Kolonialvergangenheit mit China: Unter deutschen Dächern
Nicht nur in Afrika, auch in China machten Deutsche sich breit – und besetzten viele Jahre lang eine Bucht. Warum ist das hierzulande kaum bekannt?
Am Morgen des 14. November 1897 landeten Kriegsschiffe der Deutschen Kaiserlichen Marine in der Kiautschou Bucht (heute Jiaozhou) der ostchinesischen Provinz Shandong. Zwei Wochen zuvor waren in Shandong zwei deutsche Missionare ermordet worden und Kaiser Wilhelm II. wollte den Vorfall nutzen, um ein lange geplantes Vorhaben endlich in die Tat umzusetzen – eine Kolonie zu errichten, die den wirtschaftlichen und militärischen Einfluss des Deutschen Kaiserreichs in China stärken sollte.
Empfohlener externer Inhalt
17 Jahre lang besetzten die Deutschen die Bucht. Über einhundert Jahre später ist Qingdao, das ehemals kleine Fischerdorf, wo die Kaiserliche Marine damals anlegte, eine Stadt mit 9 Millionen Einwohner*innen und einem der größten Häfen der Welt. Es hat sich viel verändert. Und doch ist Deutschland immer noch präsent.
Quingdaos Altstadt wirkt auf pittoreske Art deutsch
Ich bin in Qingdao geboren und aufgewachsen, in den mäandernden Straßen und den rotdachigen Häusern des alten Deutschen Viertels. Obwohl die Deutschen meine Heimatstadt nur bis 1914 besetzen konnten, haben sie hier Spuren hinterlassen. Schaut man von einem der umliegenden Hügel auf Qingdao hinab, sieht die pittoreske Altstadt aus, als könne sie auch in Deutschland liegen. Viele der Gebäude sind noch erhalten und stehen unter Denkmalschutz. Meine alte Schule wurde von dem deutschen Missionar und Sinologen Richard Wilhelm gegründet, damals lief ich auf dem Campus täglich an seiner Statue vorbei. Mit seiner Brille und der Fliege erschien mir dieser Mann wie ein sanfter Gelehrter. Manchmal hatten wir Musikunterricht in dem dreistöckigen Haus hinter der Statue, in dem er einst lebte.
Umso erstaunter war ich, als ich nach Deutschland zog und feststellte, dass nur eine Handvoll Menschen von Qingdao wussten. Wenn ich erzählte, woher ich kam, entschuldigten sich viele dafür, außer Beijing und Shanghai keine chinesischen Städte zu kennen. Oder sie sagten: „Ah!“, wenn ihnen einfiel, dass sie schon mal ein Tsingtao-Bier in einem chinesischen Restaurant getrunken haben.
Meine deutschen Freunde erzählten mir, dass sie im Geschichtsunterricht kaum etwas über deutschen Kolonialismus gelernt haben. Wenn überhaupt, dann ging es um Afrika. Und obwohl Kolonialgeschichte mittlerweile in der hiesigen Öffentlichkeit zu einem hitzig diskutierten Thema geworden ist, wird nur selten darüber gesprochen, was Kaiser Wilhelm II. in China tat.
„Was denken denn die Chinesen darüber?“, werde ich hier oft von interessierten Deutschen gefragt. Und an dieser Stelle wird es kompliziert.
In Qingdao sehen viele Menschen den deutschen Kolonialismus als Teil der Geschichte und Identität ihrer Stadt an. Sie erzählen freudig von den deutschen Wurzeln des Tsingtao Bier oder zeigen Touristen den Weg zur Altstadt mit ihrer deutschen Architektur. Historiker, die zur deutschen Kolonialvergangenheit in China arbeiten, loben Deutschlands Infrastrukturprojekte wie die Eisenbahntrasse, das Abwassersystem und die Häfen oft als moderne Grundlage der Stadt.
Die wohlwollenden Haltungen gegenüber der deutschen Kolonialgeschichte passen nicht so recht zum aufstrebenden Nationalismus in China heute. Die Zeit, in der unser Land von westlichen Mächten und von Japan besetzt und unterworfen wurde, nannten wir in der Schule „Das Jahrhundert der Demütigung“. Der chinesische Nationalismus von heute hat seine Wurzeln in der historischen Trauer dieser Zeit. Historiker*innen argumentieren sogar, dass die deutsche Aggression dazu beigetragen hat, diesen Nationalismus überhaupt erst entstehen zu lassen.
Nach dem berühmten Boxeraufstand wurde geplündert
Am Ende des 19. Jahrhunderts begannen arme Bauern in Shandong, die unter Naturkatastrophen, den Übergriffen der Deutschen und anderen imperialistischen Mächten litten, den sogenannten Boxeraufstand, eine antiimperialistische und anti-christliche Bewegung. Deutschland und sieben andere Nationen taten sich damals zusammen, um die Aufstände brutal zu unterdrücken. Dieser Krieg endete mit über 100.000 Toten und der Plünderung des Kaiserpalastes in Beijing. Viele der damals gestohlenen Schätze befinden sich bis heute in deutschen Museen, das hat ein aktuelles Provenienzforschungsprojekt gezeigt, an dem sieben deutsche Museen beteiligt sind.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Zu Beginn des Ersten Weltkriegs wurden deutsche Truppen in Qingdao von Japan besiegt, das damals zu den Alliierten gehörte und vor Ort eigene territoriale Ambitionen hatte. Als der Versailler Vertrag deutsche Rechte in Shandong auf Japan übertrug, anstatt sie an China zurückzugeben, strömten wütende chinesische Studierende auf die Straßen der größten Städte des Landes und riefen „Kämpft bis zum Tod, gebt mein Qingdao zurück!“ Diese Proteste, bekannt als Bewegung des vierten Mai, inspirierten eine neue Generation chinesischer Intellektueller. Manche von ihnen gründeten später die Kommunistische Partei.
In Qingdao bauten die Deutschen nur das Europäische Viertel großzügig aus, sie kümmerten sich nicht darum, das Leben der chinesischen Bevölkerung zu verbessern, die unter strikter ethnischer Trennung woanders lebte. Die Segregation bedeutete für die Chinesen und Chinesinnen Gewalt und tägliche Demütigung. Ehen zwischen Chinesen und Europäern waren verboten, da Chinesen als unterlegen und untergeordnet galten. Während die europäischen Bewohner Qingdaos sich frei in der ganzen Stadt bewegen durften, musste die chinesische Bevölkerung ab 21 Uhr eine Laterne bei sich tragen, um sofort erkennbar zu sein.
Kolonialismus bringe Fortschritt – so die Propaganda
Qingdao sollte für das deutsche Kaiserreich eine Vorzeigekolonie werden, um die anderen Kolonialmächte und die chinesischen Eliten zu beeindrucken. Dass es manchen Chinesen in der Stadt erlaubt war, Krankenhäuser und Schulen zu besuchen, half der Propaganda, Kolonialismus schaffe Zivilisation, Fortschritt und Moderne, schreibt die deutsche Sinologin Mechthild Leutner. Diese Erzählung wirkt bis heute nach. Das liegt auch daran, dass es aus dieser Zeit kaum chinesische Aufzeichnungen gibt – die Quellenlage ist so schlecht, dass sich Forschende stark auf deutsche Archive und Schriften verlassen müssen, die häufig nur die Perspektive der Besatzungsmacht widerspiegeln.
Bleibt die Frage: Warum haben die Menschen in Qingdao bis heute ein eher rosiges Bild der Kolonialbesatzung? Viele sagen mir, dass Deutschland eben das kleinere Übel im Vergleich zu Japan gewesen sei, dessen Soldaten die Stadt plünderten und später, während des Zweiten Weltkriegs, unvorstellbar brutale Verbrechen in ganz China verübten. Manche haben von der Segregation gehört, aber kaum jemand kennt die Details.
Qingdaos Wahrnehmung dieser Vergangenheit hatte immer auch mit den politischen Epochen zu tun, die China durchlaufen hat, meint Lü Yixu, Germanistin der Universität Sydney, die zu dem Thema forscht. Zu den Anfängen der Volksrepublik betonten offizielle Dogmen die Gewaltherrschaft und das Leid der Chinesen unter der deutschen Besatzung. Aber als China sich in den 1980er Jahren öffnete, gab es eine Verschiebung und „Modernisierung wurde zunehmend zum Tenor der Diskussion“, schreibt Lü. Vielleicht liegt es daran, dass die Menschen heute lieber nach Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit Deutschland suchen, statt die dunkle Vergangenheit zu erwähnen.
Ein deutscher Missionar übersetzte das „I-Ging“
China verändert sich so schnell. Immer, wenn ich nach Qingdao zurückkehre, sind alte Dinge verschwunden und es gibt neue, die ich lernen muss. Meine Familie ist aus unserer alten Wohnung ausgezogen und meine Schule befindet sich jetzt auf einem neuen, schicken Campus. Richard Wilhelm haben sie mitgenommen. Auf dem neuen Schulgelände steht eine 1:1-Replik seines alten Wohnhauses. Anders als die meisten Missionare seiner Zeit ist Wilhelm dafür bekannt, dass er sich weigerte, auch nur einen einzigen Chinesen zu konvertieren – so erzählt man es sich. Er übersetzte Klassiker wie das „I-Ging“, und wird heute dafür gefeiert, dem Westen chinesische Kultur nähergebracht zu haben.
Richard Wilhelm war wohl eher ein Ausnahmefall. Trotzdem ist den Qingdaoern kaum eine andere Person aus der Zeit der deutschen Besatzung so in Erinnerung geblieben. Vor zwei Jahren feierte meine alte Schule ihr 120-jähriges Bestehen. Der damalige deutsche Botschafter in China, Clemens von Goetze, hielt bei der Zeremonie eine Rede. Er sprach von Freundschaft und Austausch zwischen Deutschland und Qingdao. Das Wort Kolonialismus kam nicht vor. Und die chinesische Seite schien damit kein Problem zu haben.
Übersetzung aus dem Englischen: Lin Hierse
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich