Holocaust-Gedenktag: „Erinnern allein reicht nicht“
Wer als Kind im Ghetto arbeitete, bekommt dafür heute keine Rente, sagt Kamil Majchrzak. Seine Initiative fordert deshalb eine Gesetzesänderung.
taz: Herr Majchrzak, am Sonntag beteiligen Sie sich anlässlich des Holocaust-Gedenktags an einer Gedenkveranstaltung für die unter der Nazi-Herrschaft ermordeten Sinti und Roma. Was fordert Ihre Initiative „Ghetto-Renten Gerechtigkeit Jetzt?“
Kamil Majchrzak: Wir haben die Initiative mit weiteren Nachkommen von Holocaust-Überlebenden aufgrund der Ignoranz der deutschen Politik ins Leben gerufen. Wir wollen den Forderungen und Kämpfen der Überlebenden Nachdruck verleihen, die keine Rente für ihre Beschäftigung im Ghetto erhalten. Das sind heute hochbetagte Menschen. Sie sind von Altersarmut besonders betroffen, haben oft keine Angehörigen, die sie pflegen können. Deswegen haben wir diese Kampagne mit Nachkommen aus Rumänien, Polen, Deutschland und aus weiteren Ländern gegründet. Gemeinsam versuchen wir, Öffentlichkeitsarbeit zu machen in enger Rücksprache mit dem Verband der Jüdischen Glaubensgemeinden in Polen und der Vereinigung der Roma in Polen.
Was sind Ihre Ziele?
Uns geht es darum, alle Hindernisse, die nach fast 80 Jahren die Auszahlung einer Ghettorente verhindern, zu beseitigen. Dafür muss es eine dringende Änderung des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten für Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) geben, das 2002 beschlossen wurde.
Welche Gruppen sind besonders von der Nichtauszahlung der Rente betroffen?
Vor allem Sinti und Roma in Osteuropa. Ein großes Problem ist, dass viele der Ghettobeschäftigten damals noch unter 14 Jahre alt waren. Das deutsche Rechtssystem geht davon aus, dass Kinder unter 14 Jahren unter gewöhnlichen Umständen zur Schule gehen und nicht arbeiten. Das ist natürlich absurd, wenn man an die denkt, die von den Nazis verfolgt wurden und nicht in die Schule gehen konnten.
41, ist Jurist und engagiert sich in der bundesweiten Initiative „Ghetto-Renten Gerechtigkeit Jetzt!“. Majchrzaks Großvater wurde 1939 von den Nazis verhaftet und war bis zu seiner Befreiung 1945 in mehreren Konzentrationslagern. Auch seine Großmutter musste Zwangsarbeit leisten.
Gibt es noch weitere Probleme?
Ein anders Problem ist, dass viele Sinti und Roma auch nach 1945 nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren. Sie übten traditionelle Berufe wie Hufschmied oder Kesselbauer aus und konnten keine Sozialversicherungsbeiträge abführen. Deswegen bekommen sie in Polen keine Altersrente, sondern nur eine sogenannte Sozialrente, die jedoch bei Beantragung einer Ghettorente in der BRD nicht anerkannt wird.
Was genau meinen Sie damit?
In Deutschland prüft die Rentenversicherung, ob ein Antragsteller im Ghetto gearbeitet hat und heute eine Altersrente bekommt, also das Renteneintrittsalter erreicht hat. Wer die nicht bekommt, sondern nur eine Sozialrente bezieht, erhält auch aus Deutschland keine Ghettorente. Deswegen fordert unsere Initiative gemeinsam mit den anderen Verbänden, dass das Gesetz zu den Ghettorenten korrigiert wird.
Am Sonntag wird bundesweit mit zahlreichen Veranstaltungen der Opfer des Holocaust gedacht. Am 27. Januar 1945 wurde das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau von der Roten Armee befreit. 2005 erklärten die Vereinten Nationen deshalb diesen Tag zum Internationalen Gedenktag. Im Bundestag wird in diesem Jahr erst am 31. Januar an die Opfer des Holocaust erinnert.
Die Initiative „Ghetto-Renten Gerechtigkeit Jetzt“ beteiligt sich an einer Gedenkstunde für die während der Zeit des Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas. Treffpunkt: 15 Uhr am Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma im Großen Tiergarten. Um 12 Uhr gibt es bereits ein stilles Gedenken am Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen, ebenfalls im Tiergarten. (taz)
Sie fordern am Sonntag also eine Gesetzesänderung?
Uns geht es darum, dass verfolgungsbedingte Ersatzzeiten auch bei damaligen Kindern unter 14 Jahren, die im Ghetto schufteten, anerkannt werden. Wir hoffen, dass sich die Parteien fraktionsübergreifend dieses Problems annehmen. Eigentlich ist es dafür fast zu spät, aber es gibt noch Überlebende, deren soziale Lage dadurch enorm verbessert werden würde. Daran erinnern wir am 27. Januar. Wir wollen auch zeigen, dass wir, die Nachkommen, eine Verantwortung tragen: nicht nur die, sich zu erinnern, sondern sich den Konsequenzen des Holocaust zu stellen.
Wie viele Betroffene gibt es?
Es müssen einige Hundert sein. Genau Zahlen sind schwierig zu ermitteln. Aber selbst wenn es nur eine Person wäre, müssen die Probleme angegangen werden.