Krieg in der Ukraine: Die Front ruft, immer weniger folgen
Die militärische Lage der Ukraine ist ernüchternd. Viele Soldaten verlassen unerlaubt ihre Einheiten – die Bereitschaft zu kämpfen sinkt.
Dennoch stehe der Kreml vor einer wachsenden Anzahl von Herausforderungen, die jeden Versuch, das Erreichte zu festigen, erschwerten. Sollte Moskau alles bekommen, was es wolle, werde das teuer, sagte er in einem Interview mit der US-Nachrichtenagentur Bloomberg News von Mitte dieser Woche. Gleichzeitig verwies er in diesem Zusammenhang darauf, dass die Ukraine ihre Fähigkeiten weiter ausbaue.
Ohne derartige Versuche Kyjiws in Abrede zu stellen, ist die Realität nach fast drei Jahres des russischen Angriffskrieges gegen den Nachbarn doch eher ernüchternd. Bei massiven russischen Angriffen mit Gleitbomben auf die südukrainische Region Saporischschja am Mittwochabend wurden elf Menschen getötet und über 100 verletzt – einige davon schwer.
Im Schneckentempo
Auch im Osten der Ukraine ist die Situation kritisch. Dort rücken russische Truppen unaufhaltsam vor – wenngleich im Schneckentempo und unter erheblichen Verlusten. Die Einnahme der strategisch wichtigen Stadt Pokrowsk in der Region Donezk scheint nur eine Frage der Zeit zu sein.
Auch die Stadt Kupjansk in der Region Charkiw steht unter wachsendem Druck. Angaben der dortigen Militärverwaltung zufolge verlaufe die Frontlinie nur noch zwei Kilometer von Kupjansk entfernt. Die Lage für die dort 900 verbliebenen Einwohner*innen sei extrem schwierig.
Gleichzeitig haben ukrainische Streitkräfte vor wenigen Tagen eine neue Offensive in der russischen Region Kursk gestartet, in die sie im vergangenen August einmarschiert waren, in der sie seitdem jedoch Teile bereits eroberten Territoriums wieder verloren hatten. Als einen Grund nennen Expert*innen den Umstand, dass Geländegewinne in Kursk zum jetzigen Zeitpunkt das Narrativ auf dem Schlachtfeld zugunsten der Ukraine beeinflussen könnten.
Eine Offensive Kyjiws in der Ostukraine wäre ein langsames, mühsames Unterfangen, wahrscheinlich mit begrenztem Erfolg und hohen Verlusten. Sie würde die ukrainische Verteidigung in der Region weiter schwächen, zitiert die Website von Radio Freies Europa David Silbey, Professor für Militärstudien an der US-Universität Cornell.
Andere Dimensionen
Doch in der Ukraine geht es schon längst um Probleme mit ganz anderen Dimensionen. Eins davon ist, dass immer mehr Soldaten dem ukrainischen Staat buchstäblich von der Fahne gehen. Diesen Umstand veranschaulicht das Beispiel der 155. mechanisierten Brigade „Anna von Kyjiw“, das ukrainische Medien unter den Stichworten „Skandal“ und „Spitze des Einberges“ verhandeln.
Am Mittwoch wurde der Kommandeur einer Kompanie dieser Brigade in der Ukraine festgenommen. Ihm wird vorgeworfen, seinen Einsatzort unerlaubt verlassen und auch seinen Mitkämpfern befohlen zu haben, zu desertieren. Dass der Fall überhaupt öffentlich wurde, ist dem ukrainischen Kriegsjournalisten Juri Butusow zu verdanken, der im Dezember entsprechende Fakten auf seinem Webportal censor.net veröffentlicht hatte.
Besagte Brigade war im März 2024 gegründet worden, die Schirmherrschaft hatte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron übernommen, wie die Zeitung Le Monde berichtet. Im Paket enthalten war auch eine neunwöchige Ausbildung an französischem Kriegsgerät für 2.300 ukrainische Soldaten – laut Verteidigungsminister Sébastien Lecornu ein einzigartiges neues Programm“.
Rund 50 Soldaten zogen es noch in Frankreich vor, der Truppe den Rücken zu kehren. Von den Rückkehrern, denen rund weitere 2.300 Soldaten zugewiesen wurden, suchten insgesamt rund 1.700 Mann das Weite, was an dem Einsatzort gelegen haben könnte: mehreren Abschnitten im Gebiet Donezk, einem der tödlichsten Hotspots des Krieges.
Butusow berichtete von unzureichender militärischer Ausrüstung sowie mangelnder Kampferfahrung. Zudem seien die Mitglieder der Brigade größtenteils keine Freiwilligen gewesen, sondern gegen ihren Willen Mobilisierte. Dazu gekommen seien ein veritables Organisationschaos und intransparente Befehlsketten.
Kein Einzelfall
Die Brigade „Anna von Kyjiw“ ist kein Einzelfall. Die Zahl derer, die nicht mehr bereit sind, im Krieg gegen Russland ihr Leben zu riskieren, steigt. Der ukrainische Dienst der BBC berichtet, lauf offiziellen Angaben seien Ende Oktober 2024 mehr als 95.000 Strafverfahren wegen unbefugten Verlassens eines Dienstortes und Desertion anhängig gewesen. Aus dem Generalstab heißt es laut BBC, die realen Zahlen lägen bei 100.000 bis 150.000.
Der ukrainische fronterfahrene Politanalyst Gennadi Drusenko erhebt in diesem Zusammenhang schwere Vorwürfe gegen Regierung und Generalstab. Erstere sei realitätsfern, korrupt und unprofessionell, letzterer habe eine kleine sowjetische Armee aus größtenteils Leibeigenen geschaffen, aus der heraus der Weg nur in den Himmel, ein Krankenhaus oder ins Gefängnis führe. Ihr Land zu retten, liege zuallererst in der Verantwortung der Ukrainer*innen. Diese Aufgabe auf Kyjiws Verbündete abzuwälzen, sei kontraproduktiv, schreibt er auf dem Webportal focus.ua.
Am Donnerstag unterstützte das Parlament einen Antrag, der Desertierten eine Brücke zurück bauen soll. Danach wird die Frist für rückkehrwillige Militärangehörige, die ihre Einheit ohne Erlaubnis verlassen haben, bis zum 1. März 2025 verlängert. Sie werden nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen.
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