Kolumne Schlagloch: Der A-Faktor
Manche Leute achten nur auf den eigenen Vorteil und missbrauchen unser Vertrauen. Wie setzt man sich zur Wehr, ohne zum Ekel zu werden?
I m richtigen Leben erkennt man sie sofort: Der Typ, der dich auf der Autobahn mit Aufblendlicht bedrängt, obwohl du keine Ausweichmöglichkeit hast, die Frau, die es pädagogisch wertvoll findet, dass ihr Kind seine Kleckerhände an deinem Hemd abwischt, der Teenager, der eine gehbehinderte Seniorin zur Seite stößt, um den letzten freien Sitzplatz im Zug zu bekommen, die Nachbarin, die beim Gassigehen mit dem Hund geflissentlich die Dog Station übersieht …
Es gibt nur ein Wort, was einem dann sofort einfällt: Arschloch! Meistens denkt man das Wort nur, weil es nicht ganz ungefährlich ist, ein Arschloch laut ein Arschloch zu nennen. Woran erkennt man ein Arschloch, und wie misst man die Arschlöchigkeit bei seinen Mitmenschen und womöglich sogar bei sich selbst?
Es gibt erst einmal ein sehr einfaches Modell. Wenn jemand für einen kleinen Vorteil für sich selbst einen großen Nachteil bei anderen Menschen in Kauf nimmt, ist das schon eine ziemliche Arschlöchigkeit. Je kleiner der eigene Vorteil im Verhältnis zum Nachteil anderer, desto höher der A-Faktor.
Der anständige Mensch beginnt, wo man einen kleinen eigenen Nachteil zugunsten eines größeren Vorteils für andere in Kauf nimmt. Wenn man allerdings einen großen eigenen Nachteil zugunsten eines kleinen Vorteils anderer in Kauf nimmt, ist man entweder scharf auf einen Heiligenschein oder hat ein kleines Problem mit dem „Helfersyndrom“. Und gerät schon wieder in Arschloch-Gefahr.
Ich bin toll, oder was?
Ein zweites Modell für den A-Faktor mag das Füttern des eigenen Geltungsbedürfnisses gegenüber einem ähnlich gelagerten Impuls seiner Mitmenschen sein: Wer unentwegt redet, so dass niemand anderes zu Worte kommt, wer nur von sich selbst spricht und einen Splitter im eigenen Finger für wesentlich bedeutender hält als den Blasenkrebs eines anderen, wer sich selbst so toll findet, wie es Donald Trump tut, wer in einem Lokal laut in sein Smartphone über die Beziehungsprobleme seiner Schwägerin schwadroniert, die er schon immer kommen hat sehen, wer es wichtiger findet, ein Selfie vor dem Unfallort zu machen, als Rettungskräfte zu den Verletzten zu lassen … So etwas kann nur bedeuten: Wir haben es mit einem echten Arschloch zu tun.
Der A-Faktor kommt auch zum Tragen in Verhältnis zu dem, was man Vertrauen nennt. Wenn dein Nachbar sich hartnäckig weigert, das geliehene Werkzeug zurückzugeben, aber beleidigt ist, wenn du den letzten Kreuzschlitzschraubenzieher nicht herausrückst, wenn einer zum hundertsten Mal sein Versprechen bricht und trotzdem wieder treuherzig das Blaue vom Himmel erzählt, wenn einer einen im guten Glauben an Freundschaft einen Vertrag unterzeichnen lässt, der einem die letzten Spargroschen kostet, wenn einer dir freundschaftlich ins Gesicht lacht, nachdem er dich beim Vorgesetzten denunziert hat, wenn jemand bei jedem noch so trivialen Anlass in den Konkurrenz-Modus schaltet und unbedingt gewinnen muss, und sei’s beim Minigolf-Spielen, dann ist der Arschloch-Faktor gewiss nicht unerheblich. Auch hat die deutsche Nationaleigenschaft des lauthalsen Besserwissens definitiv Arschloch-Potenzial.
Die extremste Form des Arschloch-Verhaltens ist der schiere Spaß daran, dem Mitmenschen das Leben so schwer wie möglich zu machen, dessen Eigentum zu verschandeln, dessen Ruhe zu stören, dessen Freiheit zu begrenzen, dessen Selbstwertgefühl zu verletzen. Einfach so.
A-Verhalten ist berechenbar
Eigentlich wäre es also ganz leicht, Arschloch-Verhalten, gebildetere Menschen nennen es auch „soziophobisch“, zu bestimmen und zu unterbinden. Der A-Faktor ist beschreib- und berechenbar und keinesfalls ein willkürliches, subjektives Urteil. Die Welt wäre ein angenehmerer Ort ohne Arschloch-Verhalten, gewiss doch.
Es ist aber nicht so einfach, denn der A-Faktor hat einen doppelten Haken. Zum einen muss man in aller Regel, um Arschloch-Verhalten anderer Menschen zu kennzeichnen oder zu unterbinden, selbst zu Arschloch-Methoden greifen.
So wird das Arschloch-Verhalten toxisch, denn wenn es eine Legitimation dafür gibt, dann besteht sie darin, dass die anderen genau so große Arschlöcher sind wie man selbst, wenn nicht noch größere. Zum Zweiten aber ist allein schon die Benutzung des Begriffs als Ausdruck von moralischer oder kultureller Überlegenheit eine Arschloch-Geste.
Es gibt indes ein weit verbreitetes Gefühl, das den Autor Richard Sutton schon zu zwei Büchern zum Thema getrieben hat: Die Arschlöcher werden immer mehr. Ja, schlimmer: Die Arschlöcher haben die Macht ergriffen. Die Arschlöcher sind in die höchsten Stellen gelangt! Wir leben in einer Arschloch-Welt.
Zum Arschloch-Faktor gibt es zwei Grundauffassungen. Die eine könnte man die ethnologische Theorie nennen. Nach ihr ist Arschloch-Verhalten ein menschliches Fehlverhalten, das mit einer gewissen Regelmäßigkeit aufscheint wie Farbenblindheit oder Musikalität.
Konkurrenz der Theorien
Die soziologische Arschloch-Theorie dagegen geht davon aus, dass es Verhältnisse in Ökonomie, Politik und Kommunikation gibt, die Arschloch-Verhalten ermöglichen oder sogar begünstigen. Man könnte, schlecht gelaunt wie man dieser Tage nun einmal sein darf, den Neoliberalismus unter anderem als System zur Erzeugung von Arschlöchern und Arschloch-Verhalten beschreiben. Es könnte sogar sein, dass das Arschloch zum Ideal wird, was an etlichen Prominenten, aber auch an gewissen Werbekampagnen abzulesen wäre.
Was uns also fehlt, ist eine Beziehung zwischen der alltäglichen, der medialen und der politischen Arschloch-Erfahrung. Eine Theorie zur politischen Ökonomie des Arschlochs muss her. Die Bestimmung des A-Faktors nach den oben skizzierten Methoden kann vielleicht dabei helfen, einen semantischen Durchbruch zu ermöglichen: Arschlöcher mit guten Begründungen Arschlöcher zu nennen, wäre das nicht ein Stück Befreiung? Bitte schön, gern geschehen, nichts zu danken.
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