Lage der Opposition im Bundestag: Die Suchenden
Linke und Grüne verzweifeln über fehlende Kernthemen, Personal und Zwistigkeiten. Wie wollen sie das ändern?
BERLIN taz | Die Opposition, freut sich ein SPD-Spitzenpolitiker, sei schwach wie keine zuvor. In Fachausschüssen, höhnt der Genosse, der lieber namenlos bleiben möchte, säßen mitunter ahnungslose Neulinge. Ein SPD-Minister macht sich bereits Sorgen um die parlamentarische Demokratie. Statt ständig übereinander herzufallen, müssten Grüne und Linkspartei dringend die Regierung schärfer angehen. Fast klingt Mitleid mit der Konkurrenz an – die Höchststrafe im politischen Geschäft. Ist das nur die Selbstgefälligkeit der Großen Koalition? Oder sind Linke und Grüne nach dem ersten halben Jahr Oppositionsarbeit wirklich in so desolater Verfassung?
Gregor Gysi steht am Montagnachmittag im Reichstag und schaut gut gelaunt wie fast immer in die TV-Kameras. Noch zwei Wochen, dann beginnt die Sommerpause. Am Mittwoch wird er, formal Oppositionsführer, Kanzlerin Angela Merkel in der Generaldebatte als Erster Kontra geben. Dafür läuft sich der Fraktionschef warm: „Die soziale Spaltung nimmt zu“, sagt er. Und: „Die Eurokrise kommt in vollem Umfang bei uns an.“
Bekannte Sätze, die bekannte Rolle der Linkspartei als soziales Gewissen der Nation. Doch die Große Koalition hat inzwischen zwei Themen der Linken gekapert: Rente und Mindestlohn. Jahrelang haben die Genossen damit Regierungen vor sich hergetrieben, nun ist die Luft raus.
Immerhin kann Gysi das Komplizierte einfach machen. Er fragt: „Warum soll die Lidl-Verkäuferin mit ihren Rentenbeiträgen die Mütterrente bezahlen, aber ich und Volker Kauder nicht? Verstehe ich nicht.“ Keiner im Bundestag forderte Merkel und Vizekanzler Sigmar Gabriel in den vergangenen sechs Monaten besser als Gysi. Und: Niemand kann die Widersprüche der Linkspartei so gekonnt versöhnen wie Gysi, oder zumindest lustig darüber hinwegplaudern.
Revanche und Beleidigungen innerhalb der Linkspartei
Die Frage ist, wie lange er diese Rolle noch erfüllt. Nach der Wahl gab es in einem Berliner Restaurant ein Krisentreffen der Linksparteispitze. Die linke Flügelfrau Sahra Wagenknecht drängte in die erste Reihe. Gysi gab nach. Im Herbst 2015 soll er, so die Verabredung, für Wagenknecht und den Ostrealo Dietmar Bartsch Platz machen. Wird er? Und vor allem: Was dann?
Bereits jetzt geht es intern wild her. Der Zwist tobt nicht etwa zwischen den Linksfundamentalisten und Ostpragmatikern, sondern zwischen Reformern des Forums demokratischer Sozialismus (FdS) um Stefan Liebich und der Parteichefin Katja Kipping.
Der Streit hat etwas von einer Ehekrise im Endstadium. „Wenn das so weitergeht, halten uns viele für nicht mehr wählbar“, fürchtet der Brandenburger Linksparteimann Thomas Falkner, inzwischen aus dem FdS ausgetreten. Dort spiele „Revanche“ für die Niederlage von Dietmar Bartsch gegen Katja Kipping vor zwei Jahren eine zu große Rolle. Revanche, Rache, Beleidigungen. Damit hält sich die Linkspartei gerade auf.
Auch bei den Grünen ist die Stimmung nach dem ersten Halbjahr angeknackst. Einige Medien haben sich auf ihren Fraktionschef eingeschossen: Anton Hofreiter, der im Herbst den Posten von Jürgen Trittin an der Fraktionsspitze übernahm, hält als Sündenbock für vieles her, was schieflief. Anders als die Linksfraktion mit ihrem erprobten Frontmann Gysi haben die Grünen den Generationswechsel schon vollzogen. Seither lasten enorme Erwartungen auf „Toni“. Hofreiter versprach, der taumelnden Bundestagsmannschaft eine gewisse Unverwechselbarkeit zu garantieren mit seiner kumpeligen Art, der bayerisch-deftigen Sprache und der aus der Zeit gefallenen Langhaarfrisur.
Niemand füllt das Vakuum
Doch der Bayer blieb blass, seine erste große Rede im Bundestag wirkte ungeübt, der Neue kassierte zunehmend Spott und Dresche. Ein Satiremagazin besang ihn als „Kleinen grünen Hanswurst“, dann kam auch noch die Zweitwohnungssteuer-Affäre – Hofreiter hatte vergessen, diese zu bezahlen.
Die drei anderen aus dem grünen Spitzenquartett – Kofraktionschefin Katrin Göring-Eckardt sowie die Parteichefs Simone Peter und Cem Özdemir – duckten sich dankbar weg. Denn Hofreiter lenkte als Blitzableiter vortrefflich von ihren Schwächen und den inhaltlichen Lücken bei den Grünen ab.
Die Lage ähnelt der nach einer Palastrevolution. Die gefürchteten Herrscher sind weg. Endlich Freiheit für alle Kleingehaltenen. Doch nach der ersten Euphorie wird klar: Niemand kann das Vakuum füllen. „Selbst bei Grünen ist ganz tief der Wunsch nach Führung verwurzelt“, sagt ein einflussreicher grüner Landespolitiker. Seit Trittins Rückzug fehle seiner Partei „die eine Person, die intellektuell und strategisch vorangeht“.
Wer vorangehen will, muss eine Route kennen. Doch auch die ist unklar. Im Parlament haben sie sich einen „konstruktiven“ Oppositionskurs verordnet. Also keine Kritik um der Kritik willen. Noch schriller als die Linksfraktion ginge es ohnehin nicht. Inzwischen jedoch hört man den Spitzenleuten an, wie sie die Regler hochdrehen.
Mangelnde Haltung trifft auf personelle Probleme
Am Dienstag, dem Tag vor seiner Rede in der letzten Generaldebatte vor den Parlamentsferien, tritt Hofreiter ziemlich krachledern auf. Ein paar Flure weiter im Reichstag spitzt sich gerade der Streit um die Energiewende zu. Hofreiter überbietet sich mit Tiraden: frech, unverschämt, skandalös sei der Umgang der Regierung mit dem Parlament. „Wir können nicht verhindern, dass die Unsinn beschließen“, poltert er. „Aber wir können immerhin dafür sorgen, dass der Unsinn sichtbar wird.“
Doch auch bei ihrem früheren Knallerthema haben es die Grünen schwer. Sie verorten sich irgendwo zwischen Mitmachen und Opponieren, und das ist keine einfache Lage. Der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann erklärte im Frühjahr, die Grünen müssten „versuchen, die Energiewende im Konsens voranzutreiben“. Die Bundesländer hatten zuvor stundenlang im Kanzleramt über das EEG-Gesetz verhandelt. „Das ist uns heute gut gelungen“, versicherte Kretschmann.
Zwölf Stunden später klang das bei Hofreiter komplett anders. Die Reform bleibe falsch, schimpfte er: „Das Tempo der Energiewende wird verringert, die Ausbauziele sind zu niedrig.“ Was ankam war: Die Grünen haben bei ihrem Kernthema keine klare Haltung.
Auch personell ist es schwierig. Wichtige Energieexperten flogen aus dem Bundestag. Andere wechselten die Seiten – darunter Rainer Baake, früher als Staatssekretär bei Jürgen Trittin Architekt grüner Energiepolitik. Im Jahr 2013 holte ihn SPD-Minister Sigmar Gabriel wieder als Staatssekretär – was allzu wütenden Protesten der Grünen die Glaubwürdigkeit nimmt.
AKW-Protest ging immer
Früher half den Grünen notfalls ihr Anti-Atom-Selbstverständnis. Doch der AKW-Protest hat sich erledigt. Ein neues Herzensthema ist nicht in Sicht. „Da gibt’s ein großes Spektrum an Ideen und Möglichkeiten“, sagte Hofreiter kürzlich bei einem Podiumsauftritt. Übersetzt heißt das: Den Grünen fehlt, wie der Linkspartei, das identitätsstiftende Großthema. Flügelstreitereien schwelen vor sich hin. Nachdem die Partei kürzlich einen Fahrplan zur Kanalisierung des Steuerkonflikts verabschiedete, zoffen sich Spitzengrüne jetzt halböffentlich über dessen Auslegung. Landesfürsten beklagen, die Partei trage zu viele ungeklärte Fragen mit sich herum, die eigentlichen Kontroversen würden nicht ausgetragen.
„Wir sind noch nicht aus dem Gröbsten raus“, konstatiert Malte Spitz, 30 Jahre, Nachwuchsvertreter im einflussreichen Parteirat. Man sei in der Findungsphase, „wer wir sind und wohin wir wollen“. Seine Partei brauche jetzt grundsätzliche Diskussionen: „Mit welcher Haltung treten die Grünen auf? Welche Inhalte stellen wir nach vorne?“
Kein Wunder, dass bei einer Umfrage nach der Europawahl im Mai 70 Prozent der Wähler zugaben: Sie kapieren gerade nicht, wofür die Grünen stehen. Die Fraktion überprüft inzwischen ihre inhaltlichen Prioritäten. Nach der Sommerpause wird sie vermutlich einen weiteren Schwerpunkt setzen. Ein „mögliches Thema“, sagt Anton Hofreiter, sei das umstrittene Freihandelsabkommen TTIP.
Dabei kann es ja auch gut laufen, so wie zuletzt im Untersuchungsausschuss zur NSA-Affäre. Der grüne Altlinke Christian Ströbele und Realo-Fraktionsvize Konstantin von Notz treiben munter die Regierung vor sich her, flankiert von der Linkspartei-Obfrau Martina Renner. Das Gezerre um Edward Snowden macht seit Wochen Schlagzeilen. Inzwischen bereiten die Fraktionen gemeinsam eine Klage beim Verfassungsgericht vor.
Eine solche Kooperation ist die Ausnahme. Es fehle oft ganz einfach an „Absprachen in den Ausschüssen, um zusammen effektive Oppositionsarbeit zu machen“, analysiert Linkspartei-Mann Liebich. Die Zusammenarbeit mit den Grünen müsse sich verbessern. Das klingt nach einer Selbstverständlichkeit. Doch spätestens seit der Ukrainekrise ist es das Gegenteil davon.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“
Fall Mouhamed Dramé
Psychische Krisen lassen sich nicht mit der Waffe lösen
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!