Kommentar Hambacher Polizeistatistik: Reuls Bedrohungsszenario
Mit fragwürdigen Statistiken versucht der NRW-Innenminister an den Hambacher Forst zu kommen. Das schafft Unmut in der Region.
In den Dörfern am Tagebau Garzweiler haben 43 Prozent der Menschen ihr Land noch nicht verkauft. Dieses Land möchte RWE haben. Obwohl aus dem Kohlekompromiss und aus Studien hervorgeht, dass die Kohle darunter nicht mehr gebraucht wird. Denn um Kohle allein geht es nicht mehr: Für den Strukturwandel in der Region wird viel Fläche benötigt, und die ist knapp. Wer Fläche besitzt, hat langfristig politischen Einfluss. Schon heute sprechen viele Kommunen von RWE als „starkem Partner“.
Die Dörfer tun sich mit den Aktivist*innen aus dem Hambacher Forst zusammen und warten auf die Politik. Doch die arbeitet ihre eigene Agenda ab. „Über 1.500 Polizeieinsätze“, so verkündet der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul (CDU) kürzlich in einem Bericht, habe es im Zusammenhang mit der „gewalt- und zerstörungsaffinen Straftätergruppe“ am Hambacher Forst gegeben – nur zwischen Oktober 2018 und Januar 2019.
Das Problem: Unter diesen Einsätzen, die Reul allesamt der „außergewöhnlichen Lage“ zuordnet, finden sich alle Einsätze, die die Polizei in den umliegenden Ortschaften hatte.Verkehrsunfälle, Streifenfahrten, egal weshalb. Auch solche mit einer Dauer von je einer Minute. Die Einsätze, die tatsächlich im Zusammenhang mit den Aktivist*innen stehen, sind extra gekennzeichnet. Es sind 56. Von den 616 in der Tabelle überhaupt aufgezählten Punkten sind 479 Streifenfahrten. Nach ähnlichem Prinzip löst sich die zweite Tabelle in Luft auf, mit der Reul „1.674 Straftaten“ in vier Jahren „belegen“ wollte.
Es ist kein Geheimnis, dass Reul einen zweiten Großeinsatz will. Den wollte er schon im Januar. Alles war organisiert, der geplante Start wenige Tage entfernt. Dann wurde der Einsatz kurzfristig abgesagt. Um seinen Plan nun doch noch durchzubekommen – trotz zu erwartender erneuter Kritik von Polizeigewerkschaften und betroffenen Kommunen –, baut Reul ein Bedrohungsszenario mit manipulierten Statistiken. Politische Lösungen? Haha.
Der politische Konflikt rund um Wald und Dörfer soll erneut auf die Polizeikräfte abgewälzt werden. Um wieder Millionen an Steuern auszugeben, wieder Tausende Beamt*innen zum Teil Tage am Stück in Zwölf-Stunden-Schichten zu verheizen; so knapp eingeteilt, dass sie keine Zeit haben für den Weg zu den Dixi-Klos fernab, sondern in Büsche machen müssen. Und das an einem Ort, an dem sie jeden Tag das Unverständnis der Bürger*innen abbekommen, die Wut und den Frust, die sich eigentlich gegen die politisch Verantwortlichen richten. So geht Regieren in NRW.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Syrien nach Assad
„Feiert mit uns!“