörige erinnern an die Opfer des Attentats von Hanau bei der Sitzung des Untersuchungsausschusses Foto: Helmut Fricke/dpa

WIESBADEN taz | Die hessische Polizei hätte den rechtsextremen Täter Tobias R. in der Mordnacht von Hanau 2020 nicht stoppen können, denn „dazu ging er zu schnell, zu planmäßig vor“. Das sagte Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) am Freitag bei seiner Zeugenvernehmung vor dem Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags. Der Minister erinnerte daran, dass der Täter innerhalb von nur fünf Minuten neun junge Menschen erschossen habe: „Drei Tote in drei Sekunden“ am ersten Tatort, „in drei Sekunden 16 Schüsse, zwei Tote“ am zweiten Tatort. Beuth sprach von einer abgrundtief bösen Tat, die an Skrupellosigkeit kaum zu übertreffen sei.

Die Beamten, die in der Nacht im Einsatz waren, hätten in der extrem herausfordernden Situation „gute Arbeit“ geleistet, sagte der Minister. Wenige Minute nach den ersten Notrufen seien Beamte vor Ort gewesen, und hätten Überlebenden des Anschlags Ersthilfe geleistet. Die Polizei habe „keinesfalls versagt“, wies der Minister die öffentliche Kritik an dem Einsatz zurück, räumte allerdings erstmals auch Fehler ein. Es werde „an mehreren Stellen mögliche, teilweise zwingende Nachbesserungen“ geben, versicherte Beuth.

Erneut machte er den Opferfamilien und Überlebenden ein Gesprächsangebot. Bislang hatte er nicht aktiv ein solches Gespräch gesucht. Beuth versicherte den Opferfamilien und Überlebenden des Anschlags, die die Sitzung von den Abgeordnetenbänken aus verfolgten, seine tiefe Anteilnahme. „Die rassistische Tat hat Hessen tief erschüttert“, sagte der Minister und sprach von dem schlimmsten Ereignis in der Geschichte des Landes.

Niemand habe vor dieser „abgrundtief bösen Tat“ mit einem solchen Mordanschlag rechnen können, sagte Beuth. Der Täter sei davor nicht auf dem Radar der Sicherheitsbehörden gewesen, weil er nicht in Erscheinung getreten sei. Es gebe auch keine Hinweise dafür, dass die Tat durch das Handeln hessischer Behörden hätte verhindert werden können.

Notrufeinrichtung hat versagt: „Tragischer Umstand“

Einen „tragischen Umstand“ nannte Beuth die Tatsache, dass die Notrufeinrichtung der Polizei in Hanau zum Tatzeitpunkt nicht richtig funktioniert hatte. Damals bediente zeitweise eine einzige Beamtin die beiden Telefone. Sie ging davon aus, dass Anrufe auf den zweiten Apparat weitergeleitet würden. Der 22-jährige Vili Viorel Păun hatte den Täter in der Mordnacht auf dessen Fahrt zum zweiten Tatort verfolgt, um ihn zu stoppen. Mehrfach hatte er den Notruf gewählt und war nicht durchgekommen.

Wenig später erschoss ihn der Täter in seinem Auto vor der Arena-Bar. Die Frage von Niculescu Păun, dem trauernden Vater, ob der Tod seines Sohnes zu verhindern gewesen sei, hätten ihn sehr betroffen gemacht, bekannte Beuth. Allerdings seien die tödlichen Schüsse auf den Sohn nur wenige Minuten nach den vergeblichen Notrufen gefallen. Er habe von dem Missstand von der fehlenden Notrufumleitung erst lange nach dem Anschlag erfahren, übernahm aber gleichwohl die politische Verantwortung.

Auch bei der Opferbetreuung gebe es Nachbesserungsbedarf. Die Polizei habe den Opferfamilien zwar Kontaktbeamte zur Seite gestellt. Deren Arbeit sei von den Betroffenen aber offenbar „nicht als hilfreich, nicht als Unterstützung oder überhaupt nicht“ wahrgenommen worden, sagte der Minister. Es habe keine Rollen- und Aufgabenklarheit gegeben, so Beuth. Inzwischen habe die Polizei opfersensible Konzepte erarbeitet und Opferschutzbeauftragte in der Region und des Landes ernannt. Aus einem neu eingerichteten Fond würden Betroffene von Terroranschlägen und Gewalttaten unterstützt.

Die Angehörigen hatten die Verlesung der Liste der Namen der Toten in einer Turnhalle in der Tatnacht als unwürdig empfunden. Diese Situation erklärte der Minister damit, dass die Lage sehr komplex und lange Zeit sehr unübersichtlich gewesen sei; die Polizei dürfe eben nur endgültig gesicherte Tatsachen an Angehörige weitergeben. Der Minister äußerte aber Verständnis dafür, dass angesichts vieler unbeantworteter Fragen Wut und Enttäuschung bei den Opferfamilien zurückbleibe.

Beweisaufnahme beendet – und jetzt?

Den Anschlag von Hanau nannte er einen „fatalen Angriff auf die freiheitlich demokratische Grundordnung und damit auf uns alle“. Die Erfahrungen von Hanau und den Korrekturbedarf werde die hessische Polizei als „lernendes System“ umsetzen, versicherte Beuth.

Mit seiner Vernehmung endet die Beweisaufnahme des Untersuchungsausschusses. Der Abschlussbericht und die zu erwartenden Sondervoten der Opposition werden erst nach der Landtagswahl am 8. Oktober veröffentlicht. So haben es die Regierungsparteien CDU und Grüne beschlossen. Die Opposition kritisiert das als Verschleppung.

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Am 19. Februar 2020 erschoss der Rechtsextremist Tobias R. an drei verschiedenen Tatorten in der Hanauer Innenstadt neun Menschen:

Kaloyan Velkov, ermordet mit 33 Jahren.

Fatih Saraçoğlu, ermordet mit 34 Jahren.

Sedat Gürbüz, ermordet mit 30 Jahren.

Vili Viorel Păun, ermordet mit 22 Jahren.

Gökhan Gültekin, ermordet mit 37 Jahren.

Mercedes Kierpacz, ermordet mit 35 Jahren.

Ferhat Unvar, ermordet mit 22 Jahren.

Hamza Kurtović, ermordet mit 22 Jahren.

Said Nesar Hashemi, ermordet mit 21 Jahren.

Später ermordete der Attentäter seine Mutter Gabriele R., 72 Jahre alt.

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Hier erfährst du mehr

Rechtsextreme Terroranschläge haben Tradition in Deutschland.

■ Beim Oktoberfest-Attentat im Jahr 1980 starben 13 Menschen in München.

■ Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) um Beate Zschäpe verübte bis 2011 zehn Morde und drei Anschläge.

■ Als Rechtsterroristen verurteilt wurde zuletzt die sächsische „Gruppe Freital“, ebenso die „Oldschool Society“ und die Gruppe „Revolution Chemnitz“.

■ Gegen den Bundeswehrsoldaten Franco A. wird wegen Rechtsterrorverdachts ermittelt.

■ Ein Attentäter erschoss in München im Jahr 2016 auch aus rassistischen Gründen neun Menschen.

■ Der CDU-Politiker Walter Lübcke wurde 2019 getötet. Der Rechtsextremist Stephan Ernst gilt als dringend tatverdächtig.

■ In die Synagoge in Halle versuchte Stephan B. am 9. Oktober 2019 zu stürmen und ermordete zwei Menschen.

■ In Hanau erschoss ein Mann am 19. Februar 2020 in Shisha-Bars neun Menschen und dann seine Mutter und sich selbst. Er hinterließ rassistische Pamphlete.

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