Labour-Experte über britischen Premier: „Starmer wird nicht in Erinnerung bleiben“
Nach einem Jahr an der Regierung ist die Labour-Partei in den Umfragen abgeschmiert. Das liegt auch an ihrer Politik der Mitte, sagt Experte Christopher Massey.

taz: Herr Massey, seit Labours Wahlsieg am 4. Juli 2024 ist nun ein Jahr vergangen. Die Partei ist in den Umfragen abgestürzt, und kein Premierminister war nach einem Jahr unbeliebter als Keir Starmer. Was ist da schiefgegangen?
Christopher Massey: Labour wurde 2024 als pragmatische Partei der linken Mitte gewählt. Bevor er 2020 Parteiführer wurde, war Keir Starmer nicht weit von Jeremy Corbyn entfernt. Er versprach Verstaatlichungen, Besteuerung von Reichen und Freizügigkeit in der EU. Mit seiner Übernahme der Parteiführung machte dies Platz für einen managementorientierten, pragmatischen, technokratischen und zentristischen Politikstil. Das half, die Wahl zu gewinnen, aber ist nun Teil der Herausforderung. Starmer gewann als Politiker, der in Sachen Finanzen verantwortungsbewusst war. Doch genau in der Sekunde, in der er an die Macht kam, wurde ihm das zum Nachteil.
taz: Weil Labours Werte nicht mehr klar erkennbar sind?
Massey: Schon in der Opposition wollte Starmer keine großen Versprechen machen. Er sprach sich für eine Begrenzung der Zuwanderung aus – ein Thema der Rechten, das die britische Politik seit Jahren prägt. Gleichzeitig vernachlässigte er klassische Labour-Themen wie Renten oder das Gesundheitssystem. Der verstorbene Labour-Historiker Lewis Minkin hat mal gesagt, dass Tony Blair Labour der Linken entrissen und in eine abgeriegelte Grabkammer gesteckt hat. Starmer stellt nun zusätzlich bewaffnete Wächter vor die Grabkammer.
taz: Ist das der Grund für Labours Schwäche ein Jahr nach der Wahl und den Aufstieg von Reform UK, Nigel Farages Partei?
Massey: Ja, aber Labour hofft, dass die Wähler bei der nächsten Wahl doch wieder zwischen den beiden großen Parteien entscheiden – Labour oder den Konservativen. So war es seit über 100 Jahren.
taz: Teesside im Nordosten Englands, wo Sie tätig sind, war ein Kerngebiet der konservativen „Levelling Up“-Politik unter Boris Johnson, die staatliche Investitionen in abgehängte Industrieregionen vorsah. Können die Wähler:innen hier einen Unterschied zwischen Labour und den Tories erkennen?
Massey: Ich kann den Unterschied sehen, die Wähler wohl weniger. Labour versucht, Gelder fairer und besser umzuverteilen. Die Tories schufen ein System, wo arme Gegenden um Finanzspritzen konkurrieren mussten. In Eston, Redcar, wo ich Gemeinderat bin, warfen die Tories 20 Millionen Pfund hin, begleitet von großen Schlagzeilen und einem Banner in der Stadtmitte: „Leveling Up vollbracht“. Das passiert unter Labour nicht. Die Partei würde sagen: Wir geben euch 20 Millionen, aber es wird 20 Jahre dauern.
taz: Gibt es innerhalb von Labour Vorläufer von Starmers Kurs?
Massey: Harold Wilson [Premierminister 1964–70 und 1974–76, d. Red] war Keir Starmer ähnlich, aber er machte der Linken gelegentlich Zugeständnisse. Starmer bietet nur die Wiederverstaatlichung der Bahn und vage Hoffnungen, dass Labour in der Zukunft regionale Dienstleistungen verstaatlichen könnte. Gleichzeitig traf seine Regierung unpopuläre Entscheidungen, welche insbesondere schwächere Bevölkerungsschichten trafen, etwa die Abschaffung der Heizkostenzulage für Rentner oder die Kürzung der Kindergeldzuschüsse für größere Familien. Wähler empfinden nicht, für derartige Politik Labour gewählt zu haben. Starmers Team glaubt, finanzpolitische Glaubwürdigkeit sei entscheidend. Doch selbst moderate Abgeordnete von Labour sehen darin eine weitere Abschottung in der „Grabkammer“. Optisch ist das schlecht, man kann vielleicht 10 Abgeordnete aus der Fraktion werfen, aber nicht 100.
taz: Wie lässt sich Labours Bilanz bei Wahlen verkaufen?
Massey: Bei den Kommunalwahlen im Mai, die für Labour schlecht liefen, war das Programm dünn. Es versprach Verbesserungen, aber ohne Substanz. Wenn Labour über Kürzungen der Tories und bessere Umverteilung spricht, ist das nicht besonders sexy. In Labour-Hochburgen wie Newcastle oder Durham machen die Menschen für die Kürzungen der letzten 15 Jahre nicht die konservative Zentralregierung verantwortlich, sonden Labour-Bürgermeister vor Ort. Fortschritte werden hier nur langsam sichtbar werden, mit mehr staatlichen Angestellten und Dienstleistungen.
taz: Was wird Labour versuchen?
Massey: Ich denke, dass Labour zur Halbzeit der Legislaturperiode die Geldbeutel wieder etwas lockern wird, so wie es alle Parteien tun. Die Hoffnung ist, dass sie bis dahin bewiesen haben, dass sie verantwortungsvoll mit den Finanzen umgehen können, gerade weil das früher immer ein Argument gegen Labour war. Doch in Teesside sehe ich, dass die rechte Mitte nicht verschwunden ist. Hier leben Menschen, die mehr weiß sind, weniger verdienen, weniger gebildet sind und mehrheitlich für den Brexit stimmten. Viele von ihnen haben sich den Tories oder Reform UK zugewandt.
taz: Keir Starmer sieht Nigel Farage als seinen Hauptgegner …
Massey: Eine Umfrage zeigt, dass nur 4 Prozent der Reform-UK-Wähler sich vorstellen können, jemals wieder Labour zu wählen. Wieso sollte man überhaupt versuchen, diese Wähler anzusprechen? Wäre es nicht besser für Labour, sich in Richtung einer Partei der städtischen Akademiker zu entwickeln?
taz: Wie, glauben Sie, wird man in der Zukunft über die Regierung Starmer sprechen?
Massey:Keir Starmers Labour hat zwei Dinge geliefert: institutionelle Veränderungen in der Partei und Veränderungen im öffentlichen Bild. Die Modernisierung nach Corbyns Niederlage 2019 war erfolgreich. Doch dieser Erfolg könnte die Partei in falscher Sicherheit wiegen. War der Wahlsieg 2024 ein Ergebnis von Labours Glaubwürdigkeit oder der Schwäche der Konservativen? Ich denke nicht, dass Starmer als Vorbild in Erinnerung bleiben wird wie Tony Blair. Auch wird man seine Amtszeit nicht mit der großen Zeit nach 1945 vergleichen. Die nächste Parteiführung könnte eher wieder Abstand von der Politik der Mitte nehmen.
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