Kommentar Holocaust-Gedenktag: Rituale allein reichen nicht
Antisemitismus nimmt zu, die Erinnerungskultur hat versagt. Solange der Staat jüdische Kinder nicht schützt, sollte er Privatschulen für sie bezahlen.
E s gibt nicht vieles, auf das man in Deutschland so stolz ist wie auf die Erinnerungskultur und die Aufarbeitung des Holocaust, dem größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte. Gedenkstätten, Mahnmale, Stolpersteine, Gespräche mit Zeitzeugen, eine Vielzahl an Dokumentationen und Veranstaltungen. Am heutigen 27. Januar, dem Holocaust-Gedenktag, ist es wieder so weit. Politiker werden sagen, dass der Völkermord an den Juden eine unfassbare moralische Katastrophe war, aus der die immerwährende Verantwortung Deutschlands erwachse, so etwas nie wieder zuzulassen. Wehret den Anfängen!
Das Problem ist nur: Niemand wehrt den Anfängen. Antisemitismus ist heute im deutschen Alltag wieder so verbreitet und so laut, dass nicht wenige jüdische Eltern ihre Kinder anweisen, in der Schule lieber nicht zu sagen, welcher Religion sie angehören. Denn wer es tut, dem kann es ergehen wie dem 14-jährigen Jungen an der Gemeinschaftsschule Friedenau in Berlin, der von seinen muslimischen Mitschülern gemobbt, verprügelt und schließlich scheinhingerichtet wurde. Dutzende ähnliche Fälle werden auch aus anderen Teilen Deutschlands berichtet.
Die Vertreter des Staats reagieren durchweg mit bemerkenswerter Gleichgültigkeit. In Dresden waren es dann auch nicht Lehrer, sondern eine Schülerin, die ihre Klassenkameraden wegen Volksverhetzung anzeigte. In ihrer Klasse war es unter anderem cool geworden, den Handyakku auf 88 Prozent zu laden – 88 ist der Nazi-Code für „Heil Hitler“ – und Bilder von Rauchwolken als „jüdische Familienfotos“ zu bezeichnen.
Nun soll die Bundesregierung einen Antisemitismusbeauftragter berufen. Und die Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli fordert neuerdings einen verpflichtenden Besuch in einer KZ-Gedenkstätte für alle Schüler und Neubürger. Beides sehr ehrenwert. Doch soll das ernsthaft eine Strategie gegen Antisemitismus sein? Der Leiter der Gedenkstätte Sachsenhausen, Günter Morsch, wehrt sich gegen die Vorstellung, NS-Gedenkstätten als antifaschistische Durchlauferhitzer zu verstehen. Zu Recht.
Solche Forderungen zu erheben und einen neuen Beauftragten einzusetzen, ist leichter als sich das Unvermeidbare einzugestehen: Die deutsche Erinnerungskultur ist gescheitert. Ihr ist es auch nach Jahrzehnten nicht gelungen, Antisemitismus zurückzudrängen. Alte antisemitische Klischees wie das des Kindermörders und Brunnenvergifters tauchen beim Antiisraelismus und Antizionismus sogar neu und immer enthemmter auf. Es scheint, als wäre ein Damm gebrochen.
Dennoch wird in den Schulen häufig die NS-Vergangenheit noch immer so unterrichtet, als habe man es, die Herkunft der Schüler betreffend, mit homogenen Klassen zu tun. Dabei liegt seit Jahren auf der Hand, dass für Schüler aus muslimischen Ländern andere Konzepte und Anknüpfungspunkte gebraucht werden. Ähnliches dürfte auf die Kinder aus russlanddeutschen Aussiedlerfamilien zutreffen, eine Minderheit, die überproportional stark in der AfD zu finden ist.
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Tatsache ist, dass 73 Jahre nach Auschwitz ein jüdisches Kind nicht gefahrlos auf eine ganz normale deutsche Schule gehen kann. Die betroffenen Familien weichen auf jüdische wie nichtjüdische Privatschulen aus. Auch der antisemitisch gemobbte Junge aus der Gemeinschaftsschule Friedenau geht inzwischen auf eine solche Privatschule. Dass die Eltern selbst für die Schulgebühren aufkommen müssen, ist so skandalös und beschämend wie das antisemitische Mobbing selbst. Solange der Staat und seine Institutionen den Schutz jüdischer Schulkinder nicht sicherstellen können, wäre es das Mindeste, diese Kosten zu übernehmen.
Stattdessen werden Reden gehalten und Kränze niedergelegt. Erinnerungsrituale können wichtig sein, sogar identitätsstiftend. Aber wenn sich der Kampf gegen Antisemitismus auf sie verengt, sind sie bedeutungslos.
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