Laizität in Frankreich: Das französische Dilemma
Immer stärker wächst sich staatliches Misstrauen in Frankreich zum Generalverdacht gegen Muslim:innen aus. Wird die Laizität zum Kampfbegriff?
Ich grüße Sie, herzlich willkommen!“ Abdelhamid Khamlichi, 50, steht in einem lichten Gebetsraum der Al-Fath-Moschee in Noisy-le-Sec, nicht weit entfernt von der Pariser Stadtgrenze. Wir sprechen per Video-Interview. Khamlichi ist von Beruf Sozialarbeiter, seit 30 Jahren engagiert er sich im Gemeindeleben von Moscheen. Mittlerweile ist er Imam, leitet als Vorbeter die religiösen Belange der Moschee. Seit einigen Jahren wirkt er auch als Gefängnisseelsorger. Er spricht mit Häftlingen, die beim „Islamischen Staat“ (IS) waren, „die psychisch zerstört sind und keine Ahnung vom Islam als Religion haben“. Khamlichi versucht, friedliches Denken zu fördern – „viele von ihnen waren noch nie in einer Moschee“. Solche Menschen seien fast nur in den sozialen Medien unterwegs, vor allem dort passiere die Radikalisierung. „Die Moscheen“, so sieht es dieser Imam, „spielen dabei, zumindest in Frankreich, nur selten eine Rolle.“
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Khamlichi, ein zugewandter, kontaktfreudiger Mensch, verkörpert ein, in jener Schärfe, spezifisch französisches Dilemma. Er engagiert sich für eine humane, aufgeklärte Form des Islam. Doch was er tut, stößt zum Teil bei Staat und Gesellschaft auf Misstrauen, das sich nicht die Mühe macht, zwischen radikaler Einflussnahme und Dialogangebot zu unterscheiden. Immer stärker wächst sich jenes Misstrauen zum Generalverdacht gegen Muslim:innen aus. Der wird befeuert durch islamophobe Sendungen auf privaten TV-Kanälen wie „CNews“ – unter anderem mit dem rechten Querschläger und Figaro-Kolumnisten Éric Zemmour.
Auch das Gesetz, das die französische Nationalversammlung jetzt nach wochenlangen heftigen Debatten verabschiedet hat, wurzelt letztlich in der Furcht vor islamisch geprägter Einflussnahme auf die Gesellschaft – vor dem Hintergrund einer furchtbaren, islamistisch motivierten Attentatsserie seit 2015. Derzeit „Loi républicaine“ (republikanisches Gesetz) genannt, zielt diese Initiative der Parlamentsmehrheit von Präsident Emmanuel Macrons Regierungspartei LREM, die eigentlich alle weltanschaulichen und religiösen Gruppen adressiert, auf verschärfte Beobachtung und Sanktionierung islamischer Kulturvereine und Verbände. Ihnen unterstehen die Moscheen in Frankreich. Sie sind, ähnlich wie fast alle deutschen muslimischen Verbände, keine öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften und unterliegen dem Privatrecht. Auch die katholische und die protestantische Kirche sind im Nachbarland juristisch wie Vereine organisiert.
Gesetzlich, und das seit 1905, sind die Sphären der Religion und des Staates also strikt getrennt. „In der Realität angekommen, beginnen die Fragen“, so Éric Vinson. Der 50-Jährige ist pädagogischer Leiter des interreligiösen Programms Emouna an der Pariser Hochschule Sciences Po. „Es gibt hierzulande“, so Vinson, „keinen Konsens beim Thema Laizität.“ Den studierten Politikwissenschaftler beunruhigt, in welchem Zustand die französische Gesellschaft ist. „Ich sorge mich um mein Land. Wir dividieren uns gerade unversöhnlich auseinander, so wie die USA beim Thema Rassismus und Black Lives Matter.“ Der Islam müsse gleich behandelt werden wie alle anderen Religionen auch. Die immer wieder passierenden Attentate seien „furchtbar und unverzeihlich“, doch die übergroße Mehrheit der Muslime sei friedlich. „Der andauernde Aktionismus, das zur Schau gestellte Beschützertum Macrons vor dem Islam“, glaubt Vinson, „führt jedoch nur noch tiefer in eine gesellschaftliche Spirale der Angst.“
Imam Khamlichi hat vorletztes Jahr das Programm Emouna durchlaufen. Emouna bedeutet „Amen“ und wurde 2016 von Vertreter:innen aller größeren Religionsgemeinschaften Frankreichs gegründet. Das Ziel: mehr Wissen übereinander, Austausch und Diskussion der Religionen. Buddhisten, Juden und orthodoxe Christen, ebenso wie Katholiken, Protestanten und Muslime, die meist in Gemeinden arbeiten, besuchen gemeinsam die Veranstaltungen an der Sciences Po – Frauen wie Männer. Nach einem knapp dreiwöchigen Studienkurs, der trotz der rigiden laizistischen Vorgaben des Staates dann doch diskret mitfinanziert wird vom Innenministerium, erhalten die Teilnehmer:innen ein Zertifikat.
Éric Vinson, Leiter eines interreligiösen Programms
Von Emouna hat Khamlichi für sich und seine Aufgaben in der Moschee al-Fath viel mitgenommen. „Es war ein ganz unverstelltes Eintauchen in andere Religionen, ein ganz praktischer interreligiöser Dialog“. Endlich habe man hier offen, durchaus auch kritisch und stets vertrauensvoll miteinander sprechen können. Das, so Khamlichi, sei leider sonst höchst selten im öffentlichen Raum. Es herrsche ein Klima der Verunsicherung, „Muslime werden vielerorts stigmatisiert.“ Knapp 9 Prozent der Bevölkerung gehören, so das unabhängige Pew Research Center 2016, dem Islam an – rund 5,7 Millionen. In Deutschland sind es knapp 5 Millionen. Schätzungen gehen in Frankreich von 30.000 bis 40.000 gewaltbereiten Salafisten aus. Glaubende wie Säkulare sind unter den Muslim:innen, die Mehrheit von ihnen mit algerischen oder marokkanischen Wurzeln.
Auf dem Papier vertreten werden sie vom CFCM, dem Rat des muslimischen Kults. Er ist der große islamische Dachverband in Frankreich, 2003 auf Betreiben des damaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy gegründet – und von Anbeginn „zerstritten“, wie es Imam Khamlichi beschreibt. Seine These: Die aktuelle Regierung und Macron sprächen meist nicht mit den richtigen Leuten, „die einzelnen Verbände sind fast alle abhängig von ihren Heimatländern, werden von ihnen politisch gesteuert. Diese Verbandsmenschen lieben Frankreich nicht.“ Khamlichi kritisiert aber auch seine eigene Gemeinschaft. Viel zu selten engagierten sich gläubige Muslime sicht- und hörbar für einen fortschrittlichen Islam. Ein weiteres Problem sei, dass viele Leiter von islamischen Kulturvereinen wenig gebildet seien.
Was denkt der Imam über das „loi républicaine“, über die aktuelle Gesetzesinitiative der französischen Regierung? Er überlegt kurz, dann sagt er knapp: „Es ist ein Dokument des Misstrauens gegen uns Muslime.“ Der französische Staat habe bereits alle polizeilichen und juristischen Möglichkeiten, islamistischen Umtrieben ob im Netz, in der Moschee oder sonst wo nachzugehen und sie zu ahnden. Die Republik „braucht nicht mehr draufzusatteln, sie muss nur zielführender durchgreifen“.
Vieraugengespräch mit Macron im Élysée-Palast
So schätzt es auch Ghaleb Bencheikh, ein Franzose mit algerischen Wurzeln, Islamologe und Präsident der liberal eingestellten „Fondation d’Islam de France“ ein. Am Telefon stellt er glasklar fest: „Es gibt für den Islam keine wirklich zentralen Autoritäten – das sehe ich als Problem für die Auseinandersetzung mit dem Staat, nicht für den Reichtum der Religion. Der eine Islam existiert nicht.“ Der 60-Jährige, der letztes Jahr zum Vieraugengespräch mit Macron im Élysée-Palast eingeladen war, sieht gedankliche und handfeste Unschärfen bei der Haltung des Staatschefs zur Laizität.
Xavier Chavane, katholischer Priester
Der ging in seinem Wahlkampf 2017 rhetorisch noch mit einer entspannteren, den Islam proaktiv einbindenden Form der Laizität hausieren – um liberal Denkende für sich zu gewinnen. Davon ist heute bei ihm nichts mehr zu spüren. Bencheikh drückt es so aus: „Macron will einen Islam nach Maß. Aber wie passt dieser autoritär anmutende Wunsch mit der eigentlich strikten französischen Laizität und dem Ziel zusammen, sich aus allen Religionen herauszuhalten?“
Regelmäßig wirbt Bencheikh in den Medien für einen aufgeklärten Islam – „der Versuch, den Islam zu verstehen, heißt nicht, ihn zu entschuldigen“. Diesen Eindruck habe er aber bei den Regierenden – „sie wollen sich nicht darauf einlassen, genauer hinzuschauen“. Das, was derzeit in Frankreich passiere, sei auf gewisse Weise vergleichbar mit dem Kulturkampf Ende des 19. Jahrhunderts, als sich im „Guerre des deux France“ die katholische Kirche und säkulare Kräfte erst mal zerlegten, bevor sie dann 1905 das Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat aushandelten – das theoretische Fundament der französischen Laizität heute.
Nun stehen die Verfechter:innen einer drastischen, oft realitätsfernen Laizität (jene sind auch in der aktuellen Regierung zu finden) Menschen gegenüber, die am Beispiel Islam einen behutsameren Umgang mit den Religionen fordern. Wegen der IS-Attentate seit 2015 werden solche aber immer wieder der Nähe zum Terrorismus bezichtigt. Islamo-gauchistes heißt das socialmediataugliche Schimpfwort dazu, linke Socken, die sich mit Islamisten gemein machen würden. Ein harter Vorwurf, der offen geführte Diskussionen fast unmöglich macht. Bei den Gegner:innen der Islamophobie gibt es, jenseits der emphatisch und/oder rational Motivierten, aber auch ideologische, sogar antisemitisch tönende Scharfmacher:innen.
Das Geschachere um das Laizitätsgesetz von 1905
Ghaleb Bencheikh, der Islamologe, fordert unermüdlich einen „starken Islam-Diskurs auf sozialen Medien, der getrieben ist vom Verstand, nicht vom Dogma“. Das Konzept der Republik müsse weiterhin verbreitet, aber auch besser erklärt werden – „ohne Scheuklappen“. Éric Vinson, der pädagogische Leiter von Emouna, unterstützt diese Forderung. Für ihn hat das Konzept der strikten Laizität einen quasireligiösen Zug, der bereits nach der Französischen Revolution die Lücke füllte, die das damals abgeschaffte Gottesgnadentum kreierte. Er plädiert für Religionswissenschaften an staatlichen Unis. In Frankreich sind sie dort kein Fachgebiet. Vinson geht es nicht darum, Glaubensbekenntnisse weiterzugeben, sondern das Wissen über verschiedene Glaubensrichtungen. Sein persönlicher Aufreger ist die Tatsache, dass das laizistisch firmierende Frankreich auch die Gehälter der Lehrkräfte an konfessionellen Schulen zahlt. Sie machen fast 20 Prozent aller Schulen aus, 95 Prozent davon sind katholische, unter den übrigen sind auch muslimische. Ein Deal, der letztlich auf das Geschachere rund um das Laizitätsgesetz von 1905 zurückgeht.
Als Präsident Macron Ende letzten Jahres in die Pariser Peripherie reiste, wusste er, warum er schon zum zweiten Mal dorthin kam. Les Mureaux heißt der Ort, kurz Mureaux, und vielleicht ist der Ort ein Vorzeigeort. Einen, den man nicht so schnell vergisst. Weil es hier nicht so abgehängt wirkt wie in manch anderen französischen Vorstädten, den Cités. Mureaux mit einer „Éco-Cité“, die seit 2010 mit über 400 Millionen Euro öffentlicher Förderung entstanden ist: Hier hielt Macron im Oktober eine seiner höchst präsidiablen Grundsatzreden. Sie geriet zu einer Abrechnung mit dem separatistischen Teil des Islam. „Das Problem“, sagte er damals, „ist nicht die Laizität“, das Problem „ist der radikale Islamismus“, der eine „Parallelgesellschaft“ erschaffen wolle. Mit vereinten Kräften müsse es nun um einen „Islam des Lumières“ in Frankreich gehen, einen Islam der Aufklärung, progressiv und liberal. Fromme Wünsche, die heute noch so klingen, als sei solch ein Islam die Erfindung von Macron – vor dem Hintergrund kritischer Passagen seiner Rede: „Wir haben unseren Separatismus selbst geschaffen. Unsere Republik hat die Ghettoisierung zugelassen, Ballungsräume für Elend und Schwierigkeiten geschaffen.“
Mureaux hat rund 33.000 Einwohner:innen, es gibt einen gewachsenen Ortskern und ebenjene Cité, in der zirka 15.000 Menschen leben. In den neunziger und nuller Jahren war sie berüchtigt. Die dritthöchste Kriminalitätsrate im Großraum Paris; Dutzende Dschihad-Salafisten reisten von dort Richtung Syrien in den sogenannten heiligen Krieg. Derzeit gibt es keine öffentlichen Hinweise mehr auf IS-Anhänger aus Les Mureaux.
„Solche Menschen haben wir verloren“, konstatiert Dieynaba Diop, Kulturreferentin der Gemeinde und Sprecherin der Parti Socialiste (PS). „Aber in den letzten zehn Jahren ist hier Positives passiert.“ Die Räume draußen hätten sich geöffnet nach der Umgestaltung. „Und es gibt mehr Platz in den Köpfen, mehr Raum für Dialog.“ Man warte hier nicht auf den Staat, deshalb komme Macron ja „auch gerne bei uns vorbei“. Diop lacht. Seit ihrem sechsten Lebensjahr ist die gebürtige Senegalesin zu Hause in Mureaux, lange Zeit lebte die jetzt 47-Jährige mit ihren Eltern in der Siedlung, die heute Cité Molière heißt. Die studierte Linguistin macht seit über zehn Jahren Politik. Im lichtdurchfluteten Rathaus zeigt die Muslimin auf eine Luftbildaufnahme. „Da in der Cité wohnte ich in einer hohen Mietskaserne und wusste als Kind nicht mal, dass meine Heimat nahe der Seine liegt.“ Diop schüttelt energisch den Kopf. Sie hat einen weiten Weg gemacht, viel erreicht – und sie ist geblieben.
Wie verhindert man religiösen Fundamentalismus?
Xavier Chavane, 52, hat Mureaux „schweren Herzens“ im Sommer 2019 verlassen. Der katholische Priester leitete dort 13 Jahre lang eine Gemeinde, schon davor war er als Seelsorger für diverse Cités zuständig. Immer noch arbeitet er mit der muslimischen Gemeinschaft im Département Yvelines zusammen. Einer seiner ersten Besuche führte ihn in Mureaux in die Moschee Essalam, zum dortigen Imam Mokrane. „Es war anfangs ein höfliches, ein intellektuelles Gespräch, wir tasteten uns heran an die Auslegungen unseres Glaubens.“ Chavanes blaugraue Augen leuchten in diesem hellen Zimmer seiner neuen Pfarrerei in Sartrouville, ebenfalls ein Pariser Vorort.
Zusammen mit anderen Muslim:innen und Christ:innen gründete sich in Mureaux „Bien vivre ensemble“, ein interreligiöser Verein des guten Zusammenlebens. „In meinen Anfangsjahren gab es viele Ausreisen junger Männer nach Syrien zum IS – meine muslimischen Kollegen sorgten sich damals wie heute, dass ihnen die Jugend entgleitet.“ Chavane kann Arabisch lesen, er sieht, was auf Chats läuft, ob Wahhabiten- oder Salafisten-Schriften in Bibliotheken liegen. Chats professionell zu moderieren und, falls nötig, juristisch zu verfolgen; junge Muslime „auf ihrer Suche nach Lebenssinn und Halt aktiv zu begleiten“, das hält er für zielführender, als Moscheen zu durchforsten.
Wie verhindert man religiösen Fundamentalismus jeglicher Couleur? „Es braucht den Austausch, die Brücke“, sagt Chavane. Als Kind wollte der Priester am liebsten ein Café führen, „ich bin ein Genießer“. Heute aber dominiere nicht der Genuss, sondern oft die Angst, sich mit anderen Menschen auseinanderzusetzen. Kollektiv gesehen sei Frankreich in einer veritablen Krise, „es geht uns nicht gut“. Die Laizität sei in ihrer jetzigen Form das Ergebnis einer vergangenen Zeit. Der Staat lege sie „zu strikt, zu unbarmherzig, zu historisch“ aus. Selbst Papst Franziskus habe schon gewarnt, erzählt Chavane, plötzlich schmunzelnd: „Ihr übertreibt es ein bisschen mit eurer französischen Laizität“, so der Heilige Vater, „haltet euch nicht so viel mit Formen auf!“
Chavane nickt mit dem Kopf, ja, die Fronten seien verhärtet. „Es sind Fragen, die die ureigene Identität, aber auch die französische Dekolonialisierung betreffen.“ Die gesellschaftliche Situation findet er paradox: „Wir sind in so vielem so fortgeschritten, aber in unseren Identitäten verhaken wir uns gnadenlos.“ Manchmal zelebriert er interreligiöse Hochzeiten, wenn etwa eine Christin einen liberalen Muslim heiratet. Der Priester schließt die Augen, erinnert sich an eine Feier, noch nicht lange ist sie her. „Das Gedicht, das der Bräutigam auf Arabisch durch unsere Kirche schickte, das hat noch lange in mir nachgehallt.“
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