Kommentar Deutsch-türkische Krise: In der Erdoğan-Falle
Auftrittsverbote für türkische Minister stärken Erdoğan, schwächen die türkische Opposition – und zeigen Deutschlands Doppelmoral.
N azi-Vergleiche,das hat noch gefehlt! Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan macht Wahlkampf für seine Verfassungsreform, Deutschland dient ihm als willkommenes Feindbild. Er inszeniert sich als starker Mann, der den „arroganten Europäern“ die Stirn bietet. Bewusst sucht er deshalb die Konfrontation, bezeichnet den inhaftierten Journalisten Deniz Yücel als „Agenten“ und wirft den Europäern vor, der Türkei schaden zu wollen.
Schwer zu sagen, ob Erdoğan den Fall Yücel nicht ohnehin eskaliert hätte – ungeachtet der Frage, ob seine Minister in Deutschland Wahlkampf betreiben dürfen oder nicht. Sicher ist aber, dass die jüngsten Auftrittsverbote für türkische Minister nicht dazu beitragen dürften, die Freilassung von Deniz Yücel zu beschleunigen. Und sicher ist auch, dass sie Erdoğan in die Hände spielen. Denn sie machen es ihm leicht, den Europäern Parteilichkeit und doppelte Standards vorzuwerfen. Wer solche Auftrittsverbote fordert, läuft in die Erdoğan-Falle.
1,4 Millionen hier lebende Menschen sind in der Türkei wahlberechtigt, in den Niederlanden und Österreich weitere Hunderttausende. Wie Deutschamerikaner, Deutschpolen und Deutschitaliener sind sie eine Zielgruppe, die von Parteien in ihren Herkunftsländern umworben wird. Weil kein Kaczyński und kein Donald Trump zum Wahlkampf nach Deutschland kommen würden, fehlt der direkte Vergleich. Aber würde man auch ihnen verbieten, dies hierzulande unter ihren Landsleuten zu tun? Schwer vorstellbar. Und an Auftritten von Geert Wilders oder Heinz-Christian Strache in Deutschland haben sich bislang nur wenige gestört – Ungarns Autokrat Victor Orbán war sogar Gast der CSU.
Die Auftrittsverbote für türkische Minister stürzen aber auch die Oppositionsparteien in der Türkei in ein Dilemma. Sie wollen nicht bevorzugt werden, um nicht als Lakaien des Westens dazustehen. Darum lehnen sie die Verbote ab, die prokurdische HDP eingeschlossen.
Es ehrt SPD und Grüne, dass sie sich jetzt im Zweifel für die Meinungsfreiheit türkischer Minister starkmachen, auch wenn ihnen deren Meinung zuwider ist – und diese Haltung nicht gerade sehr populär. Denn auch in Deutschland herrscht Wahlkampf. Und da kommt es nicht gut, sich gegenüber Erdoğan als zu nachgiebig zu zeigen. Souveräne Gelassenheit hat da einen schweren Stand.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
Wanted wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Jeder fünfte Schüler psychisch belastet
Wo bleibt der Krisengipfel?
Krieg in der Ukraine
USA will Ukraine Anti-Personen-Minen liefern