Wirtschaftsweise über Mercosur-Abkommen: „China läuft uns den Rang ab“

Die neue Weltlage mahnt zur Eile beim EU-Abkommen mit den lateinamerikanischen Mercosur-Staaten, meint die Ökonomin Veronika Grimm.

Chinas Präsdident Xi geht mit dem brasilianischen Präsidenten Lula in Peking an einer Gruppe jubelnder SchülerInnen vorbei

Auch China hat Lateinamerika einiges zu bieten: Brasiliens Präsident Lula zu Gast bei Xi in Peking Foto: Huang Jingwen/imago

taz: Frau Grimm, Sie fordern, das geplante Freihandelsabkommen zwischen der EU und den lateinamerikanischen Mercosur-Staaten so schnell wie möglich umzusetzen. Warum?

Veronika Grimm: Angesichts der aktuellen geopolitischen Veränderungen sollten wir schnellstmöglich bestehende Abhängigkeiten abbauen. Bei den Energieabhängigkeiten von Russland ist das im Eiltempo gelungen. Beim Handel und insbesondere bei kritischen Rohstoffen existieren allerdings weiterhin Abhängigkeiten von China, die angesichts der zunehmenden Spannungen zwischen den USA und China hochproblematisch sind. Lateinamerika ist ein Kontinent, der über viele kritische Rohstoffe verfügt und ein attraktiver Partner für die EU ist. Durch das Abkommen würden Unternehmen von selbst die Diversifizierung der Lieferketten vorantreiben. Und ohne das Abkommen überlassen wir China diesen Raum.

Jahrgang 1971, ist seit 2008 Inhaberin des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre an der Universität Erlangen-Nürnberg. 2020 wurde sie in den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung („Wirtschaftsweise“) berufen.

Warum wäre das ein Problem?

China entwickelt beim Klimaschutz Ambitionen. Man hat die Zeichen der Zeit erkannt, da die Klimakrise das Land selbst stark betrifft und man am Hebel sitzt: China verantwortet über 30 Prozent der globalen Emissionen. Gleichzeitig gibt es Proteste aufgrund von Umweltproblemen. China hat daher damit begonnen, umweltschädliche Produktionen auszulagern, unter anderem nach Afrika und Südamerika. Wenn wir das EU-Mercosur-Abkommen nicht abschließen, wird China diesen Trend verstärken.

Aber sollte man die eigenen Umweltschutzziele einfach über Bord werfen, nur weil China im Nacken sitzt?

Wir werfen keine Umweltschutzziele über Bord, sondern stärken Kooperationen. Diese werden es uns ermöglichen, gemeinsam mit dem Mercosur auch den Umweltschutz zu gestalten. Aber: Wir werden den Mercosur-Staaten nicht genau unsere Vorstellungen aufzwingen können. Denn sie haben eben auch andere Optionen.

Das Abkommen würde zu deutlich mehr Agrarexporten führen, die Landwirtschaft und Viehzucht sind die größten Treiber der Abholzung. Umweltschutzverbände kritisieren, das Abkommen habe keine rechtlich verbindlichen Verpflichtungen zum Umweltschutz.

Das EU-Mercosur-Abkommen enthält verbindliche Regeln zu Arbeits- und Umweltstandards sowie zum Klimaschutz. Wenn wir es nicht abschließen, werden die Mercosur-Länder ihre Kooperation mit China intensivieren und Abkommen mit weniger ambitionierten Nachhaltigkeitszielen abschließen. Wir haben mehr Spielraum, wenn wir das Abkommen abschließen, anstatt es anderen zu überlassen.

Die Mercosur-Staaten Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay fürchten auch, in die Rolle als reine Rohstoffexporteure zurückzufallen.

Wir sollten eine Intensivierung der Beziehungen nutzen, um genau das zu verhindern. Viele südamerikanische Länder haben zum Beispiel günstige Voraussetzungen, um künftig als Exporteure von Wasserstoff und Energieträgern auf der Basis von Wasserstoff aufzutreten. Europa wird Wasserstoff importieren müssen und verfügt über die Technologiekompetenz. Beim Ausbau der erneuerbaren Energien und der Produktionsanlagen könnte es zu Technologietransfers kommen. Die Anlagen könnten größer dimensioniert werden als für den Export nötig und so die Energieversorgung auch in Südamerika schneller auf die Basis erneuerbarer Energien stellen. Es ist vieles möglich, wenn wir Wirtschafts- und Entwicklungspolitik insgesamt stärker zusammendenken.

Auch europäische Bauernverbände kritisieren das Abkommen.

Im Agrarbereich bestehen große Vorbehalte gegen das Abkommen, aber nicht nur aus Umweltschutzgründen. Die europäische Agrarlobby agiert aus protektionistischen Gründen: Man möchte die billige Konkurrenz aus Südamerika nicht ins Land lassen. Der europäische Protektionismus paart sich mit der haltlosen Kritik von Umweltschutzaktivisten. Diese meinen, wir tun der Umwelt einen Gefallen, wenn wir dieses Abkommen nicht abschließen. Das ist aber einfach nicht zutreffend.

Wobei viele Um­welt­schüt­ze­r*in­nen in Europa das Abkommen in der derzeitigen Form ablehnen und nicht grundsätzlich dagegen sind. Was spricht denn dagegen, erneut in die Verhandlungen einzusteigen?

Die Zeit drängt. Derzeit ist der Bestand ausländischer Direktinvestitionen aus der EU in Lateinamerika zwar 3,5-mal so groß wie der Chinas. Chinesische Direktinvestitionen wachsen aber seit Beginn des Jahrhunderts deutlich schneller als die der EU. Chinesische Unternehmen haben etwa jüngst Milliarden in den Abbau von Lithium in Argentinien investiert. China läuft uns den Rang ab. Außerdem erhöhen sich die Spannungen zwischen den USA und China. Wir haben nicht viel Zeit, unsere Handelsbeziehungen neu aufzustellen. Und es ist alles andere als sicher, dass Nachverhandlungen Erfolg haben. Insbesondere in Brasilien steht man Nachverhandlungen und dem europäischen Einfordern von sanktionierbaren Zielen sehr skeptisch gegenüber.

Sie sprechen von einer Zusatzerklärung für mehr Nachhaltigkeit, die auch Sanktionsmöglichkeiten bei Umweltvergehen beinhalten soll. Viele EU-Staaten sind dafür, Brasiliens Präsident Lula da Silva ist strikt dagegen. Wie sehen Sie das?

Lulas Haltung ist nachvollziehbar. Das Abkommen ist ausverhandelt, und dort sind verschiedene Nachhaltigkeitsklauseln enthalten. Lula kann der eigenen Bevölkerung schwer verkaufen, diese nun zu verschärfen. Im eigenen Land dürfte es politischer Sprengstoff sein, wenn der Eindruck entsteht, man lässt sich von den Europäern Daumenschrauben anlegen. Es ist nachvollziehbar, dass man sich in Brasilien gegen solche Bemühungen verwehrt.

Könnte man die Mercosur-Staaten nicht dabei unterstützen, die Abhängigkeit von der exportorientierten Landwirtschaft zu beenden, die oft Umweltzerstörung und Menschenrechtsverletzungen zur Folge hat?

Es steht gar nicht in unserer Macht, den Schwellenländern zu verwehren, ihre Wachstumspotenziale zu nutzen. Man muss auch sehen, dass sich demokratische, nicht extremistische Regierungen wohl nur an der Macht halten können, wenn es den Menschen wirtschaftlich gut geht. Das ist ein Spannungsfeld. Für Lula ist es wichtig, dass sich die Wirtschaft in seiner Regierungszeit gut entwickelt, das ist ein Fundament für eine Wiederwahl. Wenn Staaten ihre Wachstumspotenziale nicht nutzen, könnte die Unterstützung für die Regierung schnell schwinden. Und mit einer extremistischen Regierung lässt sich globaler Klimaschutz noch schwieriger umsetzen.

Für lange Zeit lag das Abkommen auf Eis, weil der Klimawandelleugner Jair Bolsonaro regierte und die Abholzungsrate explodierte. Bei der nächsten Wahl könnte eine Gefolgsperson von Bolsonaro die Wahl gewinnen. Stehen wir dann nicht wieder vor dem gleichen Problem?

Man hätte das Abkommen auch schon zu Bolsonaros Zeiten abschließen sollen. Man unterschätzt hierzulande immer noch die Dringlichkeit dieses Schritts. Das kann uns böse auf die Füße fallen.

Das Abkommen wurde vor fast einem Vierteljahrhundert entworfen. Es sei nicht mehr zeitgemäß, sagen KritikerInnen. Insbesondere im Hinblick auf Umwelt- und Klimaschutz hat sich viel getan.

Es ist absolut zeitgemäß, sich international zu vernetzen. Globale öffentliche Güter, die globale Kooperation erfordern, sind heute noch bedeutsamer als früher. Es ist problematisch, dass das Aushandeln von Handelsabkommen so lange dauert. Man kann froh sein, dass ein ausverhandeltes Abkommen besteht und wir nicht am Anfang von neuen Verhandlungen stehen.

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