Kommentar Frankreichs Beistandsappell: Nein sagen? Wird schwer
Noch ist unklar, welche Unterstützung Frankreich fordert. Doch die EU-Beistandsverpflichtung ist viel weitgreifender als der Nato-Vertrag.
F rankreich hat seine Partner mit der Reaktion auf die Terroranschläge in Paris überrascht. Es bittet nicht die Nato, sondern die Europäische Union um Beistand. Die Vereinten Nationen sollen mit einer Resolution nach Kapitel VII ihrer Charta auch ein militärisches Vorgehen billigen. Das französische Vorgehen hat strategische Bedeutung.
Schon kurz nach den Anschlägen bezeichnete Präsident Hollande die Anschläge als „Akt des Krieges“, der „von außen organisiert“ worden sei. Er wertete die Terrororganisation IS damit indirekt zum Staat auf. Diese Einstufung erlaubt es Paris jedoch, sich auf das Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen zu berufen.
Noch größere Überraschung rief Hollandes zweiter Schritt hervor: Frankreich rief den Artikel 42 (7) des EU-Vertrags an. Dieser enthält die militärische Beistandsverpflichtung in der EU. Diese ist verbindlicher formuliert als in der Nato.
Während in der Nato jedes Mitglied „für sich und im Zusammenwirken mit den anderen“ die Maßnahmen trifft, die es „für erforderlich erachtet“, um einen Angriff abzuwehren, „schulden“ in der EU „die anderen Mitgliedstaaten“ dem Angegriffenen „alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung“, die das Selbstverteidigungsrecht dem Angegriffenen zubilligt. Die Verpflichtung in der EU geht also deutlich weiter als jene in der Nato.
Alltag im Ausnahmezustand
Der überraschende Schritt, die EU und nicht die Nato um Beistand zu bitten, eröffnet Paris weitere Vorteile. Es kann Russland in sein Vorgehen einbinden, ohne an den Klippen der aktuellen Nato-Streitigkeiten mit Moskau zu scheitern. Paris muss auch nicht fürchten, dass Washington sein weiteres Vorgehen über die Nato dominiert. Es muss lediglich darauf achten, dass es Augenmaß wahrt.
Erste Schritte einer Europäischen Verteidigungspolitik
Es darf seine europäischen Verbündeten nicht überfordern und den USA keinen zu großen Anlass bieten, Frankreich vorzuwerfen, es nutze seine Rolle als Opfer des Terrors, um die EU als Konkurrenz zur Nato aufzubauen. Denn das französische Vorgehen erlaubt noch mehr: Paris kann durch seine Berufung auf den Artikel 42 (7) erste Präzedenzfälle für die künftige Europäische Verteidigungspolitik schaffen.
Was Frankreich konkret von seinen europäischen Partner fordern wird, ist noch offen. Derzeit geht es Paris vor allem darum, eine breite rechtliche und politische Basis für künftige Schritte zu schaffen, die EU-Mitglieder in die Pflicht zu nehmen und die Legitimation künftigen militärischen Handelns durch die Vereinten Nationen nicht zu gefährden.
Ist beides erreicht, können konkrete Bitten um politische und militärische Unterstützung formuliert werden. Diese abzuschlagen oder sich gar zu verweigern, wäre für die anderen EU-Staaten kaum möglich. Das gilt auch für Deutschland.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour