Kolumne Die eine Frage: Muss Kretschmann „linker“ werden?
Die politische Konkurrenz versteht die Abwahl des Freiburger Oberbürgermeisters als Anfang vom Ende der grünen Volkspartei. Eine Analyse.
I n die Abwahl des Grünen Freiburger Oberbürgermeisters Dieter Salomon kann man viel hineininterpretieren. Oder wie die letzten Tage zeigen: im Grunde alles, was einem in den Kram passt. Vorsicht also vor dem, was jetzt kommt.
Die Grünen sind in Baden-Württemberg seit 2016 führende Volkspartei. Obwohl die CDU unschlagbar schien. Die jeweils ersten Wahlsiege von Salomon (2002), Boris Palmer (2007) und Winfried Kretschmann (2011) sind die drei zentralen Daten auf dem Weg dahin. Diesen Paradigmenwechsel wieder ändern zu wollen, ist die erste Aufgabe der politischen Konkurrenz. Das passiert jetzt.
Es hat aber etwas rührend Illusionäres, wenn die im Land bei 12 Prozent liegende Splitterpartei SPD so tut, als hätte ihre Politik irgendwas mit der Freiburger Wahl zu tun. Auch die liebevoll aus dem Stehsatz geholten schwarz-grünen Untergangsprophetien verfehlen den entscheidenden Punkt: Hier geht es nicht um Schwarz-Grün als böse Alternative zum guten Rot-Grün. Alles von gestern.
Hier geht es darum, dass die Grünen das geworden sind, wovon ihr Chefstratege Reinhard Bütikofer seit anno Tobak geträumt hat: Orientierungspartei und führende Kraft der gesellschaftlichen Mitte, die man dadurch im alten Denken eine linke Mitte nennen kann. Nun stellen sich zwei Probleme: Die Überwindung dieses Halblinks-halbrechts-Denkens ist die kulturelle und politische Voraussetzung für die Lösung des Menschheitsproblems Klimawandel.
„Du bist aber nicht links“
Der Kindergartensatz „Du bist aber nicht links“ (wer kennt ihn nicht?) ist für die nötigen experimentellen Mehrheiten der Zukunft tödlich. Er sucht das Trennende und nicht das Gemeinsame. Sozialökologisch geprägte Zukunftspolitik ist in diesem alten Paradigma des moralischen Ausschließens anderer Gruppen nicht durchsetzbar. Der allergrößte Witz bei den innergrünen Debatten ist ja, dass die Baden-Württemberger auch die Wähler anderer Schichten gewinnen, die von Linksgrün abgeschreckt werden.
Trotzdem muss man darauf reagieren, dass Teile der neuen Mittelschicht (und davon reden wir hier letztlich) das Bedürfnis haben, im eingeübten Sinne „links“ zu „sein“ und das Gefühl, die baden-württembergischen Grünen oder die im Bund seien das nicht. Wenn in Freiburg 55 Prozent für zwei unterschiedliche Interpretationen von sozialökologischer Politik stimmen, dann darf man das nicht über links vs. nicht links spalten, dann muss man das zusammenkriegen.
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Vielleicht braucht es feinere Sensoren für das Gefühl, dass es in Deutschland fairer zugehen müsste – allerdings ohne dass man selbst mehr Steuern bezahlen würde. Das ist einer der Widersprüche, mit denen man in der Regierung umgehen muss, so wie mit den sich widersprechenden sozialen (bezahlbare Wohnungen bauen) und ökologischen Interessen (nicht bauen oder nicht vor meiner Nase). Der Sozi und der CDUler früher hat gebaut und gut war. Weil es so nicht mehr geht, hat man in der Pionierregion Baden-Württemberg die Grünen geholt. Und nun? Macron würde sagen: Man muss aus der Spannung des Gegensatzes eine kraftvolle Position herstellen. Tja.
So wie die Bundesvorsitzenden in der Opposition eine Kultur jenseits selbstreferenziellen Lamentierens und Weltrettungsgehuberes suchen, die Progressivität mit Verantwortung paart, so braucht die baden-württembergische Volkspartei neben ihrem vertrauensbildenden Tugendkanon möglicherweise ein stärker wahrnehmbares innovatives Moment. So wie Merkel jetzt nach rechts schauen muss, könnte Kretschmann deutlichere Signale in die progressive Richtung geben.
Hier böte sich für eine sozialökologische Partei die Sozialökologie an.
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