Kommentar Türkei-Wahl in Deutschland: Das Märchen vom Problemtürken
Selbst wenn die in Deutschland lebenden Türken mehrheitlich Erdoğan gewählt hätten – angesichts ihrer Ausgrenzung wäre das kaum verwunderlich.

Wahlhelferin im türkischen Generalkonsulat in Hürth (NRW) Anfang Juni Foto: dpa
Seit der türkischen Präsidentschaftswahl am Sonntag geht wieder ein Gespenst um in Biodeutschland: der primitive, integrationsunwillige Problemtürke, der nach fünf Jahrzehnten Segnungen mitteleuropäischer Zivilisation immer noch zu fast 70 Prozent einem orientalischen Despoten die Füße küsst.
In Wahrheit leben in Deutschland rund drei Millionen türkischstämmige Menschen. Von denen waren lediglich 1,4 Millionen wahlberechtigt. Davon haben nur 700.000 von ihrem Wahlrecht gebraucht gemacht und von denen wiederum haben 455.000 Erdogan gewählt. Das sind 16,5 Prozent der Türkischstämmigen in Deutschland. Es könnten ein paar Prozentpunkte weniger sein, wenn die deutsche Regierung Türken, die Deutsche werden wollten, ihren türkischen Pass gelassen hätte. Hat sie aber nicht.
Und selbst wenn 16,5 Prozent viel sind: Ist es nicht trotzdem ein Zeichen der Hoffnung, dass nach fünfzig Jahren für Deutsche die Drecksarbeit erledigen, täglich am eigenen Leibe ihre Arroganz spüren, sehen wie Kinder und Enkel an den Klippen eines rassistischen Bildungssystems scheitern; es nicht aus dem Ghetto schaffen, weil das Geld dafür nicht reicht; die Wohnung nicht bekommen, weil man Öztürk heißt; den Job nicht bekommen, weil man ein Kopftuch trägt; den Pass nicht bekommen, weil man sich nach 60 Wochenstunden in zwei Scheißjobs nicht noch auf den Deutschkurs konzentrieren kann, immer noch ein Drittel der wählenden Turkdeutschen mit türkischen Pass dem Glamour eines Stolz-Türke-zu-Sein-Diktators nicht erliegen? Demokratie ist auch unter Bio-Deutschen nur sexy, wenn sie mit gleichen Rechten, Freiheit, Wohlstand und einem Aufstiegsversprechen kommt.
Trotz der Arroganz der Mehrheitsgesellschaft, der Ablehnung und der Segregation, die Türk*innen in Deutschland erleben müssen: Unter ihnen herrscht am Ende also „lediglich“ ein genau so großes Problem mit dem allseits wachsenden Hang zum Autoritären, wie unter – wer hätte es gedacht – den Bio-Deutschen! Denn ungefähr da steht derzeit in Umfragen die AfD. Reden wir also nicht über Gespenster. Reden wir lieber über Rassismus und Nationalismus und wie das eine mit dem anderen zusammenhängt!
Kommentar Türkei-Wahl in Deutschland: Das Märchen vom Problemtürken
Selbst wenn die in Deutschland lebenden Türken mehrheitlich Erdoğan gewählt hätten – angesichts ihrer Ausgrenzung wäre das kaum verwunderlich.
Wahlhelferin im türkischen Generalkonsulat in Hürth (NRW) Anfang Juni Foto: dpa
Seit der türkischen Präsidentschaftswahl am Sonntag geht wieder ein Gespenst um in Biodeutschland: der primitive, integrationsunwillige Problemtürke, der nach fünf Jahrzehnten Segnungen mitteleuropäischer Zivilisation immer noch zu fast 70 Prozent einem orientalischen Despoten die Füße küsst.
In Wahrheit leben in Deutschland rund drei Millionen türkischstämmige Menschen. Von denen waren lediglich 1,4 Millionen wahlberechtigt. Davon haben nur 700.000 von ihrem Wahlrecht gebraucht gemacht und von denen wiederum haben 455.000 Erdogan gewählt. Das sind 16,5 Prozent der Türkischstämmigen in Deutschland. Es könnten ein paar Prozentpunkte weniger sein, wenn die deutsche Regierung Türken, die Deutsche werden wollten, ihren türkischen Pass gelassen hätte. Hat sie aber nicht.
Und selbst wenn 16,5 Prozent viel sind: Ist es nicht trotzdem ein Zeichen der Hoffnung, dass nach fünfzig Jahren für Deutsche die Drecksarbeit erledigen, täglich am eigenen Leibe ihre Arroganz spüren, sehen wie Kinder und Enkel an den Klippen eines rassistischen Bildungssystems scheitern; es nicht aus dem Ghetto schaffen, weil das Geld dafür nicht reicht; die Wohnung nicht bekommen, weil man Öztürk heißt; den Job nicht bekommen, weil man ein Kopftuch trägt; den Pass nicht bekommen, weil man sich nach 60 Wochenstunden in zwei Scheißjobs nicht noch auf den Deutschkurs konzentrieren kann, immer noch ein Drittel der wählenden Turkdeutschen mit türkischen Pass dem Glamour eines Stolz-Türke-zu-Sein-Diktators nicht erliegen? Demokratie ist auch unter Bio-Deutschen nur sexy, wenn sie mit gleichen Rechten, Freiheit, Wohlstand und einem Aufstiegsversprechen kommt.
Trotz der Arroganz der Mehrheitsgesellschaft, der Ablehnung und der Segregation, die Türk*innen in Deutschland erleben müssen: Unter ihnen herrscht am Ende also „lediglich“ ein genau so großes Problem mit dem allseits wachsenden Hang zum Autoritären, wie unter – wer hätte es gedacht – den Bio-Deutschen! Denn ungefähr da steht derzeit in Umfragen die AfD. Reden wir also nicht über Gespenster. Reden wir lieber über Rassismus und Nationalismus und wie das eine mit dem anderen zusammenhängt!
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Schwerpunkt Türkei
Kommentar von
Dirk Ludigs
AutorIn
Themen
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