Kommentar Wahlen in der Türkei: Auf dem Höhepunkt der Macht
Erdoğan hat alles erreicht, was er erreichen wollte. Was nun kommt, ist das quälende Warten auf die Implosion seines Systems.
E s sind Wahlen in der Türkei und am Ende ist es wie immer: Erdoğan ist der Sieger. Wer am Samstag mit Millionen anderen Menschen an der Abschlusskundgebung des Oppositionskandidaten Muharrem İnce in Istanbul teilgenommen hatte, konnte es nicht glauben, als am frühen Sonntagabend die ersten Ergebnisse über die Bildschirme flimmerten. Mehr als 60 Prozent für Erdoğan, hieß es da. Wer soll das glauben?
Am Ende war es keine Glaubensfrage. Erdoğans Ergebnis stabilisierte sich bei knapp 53 Prozent, und auch die alternative Zählung der Wählerstimmen durch eine von der Opposition gegründete Plattform zur Überwachung der Wahlergebnisse bestätigte am späten Abend den Sieg Erdoğans.
Sicher hat es viele Manipulationen gegeben, und ganz sicher waren es keine fairen Wahlen, die da gestern in der Türkei stattgefunden haben, doch die Opposition hat sich darauf eingelassen. Trotz des Ausnahmezustandes, der sie behindert hat, trotz der geballten Medienmacht, die die Regierung ihr in völlig undemokratischer Weise entgegenstellte trotz der ungenierten Inanspruchnahme staatlicher Ressourcen, die Erdoğan für seinen Wahlkampf nutzte – die Opposition hat mitgemacht und muss nun mit dem Ergebnis leben.
Zwar steht Erdoğan nun im Zenit seiner Macht, hat alles erreicht, was er in 16 Jahren an der Regierung erreichen wollte, und dennoch ist er nun in der Defensive. Schon sein Wahlkampf war völlig uninspiriert und konnte auch seine eigenen Leute nicht mehr mitreißen. Ihm fiel nichts anderes ein, als seine vermeintlichen Erfolge aus der Vergangenheit aufzuzählen. Was nun kommen soll, was er in der Türkei noch anstellen will, weiß keiner.
Erdoğan hat gewonnen, weil seine Anhänger Angst vor Veränderungen haben, weil er ihnen erfolgreich eingehämmert hat, dass ein neuer Mann ihnen das wegnehmen werde, was er ihnen in den Jahren seiner Regierung gegeben habe. Doch Angst ist keine gute Basis für die Zukunft. Die türkische Wirtschaft wird weiter den Bach heruntergehen, gerade weil Erdoğan wieder gesiegt hat.
Meinungsfreiheit noch mehr unter Druck
Außenpolitisch ist die Türkei unter Erdogan isoliert und wird es auch bleiben, denn niemand in Europa und unter den Nachbarn der Türkei traut diesem Präsidenten. Im Niedergang werden sich Erdoğan und seine Anhänger umso mehr an die Macht klammern. Demokratische Rechte, Meinungsfreiheit, Gewerkschaftsrechte, das alles wird wahrscheinlich noch mehr unter Druck geraten, als es eh schon der Fall ist.
Seit Sonntag ist klar: Mit Wahlen wird Recep Tayyip Erdoğan nicht mehr von der Macht abgelöst werden können. Das von ihm errichtete System wird das verhindern. Was nun kommt, ist ein quälendes Warten auf den inneren Zusammenbruch der Erdoğan-Republik. Niemand kann vorhersehen, wie lange das dauert und ob es sich durch innere Aufzehrung erledigt oder gewaltsam explodiert. Die Zukunft der Türkei ist vor allem eins: ungewiss.
Die Entwicklungen am Wahltag können Sie in unserem Liveticker nachlesen.
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