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Kritik am westlichen LebensstandardHaupt­dar­stel­le­r*in im Ego-Film

Wir wollen immer nur mehr. Doch ein Wandel kann nur beginnen, wenn wir verstehen, dass unser Mehr jemand anderes Weniger ist.

Haltung als Selling Point, gute Produkte, guter Lifestyle, gute Message, aber völlig inhaltsleer Foto: Jordi Clave/EyeEm/getty

D ie meisten Menschen verstehen sich als Prot­ago­nis­t*in­nen ihres Lebens. Das ist sicher nicht nur in wohlhabenden, individualisierten Gesellschaften so, aber vermutlich mehr, sobald ein Lebensstandard erreicht ist, der keinen ständigen Kampf um das Grundlegendste bedeutet. Ich starte von mir in die Welt, du von dir, sie von sich. Wir sind also Protagonist*innen, und als solche hoffen wir, alles haben zu können.

Das ist ein Versprechen des Hauptdarstellertums: Ich lebe, leide, mein Herz bricht, mein Konto auch, alles geht kaputt, ich werde zum Arschloch, lerne eine Lektion, bessere mich, nebenbei verbessere ich noch die Welt, dann belohnt mich das Universum, in dessen Zentrum ich stehe – weil ich das eben verdient habe. Dabei sehe ich sehr gut aus. Dazu Filmmusik.

Wir guten Menschen, denen Gutes widerfährt, natürlich ist das eine Erzählung. Eine sehr mächtige, profitable. Und eine absurde, wo wir doch wissen und ganz real spüren könnten, dass wir längst zu viel haben, dass wir auf Pump leben, dass unser Mehr jemand anderes Weniger ist.

Es ist kaum noch etwas übrig von dem seichten Vorabendfilm, in dem es doch um uns gehen sollte, mit Happy End unter Geranien. Trotzdem können ich, du, sie nicht loslassen von der Idee, dass es im Kern zuerst um uns geht und dann erst um irgendeine Sache. Das verkaufen wir uns selbst und wir kaufen es anderen ab. Und das gilt nicht nur für populistische Ministerpräsidenten, die strategisch Phrasen wie „Umerziehung“ bemühen, um Stimmung gegen Wandel zu machen.

Kapitalismus gewinnt immer

Politische Kämpfe brauchen Aufmerksamkeit. Also machen sie Deals, und wer Deals macht, macht oft Werbung. Haltung als Selling Point, gute Produkte, guter Lifestyle, gute Message. Gut. Hier sind 15 Prozent Rabatt mit dem Code „wearefuckedbutyoucanstillhaveitall“.

Das Problem dabei ist gar nicht so sehr, dass wir schöne Dinge kaufen und manche ihren Lebensunterhalt mit Werbung bestreiten. Das Problem ist eher, dass wir glauben, in der Zweckbeziehung von politischem Inhalt und Werbung könnte der Wandel gewinnen. Dabei gewinnt der Kapitalismus. Immer. Weil es nicht seine Spielregeln sind, die sich verändern, weil nicht er sich anpassen muss.

Er kann sich alles einverleiben, selbst die radikalsten Anliegen, er kaut sie durch und spuckt sie als Ware wieder aus. Wir haben die nächste Illusion erschaffen, in der fast alles bleibt, wie es ist, und wir uns dabei trotzdem als gute, informierte, politisch wirksame Menschen inszenieren. Das ist das neue Alles, was es zu haben gilt.

Manche Dinge vertragen sich nicht, revolutionäre Anliegen und systemerhaltende Spielregeln zum Beispiel. Also sind wir enttäuscht, wenn wir schöne Dinge von klugen Leuten kaufen, aber trotzdem nicht alles kriegen – die bessere Welt, das glitzernde Leben, und das bessere Gewissen. Also warten wir auf das Universum. Dabei sind wir doch die Protagonist*innen.

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Lin Hierse
taz-Redakteurin
Lin Hierse ist Redakteurin der wochentaz und Schriftstellerin. Nach ihrem Debüt "Wovon wir träumen" (2022) erschien im August ihr zweiter Roman "Das Verschwinden der Welt" im Piper Verlag. Foto: Amelie Kahn-Ackermann
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4 Kommentare

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  • Wir leben hier im Westen im Zeitalter der Ich-AG und des Ego-Films, das hat die Autorin gut erkannt. Das Universum wird mich aber sicher nicht belohnen, denn ich stehe nicht im Zentrum. Vor wenigen Tagen wurden die ersten Bilder des James Webb Teleskops veröffentlicht und lassen mich einmal mehr staunen über die Größe, Tiefe und Schönheit des Weltalls und der Schöpfung. Vielleicht hilft so ein Perspektivwechsel dabei, sich selbst etwas weniger wichtig zu nehmen?

  • Bei dem Film dürfte es sich wohl um ein Drama handeln, das bekanntermaßen nicht durch die Grausamkeit der dargestellten Ereignisse gekennzeichnet ist, sondern dadurch, dass diese gleichermaßen vorhersehbar wie unabwendbar sind.



    Eine Haltung die sich selbst kompromisslos ins Zentrum stellt und eigene Interessen ohne jede Rücksicht auf Andere durchsetzt dürfte in der Welt auf die wir derzeit zusteuern durchaus vorteilhaft sein.

  • 9G
    95820 (Profil gelöscht)

    „Dabei sind wir doch die Protagonist*innen.“ Ich fasse mal zusammen: Hollywood schreibt die Drehbücher und der Kapitalismus führt Regie. „Er kann sich alles einverleiben, selbst die radikalsten Anliegen, er kaut sie durch und spuckt sie als Ware wieder aus.“ [oder als „Event“]



    Welch ein toller Text. Per Ich-Bezug und ohne Namen zu nennen die Transformations-Apologet:innen aus der aktuellen Politik entlarvt, die so gut aussehen beim Schaulaufen. Mein Herz blutet nicht. Es hüpft.

  • Und gleichzeitig sind auch wir nur mehr NPCs in jemand Anderes Spiel des Lebens.



    Oder Lemminge.