Krieg in der Ukraine: Preis und Verlockungen des Sieges
Die Erfolge der ukrainischen Armee bei Charkiw haben die Stimmung der Menschen gehoben. Doch Militärs mahnen einen realistischen Blick auf die Lage an.
Vyshebaba hat ein gutes Gespür für die Stimmung seiner Mitbürger – sie hinterlassen Hunderte von Kommentaren unter seinen Texten. Und es stimmt, der Vormarsch hat ihre Stimmung gehoben. Ähnlich war es nach dem Abzug der russischen Truppen aus der Region Kyjiw, der Zerstörung des Kreuzers „Moskwa“ und den ersten Anschlägen auf die Stützpunkte der Besatzer auf der Krim. Aber als in den sozialen Netzwerken die Euphorie über den Sieg im Gebiet um Charkiw und den Vorstoß im Süden begann, warnte Vyshebaba schnell: „Noch ist nicht die Zeit, den Sieg zu feiern, der Preis dafür ist zu hoch.“
Was er damit meint, weiß Oleh Kuch, Vorsteher der Gemeinde Ljubeschow in Nordwolhynien, fast an der Grenze zu Belarus. Er bereitet sich auf die Begräbnisse von gleich vier Soldaten vor. So viele Tote an einem Tag gab es in hier nicht einmal während des schrecklichen Beschusses in den ostukrainischen Städten Sjewjerodonezk und Lyssytschansk im Mai und Juni.
Zu Beginn der jetzigen Offensive im Ort Balaklija äußerten sich auch der Oberbefehlshaber der Streitkräfte, Waleri Saluschni, und der ehemalige Kommandeur der Luftlandetruppen, Michailo Sabrodski, öffentlich mahnend. Die Generäle schrieben in einem Artikel, dass die Gesellschaft sich von Illusionen verabschieden solle, dass es nun bald vorbei sei – der Krieg werde noch bis 2023 dauern.
In welche Richtung wird die Ukraine die Offensive fortsetzen?
Ein Zeichen dafür, dass die Regierung die unbeliebte Mobilisierung verlängern muss. Es gibt wie gesagt auch auf ukrainischer Seite Verluste, und ein Teil der Soldaten muss aus gesundheitlichen Gründen demobilisiert werden. Dem werden schon bald neue Mobilmachungen folgen. Und das bedeutet, dass die Gesellschaft keine Zeit hat, zur Ruhe zu kommen oder gar den Krieg zu vergessen, so wie im Frühling 2015, als es nach der heißen Phase der Mehrheit der Ukrainer so schien, als ob sie ihr Leben einfach weiterleben könnten, und der Krieg nur im Donbass stattfand.
Der erstaunliche Vormarsch der Ukraine zwang die russischen Streitkräfte in der vergangenen Woche zum chaotischen Rückzug und verschob die Frontlinie um einige hundert Kilometer. Es ist schwer abzuschätzen, in welche Richtung die Ukraine ihre Offensive nun fortsetzen wird.
Bemerkenswert, dass Wolodimir Selenski und andere hohe Persönlichkeiten sich nicht in die Karten schauen lassen und nur sehr wohldosiert über ihre Absichten berichten. Verständlich aber, denn die ukrainische Armee ist der russischen zahlen- und waffenmäßig immer noch unterlegen. Würde man die ukrainische Armee auf zu vielen Kriegsschauplätzen gleichzeitig einsetzen, wären sie deutlich anfälliger für russische Gegenangriffe. Zugleich klar, dass man Chancen vergibt, wenn sich die Truppen zu langsam oder in die falsche Richtung bewegen. Zu langes Abwarten würde zum Einfrieren der Front im Winter führen.
Nach dem Erfolg im Gebiet Charkiw muss die ukrainische Armee jetzt die befreiten Gebiete verteidigen. Auch das ist eine Aufgaben, die viele Ressourcen bindet, etwa bei der Minenräumung und der Suche nach russischen Saboteuren.
Aus militärischer Sicht sei es wichtig, auch die Krim zurückzuholen
Die ukrainischen Streitkräfte haben jetzt verschiedene Möglichkeiten: Wenn sie die Russen aus dem Nordosten vertrieben haben, könnten sie jetzt weiter in Richtung Donbass oder stärker nach Süden vorstoßen. Die Bevölkerung unterstützt beide Pläne, das Vertrauen in die Armee ist immens. Aber das Zeitfenster, in dem die Ukraine Möglichkeiten hat, die russische Panik und das Chaos unter den abziehenden russischen Truppen auszunutzen, ist klein. Jeder weitere Tag ermöglicht Russland, seine Truppen zu konsolidieren, um zur Taktik der zermürbenden Artillerieschlachten zurückzukehren.
Der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Waleri Saluschni, und der stellvertretende Vorsitzende des Komitees für nationale Sicherheit, Michailo Sabrodski, denken schon an die ferne Zukunft. Sie versuchen, die Gesellschaft davon zu überzeugen, dass es aus militärischer Sicht notwendig sei, auch gleich die Krim zurückzuholen. Dabei gehe es auch um eine Identifizierung von Verrätern, den Übergang und die Integration in die Ukraine.
Es gibt noch eine weitere potentielle Möglichkeit, wie sich die Ereignisse entwickeln können. Experten haben schon früher darauf hingewiesen: Russland kann beginnen, systematisch Objekte der ukrainischen Infrastruktur anzugreifen. Am Abend des 11. September führten russische Angriffe dazu, dass fünf Gemeinden im Osten der Ukraine ganz oder teilweise ohne Strom waren. Sie hatten eine Anlage in Charkiw beschädigt, die einen Großteil der Region mit Strom und Wärme versorgt.
Einige Tage später schlugen acht russische Raketen in Krywyj Rih ein, der Heimatstadt von Präsident Selenski. Dort trafen sie die Schleusen eines Stausees, was zu Überflutungen in der Stadt und gleichzeitig zu einer Unterbrechung der Wasserversorgung führte. Es war eine deutliche Mahnung von russischer Seite: Trotz der russischen Niederlage in einer Schlacht ist der Krieg noch lange nicht vorbei. Bis dahin hatte es keine gezielten massiven Angriffe auf zivile, strategisch wichtige Infrastruktur gegeben.
Eine aktuelle Umfrage des internationalen Kyjiwer Instituts für Soziologie ergab übrigens: 87 Prozent der Ukrainer halten territoriale Zugeständnisse für inakzeptabel – 3 Prozent mehr als im Juli. Nur 8 Prozent denken, dass man bestimmte Gebiete abtreten solle, um den Krieg zu beenden. Sogar in der Ostukraine, wo zur Zeit die heftigsten Kämpfe stattfinden, sind 85 Prozent gegen Zugeständnisse an Russland.
Aus dem Russischen von Gaby Coldewey
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren