Wahlen in der Türkei: Erdoğan gewinnt auf ganzer Linie
Über 52 Prozent stimmen für Erdoğan. Mit dem neuen Präsidialsystem baut er seine Macht aus. Auch im Parlament hat er die Mehrheit.
Auch die Mehrheit im Parlament bleibt Erdoğan erhalten. Zwar holt die AKP nur 42,5 Prozent, doch die mit ihr verbündete rechtsnationalistische MHP schaffte zur allgemeinen Überraschung 11,1 Prozent und sichert so dem Bündnis 53,6 Prozent, was für eine stabile absolute Mehrheit der Sitze im Parlament reicht.
Das Oppositionsbündnis aus der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP, der rechtskonservativen IYi Partei und der islamischen Saadet kam dagegen nur auf 34 Prozent. Selbst wenn man die hervorragenden 11,6 Prozent der kurdisch-linken HDP noch dazurechnet, ist die absolute Mehrheit von Erdoğans Koalition nicht gefährdet.
Recep Tayyip Erdoğan ist damit am Ziel seiner Wünsche. Er ist nach dem am Sonntag mit der Wahl in Kraft getretenen neuen Präsidialsystem sowohl Regierungschef als auch Staatsoberhaupt und verfügt damit über eine Machtfülle wie noch kein türkischer Präsident vor ihm. Mit seiner Mehrheit im Parlament wird er darüber hinaus auch die Gesetzgebung und die Justiz kontrollieren.
Muharrem İnce blieb den Wahlabend über unsichtbar
Den gesamten Wahltag über war immer wieder von Unregelmäßigkeiten und teils gewaltsamen Auseinandersetzungen berichtet worden, vor allem in den kurdischen Gebieten im Südosten des Landes. Die Opposition beharrte nahezu den gesamten Wahlabend darauf, dass die staatseigene Nachrichtenagentur Anadolu Ajansi die Zahlen aus den Wahllokalen manipuliert hätte.
Laut Anadolu Ajansi hatte Erdoğan zunächst sogar mehr als 60 Prozent der Stimmen, was dann im Laufe des Abends immer mehr abnahm. Die Auszählung der Stimmen bei Anadolu Ajansi und der von der Opposition geschaffenen Wahlplattform „Adil Seçim Platformu“ (Plattform für faire Wahlen) näherten sich immer stärker an.
Hatte Adil Seçim zunächst bei 43 und İnce bei 34 Prozent gelegen, stiegen auch bei der Oppositionszählung, die auf konkreten Meldungen aus den Wahllokalen beruhte, die Zahlen für Erdoğan immer mehr an. Zuletzt kam Recep Tayyip Erdoğan auf 52,5 Prozent bei 99 Prozent der ausgezählten Stimmen.
Das nahm dem Vorwurf der Wahlfälschung dann doch etwas den Wind aus den Segeln. Während Erdoğan bereits seinen Sieg in Istanbul und später dann noch in Ankara feierte, blieb Muharrem İnce den Abend über unsichtbar. Erst diesen Montagmittag will der Präsidentschaftskandidat der CHP vor die Presse treten.
Erdogan, der verständnisvolle Landesvater
Erdoğan blieb im Triumph seltsam verhalten. Er sprach von einem Sieg der Demokratie für alle Türken und gab sich in seiner ersten Reaktion als verständnisvoller Landesvater.
Neben Erdoğan ist die kurdisch-linke HDP der kleine Sieger der Wahlen. Ihr Präsidentschaftskandidat Selahattin Demirtaş wurde mit 8,4 Prozent Dritter, und die Partei kam mit 11,6 Prozent ebenfalls auf den dritten Platz und damit sicher über die 10-Prozent Hürde. Dass Erdoğan dennoch auf eine absolute Mehrheit im Parlament bauen kann, liegt nicht an seiner AKP, die mit 42,5 Prozent eher enttäuschte, sondern an der rechtsradikalen MHP, die es wider alle Prognosen und Umfragen im Vorfeld auf 11,1 Prozent brachte.
Dieses Ergebnis ist das eigentliche Rätsel der türkischen Wahl. Obwohl sich die IYI Partei unter Meral Akşener von der MHP abgespalten hat und selbst gut 10 Prozent erzielte, schaffte die MHP praktisch ihr Ergebnis der Wahlen von November 2015 zu wiederholen. Die harte Rechte hat damit, obwohl sie zu konkurrierenden Wahlbündnissen gehörte, zusammen mehr als 21 Prozent der Stimmen.
Das gute Ergebnis der MHP wird dazu führen, dass Erdoğan auch zukünftig auf die Zustimmung des MHP Führers Devlet Bahçeli angewiesen ist, der vor allem einen harten Kurs gegen die kurdische Bewegung fordert.
Lesen Sie hier noch einmal die Entwicklungen des Tages in unserem Liveticker zur Wahl nach: http://www.taz.de/!5515193/
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt