Kommentar Palmers Abschiebeinitiative: Er diskutiert auf AfD-Niveau
Die Abschiebe-Äußerung des grünen Politikers ist nicht nur rechtspopulistisch, sondern auch falsch. Keiner kann kriegsfreie Gebiete in Syrien garantieren.
D eutschland hat, anders als Frankreich, kaum Erfahrung mit Terror. Deshalb stand zu befürchten, dass Hysterie ausbricht, sobald es zu Anschlägen kommt. Nicht unbedingt zu erwarten war, dass Tübingens grüner Oberbürgermeister Boris Palmer der Hysterischste von allen sein würde – und das, obwohl es noch keinen großen Anschlag gegeben hat und der Reutlinger Mord kein Terrorakt war: Ein 21-jähriger syrischer Flüchtling hatte offenkundig unter Drogeneinfluss seine Freundin getötet und Passanten verletzt.
Palmer will nun prüfen lassen, ob in solchen Fällen Flüchtlinge nicht wieder nach Syrien abgeschoben werden können. Schließlich gebe es auch dort Gebiete, die nicht vom Krieg betroffen seien. Sicher: Die Grünen können offenere Debatten über Migrationspolitik durchaus gebrauchen. Im Herbst 2015 etwa erweckten große Teile der Partei den Eindruck, dass sie, entgegen ihrer tatsächlichen Beschlusslage, für offene Grenzen eintritt. Eine Debatte über Grenzen der Aufnahmefähigkeit wollte sie ihren Wählern nicht zumuten. Palmer aber diskutiert auf AfD-Niveau: in völliger Unkenntnis oder Gleichgültigkeit gegenüber der Lage in Syrien.
Vor allem das kleine Gebiet um Latakia, das sich unter Assads Herrschaft befindet, ist weitgehend vom Krieg verschont. Aleppo liegt jedoch nicht mal 200 Kilometer entfernt. Selbst wenn Deutschland jetzt nach Latakia abschieben würde, könnte niemand ausschließen, dass eines Tages islamistische Rebellen dort stehen. Wahrscheinlicher aber ist, dass ein junger Mann wie der Reutlinger Syrer zu Assads Militär eingezogen würde. Er müsste dann auf Oppositionelle und Zivilisten schießen.
Abgesehen vom Einzelfall: Palmer setzt ein Signal, das Rechtspopulisten freuen wird. Wenn es sogar im bürgerkriegsverwüsteten Syrien angeblich sichere Gebiete gibt, ist die Aufnahme aller Flüchtlinge von dort nur ein freiwilliger humanitärer Akt und nicht humanitäre Verpflichtung.
Noch immer sterben in Deutschland übrigens mehr Menschen durch betagte Geisterfahrer als durch syrische Flüchtlinge. Am Freitag erst rammte bei Böblingen ein 76-Jähriger eine 35-Jährige, die mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus kam. Wetten, dass sich Palmer nicht mit der Forderung nach Fahrtüchtigkeitsprüfungen für Senioren profilieren wird?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja