Korrumpierte Linksliberale: Frische linke Luft braucht's
Ins Abseits des politischen Diskurses geraten ist der Linksliberalismus. Als Grundlage für einen demokratischen Sozialismus taugt er grad wenig.
I ch riskiere wahrscheinlich nicht viel, wenn ich über die Leser*innen der taz, an die ich mich in gewissen Zeitabständen und ohne Themenvorgabe wenden darf, eine Behauptung aufstelle: Sie fühlen sich mehrheitlich einem Diskurs und/oder einem Milieu verbunden, den/das man früher „linksliberal“ nannte.
Zwar ist dies nun mit Aspekten der Ökologie, des Feminismus und des Post- oder Antikolonialismus angereichert, aber in alledem setzt sich doch die Bemühung fort, zwei Dinge unter einen Hut zu bringen, die ihre Widersprüchlichkeit gar nicht verbergen. Der Liberalismus ist die ein klein wenig ältere Zutat, es ist die politische Philosophie, die den demokratischen Staat und zugleich die bürgerlich-kapitalistische Besitz- und Arbeitsordnung hervorbrachte.
Immer wieder kamen sich der Wirtschaftsliberalismus und der politische Liberalismus ins Gehege, und wenn es schon was aus der Geschichte zu lernen gäbe, dann dies: Wenn’s um die Verteilung von Geld und Besitz geht, dann opfert ein Großteil des Bürgertums gern den politischen und kulturellen zugunsten des ökonomischen Liberalismus. Und wenn’s in die Krise geht, dann werden sich die beiden spinnefeind.
Das Korrektiv für diesen heillosen Widerspruch war eine Bewegung, die sich darauf besann, dass politische Freiheiten nicht viel taugen, wenn sich gleichzeitig soziale Ungerechtigkeit ausbreitet. Das heißt: Die Politik muss der ökonomischen Freiheit der Besitzenden Grenzen setzen und sie an soziale Verantwortung binden. Dieser Sozialliberalismus oder eben Linksliberalismus war freilich seit seiner Entstehung im vorvorherigen Jahrhundert meistens ein Minderheitenprojekt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg schrieben sich eine Reihe europäischer Staaten die soziale Komponente der Freiheit in ihre Verfassungen und vergaßen dann die Sache mit der Sozialbindung von Eigentum rasch wieder. In der Bundesrepublik gab es eine Regierung aus Sozialdemokraten und FDP, der man den Namen sozialliberale Koalition gab.
Neoliberale und Faschisten
Ihr Scheitern war eines der Symptome der großen Wandlung: Der Neoliberalismus verband sich vorsorglich statt mit politischem und kulturellem Liberalismus mit den Konservativen, den Reaktionären und gern auch mal mit neuen Faschisten. Und die Linksliberalen wurden aus den Diskursen der politischen Ökonomie verdrängt und zogen sich weitgehend in ihr Milieu zurück.
Und das veränderte sich: Auf die politische Entmachtung folgte eine Doppelstrategie: Man arrangiert sich mit dem neoliberalen Mainstream, hilft ja nichts, zumal dieser sich ja ein paar hippe Elemente der einstmals immerhin medial durchaus „führenden“ linksliberalen Kultur angeeignet hat. Sobald es ums (eigene) Geld geht oder um die Verteilung von Rechten und Pflichten, zeigt sich auch in diesem „Irgendwie immer noch links“-Milieu, wie viel man vom Neoliberalismus verinnerlicht hat.
War schon die Verbindung von links und liberal eine spannende Angelegenheit, so ist der Linksneoliberalismus, in dem sich offenkundig ganze Szenen und Schichten eingerichtet haben, nur in einer Blase zu ertragen, in der sich politische Ohnmacht, ökonomische Korruption und kulturelle Privilegien mit einer beständigen Performance der eigenen moralischen Überlegenheit verbinden lässt.
In dieser Blase scheint man vordringlich damit beschäftigt, die Werte des neuen und alten Liberalismus in Sprach- und Zeichennormen zu verwandeln. Aus dem Geist von Erfahrung und Begegnung sind Rechthaberei und gegenseitiges Misstrauen gewachsen.
Spottnahrung für den Rechtsliberalismus
Das „links“ hatte einst die Gefahr einer Leninisierung mit sich gebracht, das heißt die Verwandlung einer Erkenntnismethode in ein Machtinstrument, und nun zeigt das „liberal“ in linksliberal die Gefahr einer Calvinisierung: Die Gemeinde wird zu einem Instrument der wechselseitigen Überwachung und Maßregelung. Eben deswegen muss der gemeinsame Wert von einst in eine äußere Norm umgewandelt werden.
Das ist keineswegs auf die längst öffentlich debattierten Felder von „politisch korrekter Sprache“, von Gendern, Canceln und dergleichen, beschränkt, die dem anderen, dem Rechtsliberalismus so viel Spottnahrung zuspielen. Die Calvinisierung der postlinksliberalen Milieus geht tiefer. Sie bringt das gegenseitige Misstrauen, die Furcht vor intellektueller „Ausgelassenheit“ und ein unangenehmes Eiferertum hervor.
Wo man sich zuvor über die gemeinsamen Werte freute, fühlt man sich nun von den Normen unterdrückt. Ein Wert braucht keine Norm, um zu wirken, und mit einer Norm kann man keinen Wert erzeugen. Nur die Entscheidung zwischen Unterwerfung und Trotz. Als politische Haltung verstanden muss der Liberalismus ständig erweitert und vertieft werden, um nicht als Genuss von Privilegien unter dem Mantel einer allgemeinen Laisser-faire-Toleranz zu verkommen.
Andererseits verlangt er auch immer wieder die paradoxe liberale Auseinandersetzung mit dem Illiberalismus. Dass sich derzeit einige Regimes mit dem Titel einer „illiberalen Demokratie“ schmücken, mag darauf hinweisen, dass Liberalismus und Demokratie zwar eine Beziehung miteinander haben, aber nicht miteinander identisch sind. Wenn das „Neo“ im Liberalismus hegemonial wird, kommt er auch ganz gut ohne Demokratie aus.
Ein Leben ohne Liberalismus ist jedenfalls für uns Insassen von Mitteleuropa einigermaßen unerträglich. Glücklicherweise bietet der Liberalismus selbst die Grundlage für seine ständige Kritik, seine ständige Veränderung, seine ständige Erneuerung. Zurzeit, sagen wir’s mal so, ist der Liberalismus ziemlich am Arsch.
Der Linksliberalismus als politische Philosophie, vielleicht als Grundlage für die Konstruktion eines demokratischen Sozialismus für die postkapitalistische Zeit, muss aus seiner freud- und fantasielosen Blase befreit werden. Das linksliberale Milieu, unser Milieu, braucht dringend frische Luft.
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