Kritik am EU-Mercosur-Abkommen: „Das Abkommen bedroht die Wälder“
Das EU-Mercosur-Abkommen untergrabe Präsident Lulas Pläne zum Stopp der Entwaldung, meint Yannick Jadot. Es könnte die Rückkehr Bolsonaros fördern.
taz: Herr Jadot, Brasiliens Präsident Lula da Silva hat eine radikale Wende der Umweltpolitik versprochen, erst letzte Woche legte seine Regierung einen ambitionierten Plan zum Stopp der Entwaldung vor. Ist das nicht eine gute Grundlage für die Ratifizierung des EU-Mercosur-Abkommens?
Yannick Jadot: Für mich gibt es keine Verbindung zwischen der Notwendigkeit, die Entwaldung und den Klimawandel aufzuhalten, und dem Abkommen. Der einzigen Link, den ich sehe: der steigende Export von Rindfleisch, Soja, Geflügel, Zuckerrohr und Ethanol. Das wird den Druck auf die Wälder erhöhen, nicht nur in Amazonien, sondern auch in anderen Biomen wie dem cerrado.
ist französischer Umweltaktivist und Politiker der Europe Écologie-Les Verts (EELV). Er sitzt im Europäischen Parlament.
Der Feuchtsavanne im Südosten Brasiliens.
Diese Region ist durch die Viehwirtschaft und den Sojaanbau in akuter Gefahr. Ich bin davon überzeugt, dass Lula und Umweltministerin Marina Silva die Abholzung stoppen wollen. Aber das Abkommen bedroht die Wälder. 2023 darf kein Handelsvertrag ratifiziert werden, der Klima, Umwelt- und Menschenrechte unter den Abbau von Zöllen stellt.
Was sind Ihre Hauptkritikpunkte?
Das Abkommen wurde vor fast einem Vierteljahrhundert entworfen. Seit den ersten Verhandlungen vor mehr als 20 Jahren wurden Regenwaldflächen in der Größe Spaniens und Portugals abgeholzt. Dieses Abkommen setzt weiterhin auf ein exportorientiertes Agrarmodell, das ungleiche Landverteilung, Armut und Lebensmittelunsicherheit zur Folge hat. Und es steht auch Lulas Plänen diametral gegenüber, das Land zu industrialisieren. Alle Studien zeigen, dass das Abkommen negative Auswirkungen für die Industrie und die Arbeitsmarktentwicklung hat.
Verhandlungen zur größten Freihandelszone der Welt begannen schon vor fast 25 Jahren. Angesichts geopolitischer Veränderungen, wachsenden Bedarfs an seltenen Erden für die Energiewende und dem Regierungswechsel in Brasilien, will die EU Kommission das Abkommen mit den Mercosur-Staaten bald zu Ende bringen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen warb dort vergangene Woche erneut dafür. Die Mercosur-Länder beraten derzeit über eine Zusatzerklärung, die Waldschutz und Nachhaltigkeit im Abkommen stärken soll. Die Kommission will damit Mitglieder besänftigen, die das Abkommen weiterhin kritisieren, Frankreich und die Niederlande etwa. Sie hofft auf Einigung beim Gipfeltreffen mit den lateinamerikanischen Ländern in Brüssel Mitte Juli. (lvr)
Wieso denn das?
Der freie Zugang von europäischem Milchpulver gefährdet beispielsweise Kleinbauern in Brasilien. Auf der anderen Seite werden Soja und Fleisch aus Südamerika dramatische Auswirkungen für europäische Bauern haben. Außerdem: In Brasilien sind 150 Pestizide im Umlauf, die in der EU verboten sind. Dieses Agrarmodell ist also nicht nur schädlich für die Umwelt und die Gesundheit in Brasilien, sondern auch für europäische Konsumenten.
Aufgrund der Kritik wurde eine Zusatzvereinbarung für mehr Nachhaltigkeit und den Schutz der indigenen Bevölkerung nachgelegt. Sie nennen das „Greenwashing“. Warum?
Ich finde, wir müssen erneut über das Handels- und Nachhaltigkeitskapitel des Abkommens diskutieren. Es muss Umsetzungs- und Sanktionsmöglichkeiten geben, dazu trägt die Zusatzvereinbarung aber in keiner Weise bei.
Mögliche Sanktionen sind ein wunder Punkt. Bei seinem Treffen mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte Lula, dass eine Partnerschaft auf Vertrauen und nicht auf „Sanktionen“ aufgebaut sein sollte. Im Subtext wirft er der EU neokoloniales Gebaren vor. Können Sie das verstehen?
Nein. Wenn es um die größte Aufgabe der Menschheit geht, nämlich den Klimawandel, muss es Vertrauen geben, das ist richtig. Aber was machen wir, wenn Bolsonaro in drei Jahren zurück ist? Das EU-Mercosur-Abkommen soll ja Jahrzehnte überdauern. Es ist unwahrscheinlich, dass Lula und Marina Silva so lange im Amt sein werden, auch wenn wir uns das wünschen würden. Wenn in ein paar Jahren jemand wie Bolsonaro zurück ist, stehen wir vor den gleichen Problemen. Nochmal: Ich glaube, dass Lula und Teile seiner Regierung tatsächlich dem Klima und den Wäldern verpflichtet sind. Die Betonung liegt jedoch auf Teile, denn die Koalition ist fragil, es gibt wenige gemeinsame Ziele. Der kleinste gemeinsame Nenner war es, Bolsonaro loszuwerden.
Befürworter des Abkommens sagen: Europa brauche für die Energiewende den Zugang zu wichtigen Rohstoffen aus Lateinamerika wie Kobalt, Nickel und Lithium.
Wir müssen die Energiewende angehen, vor allem im Verkehrs- und Autosektor. Aber ich glaube, eine gute Partnerschaft kann so aussehen, dass wir den Mercosur-Staaten helfen, nicht länger auf den Extraktivismus zu setzen. Selbst von der Leyen sagte, es müsse in grüne Wirtschaftsprojekte investiert werden. Aber warum sollen wir dann an einem Abkommen festhalten, das den Umwelt- und Klimazielen in Europa und Mercosur entgegenläuft? Ich bin selbstverständlich dafür, die Partnerschaft mit Brasilien auszubauen. Aber das Abkommen könnte sogar einer Rückkehr Bolsonaros in die Karten spielen.
Warum?
Die Hauptprofiteure des Abkommens leben in den Hochburgen Bolsonaros. In Bundesstaaten, die vom Sojaanbau und der Viehwirtschaft geprägt sind, wie zum Beispiel Mato Grosso.
Was ist Ihre Forderung? Zurück zu den Verhandlungen?
Ja, wir müssen die Verhandlungen wieder aufnehmen. Wir brauchen ein Abkommen, das im Einklang mit den gegenwärtigen Herausforderungen steht. Warum sollten wir, um den Wald zu retten, ein Abkommen ratifizieren, das den Wald zerstört?
Sie waren kürzlich in Brasilien. Was war Ihr Eindruck, versucht Brasilien wirklich eine neue Umweltpolitik umzusetzen?
Der Wille ist da. Ich war vier Monate nach dem Amtsantritt der Lula-Regierung und dem Putschversuch in Brasilien unterwegs. Einige Spitzenbeamte sagten mir: Es ist nicht nur einfach ein Regierungswechsel, sondern ein kompletter Wechsel der Administration. Es gibt jetzt 37 Ministerien, keine einfache Situation. Lula muss seine Koalition zufriedenstellen, und das Agrobusiness ist ein Teil davon. Und er will zeigen, dass Brasilien zurück ist und er in der Lage ist, Abkommen zu unterzeichnen. Wenn man Umweltministerin Silva zuhört, erfährt man außerdem, dass die Umweltschutzbedenken des Abkommens derzeit nicht die oberste Priorität in Brasilien haben. Es gibt viele weitere Konflikte innerhalb der Regierung und im Parlament. Kürzlich stimmte das Abgeordnetenhaus für das „Marco Temporal“-Gesetz, das sich gegen die indigene Bevölkerung richtet.
Die Agrarindustrie trägt zu 25 Prozent des brasilianischen BIP bei. Sind radikalere Veränderungen in einem Land wie in Brasilien überhaupt möglich?
Das muss es. Die brasilianische Wirtschaft war komplett auf Kautschuk ausgerichtet, dann auf Kaffee, nun eben auf Rindfleisch und Soja. Dieses Modell hat zu einer riesigen Konzentration von Land und Reichtum geführt. Die sozialen und ökonomischen Konsequenzen dieses Modells müssen auch mit der Präsidentschaft Bolsonaros und einer möglichen Rückkehr der extremen Rechten in Verbindung gesetzt werden. So ist es nicht verwunderlich, dass während seiner Amtszeit die Ungleichheit, Lebensmittelunsicherheit und der Hunger zunahmen, während gleichzeitig die Soja- und Fleischexporte explodierten.
Von der Leyen sagte, das Abkommen stehe kurz vor der „Ziellinie“ und könnte bis Ende des Jahres ratifiziert werden.
Nein, das ist wishful thinking. Auf der Seite der Mercosur-Staaten gibt es viele Bedenken, ebenso auf der EU-Seite. Die französische Nationalversammlung stimmte kürzlich gegen das Abkommen. Aus den Niederlanden und Österreich sind ebenfalls viele kritische Töne zu vernehmen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Netzgebühren für Unternehmen
Habeck will Stromkosten senken