Krieg in der Ukraine: Entscheidende Schlacht um Mariupol

Erobert Russland die Stadt und den Donbass, kann es den ersten Sieg über die Ukraine verkünden. Sonst wäre es ein moralischer Sieg der Ukraine.

Russischer Convoy auf einer Straße, weißes Z auf den LKWs

Unsichere Sitze: Bislang sind knapp 10.000 russische Soldaten gefallen Foto: Alexander Ermochenko/reuters

BERLIN taz | Es war ein kurzer, aber wichtiger Moment der Wahrheit: Die Moskauer Zeitung Komsomolskaja Prawda veröffentlichte am Montagabend im Internet eine offizielle Bilanz des russischen Verteidigungsministeriums über die eigenen Verluste in der Ukraine. 9.861 Tote und 16.150 Verwundete nannte der kurze Bericht, der schnell von der Webseite entfernt wurde. Es sind zwar weniger Opfer als von der Ukraine bisher behauptet, aber dennoch viel mehr, als Russland selbst jemals zugegeben hat.

„Wow“, kommentierte auf Twitter der US-Militärexperte Charles Lister. „Das sind ungefähr 1.000 Verluste pro Tag. Dies sind atemberaubende, absolut beispiellose Zahlen, und sie zeigen, wie unhaltbar Putins Invasion geworden ist, zumindest in ihrer aktuellen Form.“ Manche Gründe sind bekannt: Russische Panzerkolonnen wurden ohne Nachschub und Absicherung losgeschickt und dezimiert; es gab keine Koordination zwischen russischen Boden- und Luftstreitkräften und keine Vorbereitung darauf, dass der Gegner sich wehren würde.

US-Offiziersveteran Mark Hertling deutet auch auf die Beschaffenheit russischer Panzer, die er „Streichholzschachteln“ nennt: Drinnen sitzen die Soldaten auf engem Raum direkt neben ihrer Munition. Bei Beschuss von außen explodiert drinnen alles und die Besatzung verbrennt. Die vielen panzerbrechenden Waffen aus den USA und Großbritannien waren offensichtlich sehr effektiv, und die Lieferungen werden ausgeweitet.

Der Krieg ist jetzt fast vier Wochen alt, aber seit der ersten Woche verzeichnet Russlands Armee kaum noch Geländegewinn. Am weitesten kamen sie im Süden, wo Kampfverbände aus der Krim wichtige Küstenstädte einnahmen und nun gemeinsam mit den Donezk-Separatisten Mariupol belagern und zerstören. Der Ausgang der Schlacht um Mariupol dürfte diese erste Kriegsphase entscheiden, schätzen westliche Militärexperten.

Der Fall Mariupols böte Russland eine Donbass-Einkesselung

Fällt die einst 400.000 Einwohner zählende Stadt, kann Russland seine dort engagierten Kräfte einsetzen, um die ukrainischen Soldaten an der Donbassfront einzukesseln und den gesamten Donbass zu erobern, von dem die beiden Separatistenrepubliken Donezk und Luhansk bislang nur den kleineren Teil kontrollieren. Das wäre dann eine gute Ausgangsposition für Russland, um die Ukraine bei Friedensgesprächen zu einem Gebietsverzicht zu nötigen, schätzt der ukrainischstämmige US-Militärexperte Michael Kofman.

Doch scheitert die Einnahme von Mariupol, kann die Ukraine einen moralischen Sieg geltend machen. Und solange Mariupol umkämpft bleibt, bindet die Belagerung viel russische Offensivkraft. An mehreren anderen Stellen des Landes weichen die russischen Truppen seit ein paar Tagen zurück.

Versuche, von der Krim aus Richtung Odessa vorzustoßen, hat die Ukraine zurückgeschlagen. Bei Kiew, wo seit Wochen von einer bevorstehenden Umzingelung die Rede ist, konzentrieren sich die Kämpfe weiterhin auf entfernte Vorstädte. Nach Berichten vom Dienstag sollen dort wichtige russische Verbände mittlerweile umzingelt sein.

Sollte Russland tatsächlich deutlich zurückweichen müssen, rechnen US-Militärexperten damit, dass Moskau in eine Feuerpause einwilligt, vorgeblich um Fortschritte in den stockenden Friedensgesprächen mit der Ukraine zu ermöglichen. Dann würde der internationale Druck auf Kiew steigen, politische Zugeständnisse zu machen, die Moskau auf militärischem Weg nicht erzwingen konnte.

Zugleich aber würde Russland die Atempause nutzen, um seine Streitkräfte zu reorganisieren. Seine ausbleibenden Geländegewinne kompensiert Russland jetzt schon mit einer Verstärkung der Angriffe aus der Luft. Deswegen enden die meisten Kriegsprognosen in Sorge vor einer zweiten, blutigeren Kriegsphase. Mariupol könnte dann bald überall sein.

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