Landraub in Brasilien: Kampf um den Acker
Im Nordosten Brasiliens liegt ein Hauptanbaugebiet für Soja. Ein Dorf leistet den Großgrundbesitzern hartnäckig Widerstand im Kampf um Landtitel.
M artin Mayr drosselt die Geschwindigkeit des schweren Geländewagens, lenkt ihn dann von der breiten, gut ausgebauten Versorgungspiste auf die schmale Buckelpiste, die runter ins Tal des Rio Preto im Bundesstaat Bahia im Nordosten Brasiliens führt. Der monotone grüne Teppich aus Sojabohnen, der uns die letzten sechzig Kilometer links und rechts begleitet hat, weicht buschigen Gräsern, Unterholz und knorrigen niedrigen Bäumen. „Das ist die typische Landschaft des Cerrado“, erklärt Mayr, Diakon und Leiter der Entwicklungsagentur, und steuert den Wagen schaukelnd über die von tiefen Erosionsrinnen durchzogene ockerbraune Piste.
Die ursprünglich kirchliche, mittlerweile aber private Hilfsorganisation 10envolvimento aus Barreiras in Bahia begleitet seit 2003 die etwa 120 Familien, die im Tal des Rio Preto leben. Mayr, 61 Jahre alt, fährt vorbei an der Ruine eines Wachhauses und an zwei Pfosten, auf denen bis vor ein paar Jahren noch eine Schranke installiert war. „Hier kontrollierten bewaffnete Wachleute der Mega Farm Estrondo über Jahre den Zugang und setzen die Menschen aus Cacimbinha und den sieben anderen Siedlungen im Tal des Rio Preto unter Druck“, erklärt er.
Mayr manövriert den Geländewagen die letzten Meter des Abhangs hinunter, an dessen Ende ein weißes Schild mit dem Schriftzug „Assoziation der Gemeinden Cacimbinhas und Gatos“ auftaucht. „Die Schilder haben wir gemeinsam mit den Geraizeiros gefertigt und aufgestellt. Sie informieren, dass hier deren traditionelles Siedlungsgebiet beginnt, und auf den weißen Tafeln haben wir auch eine Karte aufgedruckt. So wird auf den Landanspruch der Dörfer hingewiesen, den wir in den Verhandlungen mit den Verantwortlichen der Mega Farm Estrondo auch vertreten“, sagt Mayr.
Geraizeiros werden die viehhaltenden Kleinbauern genannt, die in Brasilien die Cerrados, ein Gebiet von Feuchtsavannen, nutzen und ihre Rinder von einem Weideplatz zum nächsten treiben. Das einzigartige Ökosystem im Herzen Brasiliens, Heimat von Jaguaren, Ameisenbären, Tapiren und etlichen seltenen Pflanzenarten, ist dank riesiger unterirdischer Süßwasserspeicher Ursprung vieler Flüsse und erstreckt sich über fast 2 Millionen Quadratkilometer bis nach Paraguay hinein. Neben der Amazonasregion ist der Cerrado das zweite wichtige Ökosystem des Landes, deutlich weniger bekannt und noch gefährdeter als der Regenwald im Norden Brasiliens.
„Rund die Hälfte des Cerrado hat die Agrarindustrie bereits mit riesigen Soja-, Baumwoll- und Maismonokulturen überzogen. Es wird agroindustriell für den Weltmarkt produziert, vor allem an die EU und nach China exportiert“, erklärt Mayr. Die Farm, die hier den Kleinbauern ihr traditionelles Landrecht streitig macht, sei ein „Big Player“, sagt der. „Sie heißt mit ganzem Namen Condomínio Cachoeira do Estrondo“.
Mayr lenkt den Wagen an ein paar Häusern, einer Scheune und zwei, drei Schuppen vorbei und macht vor vier nebeneinander stehenden einfachen Backsteinhäusern Halt. „Cacimbinha“, sagt Abner Mares Costa und öffnet die Beifahrertür. Der Agraringenieur bildet gemeinsam mit Umweltingenieurin Amanda Santos Silva das Trio von 10envolvimento. Einmal pro Woche ist jemand vor Ort, um die im Tal lebenden Familien bei Anbau, Wassermanagement, aber auch bei der Nutzung der ersten Solarpanels zu beraten – und natürlich ist der Konflikt mit Estrondo, wie die Farm in Kurzform genannt wird, immer ein Thema, so Agraringenieur Mares Costa.
Die Geraizeiros haben wie viele andere Siedler:innen, Nachkommen von Sklaven aber auch viele Indigene, nie Landtitel bekommen. Dabei leben sie seit mehr als 150 Jahren in der Region und nutzen den Cerrado, ohne ihn zu schädigen, meint der Agrarexperte. Extensive Viehzucht ist neben dem Anbau von Gemüse, Bohnen und etwas Mais auf wechselnden Feldern ihre Lebensgrundlage. Ihre hochbeinigen Zebus werden in der von Waldstreifen unterbrochenen Savanne von einem Weideplatz zum nächsten getrieben. „Daran hat sich nichts geändert“, sagt Antônio Batista Gomes, der an einem Zaun auf die Besucher gewartet hat, und deutet auf ein leeres Gatter ein paar Meter weiter unten, gegenüber dem Fußballplatz des Dorfes.
„Für uns funktioniert das seit Generationen“, erklärt der rüstige Rentner, der in Cacimbinha geboren ist, aber im benachbarten Gatos lebt. Früher hat er in tagelangen Märschen oder auch zu Pferd die Rinder von Ort zu Ort getrieben. Der mittelgroße knorrige Mann mit dem schmalen weißen Schnurrbart und der rechteckigen Metallbrille war lange Sprecher der Dorfgemeinschaft und hat den Konflikt mit der Megafarm Estrondo von Beginn an miterlebt.
„Alles dreht sich um das Land, auf dem wir leben. Sie haben ab 2002 versucht, uns zu vertreiben, haben Anspruch auf unser Land erhoben und sich irgendwie die Titel gesichert“, klagt der 83-Jährige und reibt Daumen und Zeigefinger vielsagend aneinander. „Immer wieder kamen bewaffnete Männer auf Motorrädern, haben uns bedroht – verbal, aber auch körperlich“, erinnert sich der Vater von fünf Kindern. Er hat erlebt, wie einem Nachbarn in den Fuß geschossen wurde, und er kennt Dorfbewohner, die seinen Aussagen nach zusammengeschlagen, er sagt: gefoltert, wurden. Ob er selbst Opfer von Gewalt geworden sei, lässt er auf Nachfrage offen.
Vor rund vier Jahren habe es die letzten Attacken von den Pistoleros, den Wachmännern von Estrondo, gegeben, sagt Batista Gomes. Bis Ende 2018/Anfang 2019 waren die Zugänge in das Flusstal bewacht, an Schranken mussten sich die Bewohner der sieben Siedlungen im Tal des Rio Preto ausweisen; sie seien verspottet, bedroht, manchmal verprügelt worden.
„Damals trauten wir uns kaum, die Häuser zu verlassen und das Vieh zum nächsten Weideplatz zu treiben. Niemand wusste, ob er oder sie lebendig wieder zurückkommen würde“, erinnert sich Batista Gomes. Mayr, der Diakon, sorgte damals gemeinsam mit seinem Team von 10envolvimento und den Umweltorganisationen Greenpeace und WWF dafür, dass die Öffentlichkeit über die Geschehnisse am Rio Preto erfuhr. Die internationale Berichterstattung und Druck durch Greenpeace, insbesondere auf die Firmen Cargill und Bunge, die beiden großen Abnehmer für Soja, Baumwolle und Mais aus der Estrondo-Produktion, sorgten dafür, dass das Agrarunternehmen an den Verhandlungstisch zurückkehrte. Seitdem ist es wieder ruhig geworden in Cacimbinha.
Für Mayr ist der zentrale Grund, warum sich Estrondo doch wieder an den Verhandlungstisch gesetzt hat, der: Die Unternehmen hinter dem Agrargiganten sahen durch die negative öffentliche Aufmerksamkeit ihre Geschäftsinteressen gefährdet. In den vier folgenden Jahre wurde schließlich ein Kompromiss ausgehandelt, der den Kleinbauern nun Rechtssicherheit bringen soll.
„Am 12. Juli sollen wir endlich den Vertrag unterschreiben, der uns den Frieden zurückbringt. Dann erhalten wir unseren kollektiven Nutzungstitel“, sagt Batista Gomes. Seine Zuversicht teilt auch Isaltina Guedes da Silva Gomes, eine der Frauen, die derzeit die Geschicke der Dorfgemeinschaft lenken. Die 44-Jährige ist in einer der Nachbargemeinden geboren, sie ist die lokale Krankenschwester hier und hat als solche alle Siedlungen der Region und den Gesundheitszustand ihrer Bewohner:innen im Blick.
Isaltina Guedes da Silva Gomes, Krankenschwester in Cacimbinhas
Der ist immer dann beeinträchtigt, wenn auf den Fazendas, den Landgütern, die wie ein Gürtel das Tal des Rio Preto umschließen, Pestizide gesprüht werden: per Traktor, oder auch per Flugzeug. Dann gebe es Klagen über Symptome von Vergiftung. „Einmal haben Wasserproben nach einem Erdrutsch hier am Rio Preto belegt, dass das Wasser mit zwei toxischen Wirkstoffen kontaminiert war. Die Namen der Wirkstoffe habe ich wieder vergessen. Folgen haben die Ergebnisse nie gehabt“, erinnert sich die Frau mit den hochgesteckten Haaren. Gemeinsam mit ihrem Mann und den drei Kindern lebt sie von der Bedarfslandwirtschaft, treibt wie alle anderen auch ihre Rinder in einem Radius von rund einem Dutzend Kilometer von Weidefläche zu Weidefläche.
Die für den 12. Juli datierte Unterzeichnung der Verträge zwischen der Staatsanwaltschaft aus Salvador da Bahia, den Unternehmen hinter der Megafarm Estrondo und den Vertreter:innen der Dorfgemeinschaft Cacimbinhas und Gatos soll diese Art des Wirtschaftens auch für die Zukunft besiegeln, hofft Guedes da Silva Gomes: „Vor dem Sojaboom war das Leben hier ruhig, die Menschen kannten keine Angst.“
So, mit den Strukturen der traditionellen Landwirtschaft, möchte sie auch ihre Kinder aufwachsen sehen. Zehn Jahre nach Beginn der Verhandlungen ist die Unterzeichnung des Kompromisses mit den hinter Estrondo stehenden einflussreichen Sojabaronen für sie überfällig. „Warum es so lange dauert, darüber lässt sich nur spekulieren“, meint Batista Gomes und fährt fort: „Sicher ist, dass Estrondo beziehungsweise die Verantwortlichen dahinter unser Land gar nicht wollen, um hier Soja anzubauen. Dafür eignet es sich nicht – es soll als Schutzgebiet dienen“, so der rüstige Mann mit dem schnittigen Strohhut.
Das ergibt Sinn, denn laut dem brasilianischen Waldschutzgesetz müssen im Cerrado 20 Prozent der Fläche jeder Farm als Naturreservat ausgewiesen werden. Die laut offiziellen Zahlen 295.334 Hektar – rund 3.000 Quadratkilometer – große Megafarm, wollte diese gesetzlichen Vorgaben wohl erfüllen, indem sie sich die rund 77.000 Hektar Land im Flusstal des Rio Preto einverleibt, wo die Kleinbauern seit rund 150 Jahren leben.
Nun soll dieses Land stattdessen drei Kleinbauernorganisationen übertragen werden, die extra gegründet wurden, um den juristischen Vorgaben zu genügen, erklärt Mayr. Er war bei den langwierigen Verhandlungen mit der Staatsanwaltschaft aus Salvador da Bahia, der Estrondo-Delegation und den Leuten aus Cacimbinha dabei und ist leidlich zufrieden mit dem Kompromiss. Der sieht vor, dass die Megafarm 77.000 Hektar Fläche, die sie sich laut einem Gutachten des Nationalen Instituts für Kolonisierung und Agrarreform (Incra) illegal aus öffentlichen Ländereien angeeignet hat, an den Bundesstaat Bahia zurückgibt. Der wiederum übergibt davon 40.000 Hektar an die Kleinbauern aus Cacimbinha zur nachhaltigen Nutzung und erklärt die restlichen 37.000 Hektar zum gesetzlich geforderten Schutzgebiet.
Für das hinter der Megafarm stehende Unternehmensgeflecht hat der ausgehandelte Kompromiss durchaus Vorteile. Als wahrscheinlich gilt nämlich, dass strafrechtliche Ermittlungen zur Übernahme großer Flächen öffentlichen Landes durch Estrondo fallen gelassen werden. Gleiches könnte für die Abholzung größerer Flächen in der Region von Cacimbinha gelten, wo außerhalb des Tales alle Flächen in Anbauflächen für Soja, Mais und Baumwolle umgewandelt wurden. Dort wird mit Hightech und großen Mengen an Düngemitteln sowie Pestiziden, die in Europa längst nicht mehr zugelassen sind, das Maximum an Erträgen aus den Böden herausgeholt.
Wie lange das funktioniert, ist offen. Sicher ist, dass ein solches Agrarmodell diametral dem der Kleinbauern aus Cacimbinha gegenübersteht. Die erhalten die Savanne des Cerrado und das sei, so Batista Gomes, auch im Interesse der Regierung von Präsident Lula da Silva, der seit Januar 2023 im Amt ist.
Das sieht auch Amanda Santos Silva, die Umwelt- und Wasseringenieurin von 10envolvimento so. „Die neue Regierung hat sich zum Schutz des Amazonas und zu einer nachhaltigeren Wirtschaftspolitik bekannt – Brasilien soll grüner werden“, erklärt sie. Für die Afrobrasilianerin gehört auch der Schutz des Cerrado dazu, dem der agroindustrielle Soja-, Baumwoll- und Maisanbau auf mittlere Sicht das Wasser abgräbt. „Farmen wie Estrondo haben einen enormen Wasserbedarf. Der intensive, großflächige Anbau verbraucht mehr, als die sinkenden Niederschläge hergeben. Laut Studien droht auf mittlere Sicht ein Verwüstungsprozess“, sagt Santos Silva.
Deshalb könne das Abkommen, sollte es denn am 12. Juli unterzeichnet werden, Symbolcharakter entfalten, meint Mayr. Es könne Megafarmen wie Estrondo einen Dämpfer verpassen und der Auftakt dafür sein, den Cerrado zu schützen, hofft der Diakon. Allerdings ist er nicht sonderlich optimistisch, dass der Regierungswechsel die Dinge wirklich vorantreiben wird: „Zum einen regiert die Arbeiterpartei Lula da Silvas schon lange in Bahia, ohne dass Farmen wie Estrondo sanktioniert wurden. Zum anderen braucht die Regierung die Arbeitsplätze in der agroindustriellen Landwirtschaft.“
Auf der Homepage des Agronegócio Estrondo wird indes auf die positiven Ernteprognosen für Sojabohnen hingewiesen und darauf, dass das Unternehmen nicht nur 20 Prozent, sondern sogar 25 Prozent der Flächen unter Schutz gestellt habe – darunter die Flächen rund um Cacimbinha.
Warum das so sein soll, darauf erhält die taz auf Anfrage von dem Unternehmen allerdings keine Antwort. Sicher ist hingegen, dass Estrondo das ausgehandelte Abkommen am 12. Juli nicht unterzeichnen will. Den Grund hätten die Anwälte des Unternehmens weder den überraschten Gemeinden genannt noch der Entwicklungsagentur 10envolvimento oder der Staatsanwaltschaft in Salvador da Bahia, so Mayr.
Man brauche mehr Zeit, um die Situation zu bewerten, teilt Eliane Mendonça, eine Sprecherin von Estrondo, in einem Schreiben an die taz mit. Man arbeite derzeit an einem „Gegenvorschlag, um eine ausbalancierte und faire Transaktion durchzuführen“. Warum der Kompromiss nicht mehr tragbar sein soll, ließ Mendonça offen. Immerhin kündigt das Unternehmen an, die von den Gemeinden genutzten Flächen nicht anzurühren.
Mayr erwägt, noch einmal eine internationale Kampagne wie 2018/19 ins Leben zu rufen, um auf die zweifelhaften Praktiken von Estrondo aufmerksam zu machen. Ob das nötig sein wird, oder ob es noch zu einem Kompromiss im Sinne der Gemeinden kommt, wird sich bis zum 12. Juli zeigen.
Die Recherche wurde im Rahmen einer Pressereise der Christlichen Initiative Romero im Zuge des EU-Projekts „Our Food. Our Future“ organisiert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen