Kollaboration mit Russen in der Ukraine: Stechender Schmerz
Auch nach der Befreiung gibt es in der Ukraine viele Menschen, die für die russische Armee sind. Die Ärztin Natalja aus der Region Charkiw mag das nicht hinnehmen.
W ollen Sie wirklich das Gelände des Krankenhauses betreten? Es droht Mörserbeschuss, ich rate dringend davon ab. Gehen Sie lieber zu einem Schutzraum“, sagt ein Polizist mit einem warnenden Unterton in der Stimme. Er steht in der Nähe des Eingangs des zentralen städtischen Krankenhauses in Kupjansk, einer Stadt im Osten der Region Charkiw.
In den vergangenen 20 Minuten ist das bereits der zweite derartige Versuch. An einem Checkpoint am Stadtrand hatten Soldaten eindringlich vor einem Aufenthalt in Kupjansk gewarnt. „Sind Sie sicher, dass Sie wirklich dorthin fahren wollen?“, hatte einer von ihnen gefragt und dann die Ankommenden passieren lassen.
Kupjansk gehört zu den ukrainischen Städten, die täglich unter Beschuss liegen. Die Frontlinie liegt nur 20 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Nach Angaben der örtlichen Behörden wurde hier jedes dritte Gebäude zerstört. Auch das städtische Krankenhaus wurde mehrmals von russischer Artillerie beschossen.
Das zentrale Gebäude mit dem Haupteingang wirkt verlassen und menschenleer. Das Fensterglas einiger Räume ist zerbrochen oder bereits notdürftig mit Brettern vernagelt, Windböen bewegen von Staub geschwärzte Vorhänge. Es scheint, dass es hier überhaupt keine Ärzte oder Patienten mehr gibt.
Ein paar Meter hinter dem Eingang kommt zwischen der Wand des Gebäudes und Bäumen ein Krankenwagen zum Vorschein, dann ein zweiter, dritter und schließlich ein Taxi. Ein ältere Frau versucht schnell einzusteigen. Offensichtlich ist sie gerade behandelt worden, das heißt, hier wird doch noch gearbeitet.
Schmallippige Abteilungsleiterin
In dem Gebäude aus dem vorigen Jahrhundert bröckelt der Putz, doch die meisten Fensterrahmen sind noch intakt. Drinnen ist es düster und kaum jemand zu sehen, obwohl es erst kurz nach Mittag ist. In einem schmalen Korridor sind alle Fenster zur Hälfte mit Sandsäcken verhängt. Hier ist die Ambulanz, in der Allgemeinmediziner tätig sind. Gefragt nach den Arbeitsbedingungen unter ständigem Beschuss, wird die Abteilungsleiterin schmallippig.
Mit Journalisten rede sie nicht, sagt die Frau kategorisch und fügt hinzu: „Wenden Sie sich an andere Ärzte in einer anderen Abteilung, aber gehen Sie.“ Sie zu einem Gespräch zu bewegen erweist sich als sinnlos, immer wieder kommt ein „Nein“ und die Bitte, die Abteilung so schnell wie möglich zu verlassen. Just in diesem Moment ist eine andere Stimme zu hören: „Vergeuden Sie nicht ihre Zeit, sie wird Ihnen nichts sagen.“
Die Stimme gehört einer Frau. Sie trägt eine Trainingsjacke und über der Schulter einen Rucksack mit einem gelb-blauen Band – die Farben der ukrainischen Flagge. Sie sei Ärztin und werde alles erzählen, wie die Menschen hier gelebt hätten und wie sie jetzt leben, sagt sie. Als sich die Tür ihres Büros, in das sie ihre Gäste bittet, schließt, brechen alle Emotionen aus ihr heraus. Die Frau beginnt ohne Unterlass zu sprechen, so als wolle sie alles, was sich angestaut hat, so schnell wie möglich loswerden.
Natalja ist 64 Jahre alt und seit 39 Jahren in diesem Krankenhaus als Allgemeinmedizinerin beschäftigt. Neben ihrem Schreibtisch stehen mehrere große Kisten und Taschen mit allen möglichen Gegenständen. „Ich habe meine Sachen gepackt. Die Umstände sind so, dass ich gehen und meinen Job kündigen muss“, sagt sie, und bei diesem Satz füllen sich ihre Augen mit Tränen.
„Hier wimmelt es nur so von Kollaborateuren. Ich kann nicht weitermachen! Sie können sich nicht vorstellen, wie es ist, jeden Tag mit ihnen zusammen zu sein!“, sagt sie und wird dabei fast hysterisch. Man sieht, wie schlecht es ihr geht und wie sehr sie das alles schmerzt. Laut Natalja, die während der gesamten Besatzungszeit in Kupjansk geblieben ist und weitergearbeitet hat, unterstützten die meisten ihrer Kollegen die russische Armee und warteten auf deren Rückkehr in die Stadt.
„Trotz der Befreiung von der Besatzung und des täglichen Beschusses durch russische Truppen sagen sie nach allem, was wir hier erlebt haben, immer noch, dass die Russen hierherkommen werden, alles gut wird und dass sie die Dinge in Ordnung bringen dann“, berichtet Natalja, der die Verärgerung und Verachtung deutlich anzumerken sind. [Link auf https://taz.de/Suedukraine-unter-Beschuss/!5910244&s=Befreiung+Ukraine/]
Natalja Solodovnyk
An diesem Tag hatte Natalja eigentlich ihre Kündigung schreiben wollen, aber die Krankenhausleitung sei nicht in der Stadt gewesen – die habe Angst, wegen des Beschusses hierherzukommen, meint sie. Trotzdem hat Natalja bereits ihre Sachen gepackt und zum Abschied sogar einige ihrer Kollegen zu Tee und Kuchen eingeladen. „Ich wollte diejenigen einladen, die die Ukraine lieben, die sich angemessen verhalten, aber da kamen nicht einmal zehn Leute zusammen. Es gibt viel mehr von denen, die Russland unterstützen“, sagt sie bitter.
Natalja behauptet, jeden von ihnen zu kennen: „Während der Besatzung haben sie die Russen unterstützt, für sie gearbeitet, sie sind mit Fahnen auf die Straße gegangen. Nachdem die ukrainischen Behörden in die Stadt zurückgekehrt sind, haben sie die Farben gewechselt, aber ihre Meinung nicht geändert. Alle wissen das. Ich muss bei der Arbeit mit ihnen sprechen, aber ich kann das nicht mehr, es ist unerträglich geworden.“
Natalja wurde in Russland geboren, ihre Schwester und ihr Bruder leben noch dort. „Aber ich bin Ukrainerin!“, sagt sie bestimmt. Als junge Frau ging sie zum Studium an die Universität in der westukrainischen Stadt Uschhorod. Dort lernte sie ihren späteren Mann kennen, der aus Kupjansk stammt, wo die beiden sich nach dem Abschluss ihres Studiums niederließen.
„Das Land hat mir alles gegeben – Bildung, eine Familie. Mein Mann und ich haben ein Haus gebaut, unsere Kinder wurden hier geboren, meine Arbeit und meine Patienten, für mich eine Herzensangelenheit, sind hier“, erinnert sich Natalja und lächelt dabei. Aber sobald das Gespräch wieder auf die Arbeitskollegen kommt, entgleisen ihr die Gesichtszüge. „Auch ihnen hat die Ukraine dasselbe gegeben! Aber manchen ist es einfach nicht gegeben, dankbar zu sein und die Heimat zu lieben. Mein Herz zerspringt vor Schmerz“, sagt sie.
Weiter im Krankenhaus
Während der Besatzung hat Natalja weiter im Krankenhaus gearbeitet, obwohl die meisten ihrer 2.000 Patienten evakuiert wurden. „Ich bin Ärztin, ich konnte einfach nicht anders, als zur Arbeit zu gehen.“ Sie gibt zu, dass sie unter allen möglichen Vorwänden versucht habe, russische Soldaten nicht aufzunehmen, sie habe nie einen von ihnen behandelt. Und jetzt sei es umgekehrt – ihre Kollegen versuchten, ukrainische Soldaten abzuweisen. Sie jedoch nehme sich ihrer an, wenn sie medizinische Hilfe bräuchten.
Als Natalja über das Leben unter der Besatzung spricht, sagt sie plötzlich, dass sie denunziert worden sei. Kollaborateure hätten sogar über sie in dem von den Russen gegründeten Telegram-Kanal „Lasst uns Kupjansk säubern“ geschrieben. Sie zieht ihr Handy aus der Tasche und zeigt den Screenshot eines Posts, der ihr von einem ihrer Patienten geschickt wurde.
Darauf ist ein Foto von ihr im Arztkittel und folgender Text: „Solodovnyk Natalja Josypiwna hat, als Russland hier war, weiter gearbeitet, es aber gleichzeitig geschafft, die Arbeit zu sabotieren und zu behaupten, dass Kupjansk die Ukraine ist und sein wird.“ Natalja lächelt und fügt hinzu: „Dank dieses Kanals habe ich herausgefunden, wer in unserer Stadt nie für die Ukraine war.“
Auch der russische Inlandsgeheimdienst FSB wurde bei ihr vorstellig. Der zuständige Offizier, ein junger Mann namens Sascha, stammte aus Burjatien (eine autonome Republik im Fernen Osten Russlands, Anm. d. Red.). Angeblich hatte sich jemand über Natalja beschwert; dass sie auch vor den Russen weiterhin Ukrainisch spreche: „Deshalb hat er mich gedrängt, ‚normal zu sprechen‘ “, erzählt sie. Im Allgemeinen sagt Natalja, hätten sich die Russen sehr bemüht, zu zeigen, dass sie gut und höflich und für immer hierhergekommen seien.
„Sie waren sehr überrascht, dass wir in unseren Dörfern asphaltierte Straßen und in den Häusern Gas haben. Sie dachten, dass das Städte seien. Ich habe von vielen gehört, dass es ihnen hier sehr gut gefalle und sie gerne ihre Familien hierherholen würden. Sie dachten wirklich, dass niemand sie hier vertreiben würde. Sie hatten nicht einmal Zweifel“, sagt Natalja.
Die Ärztin erzählt, dass sie nach der Befreiung der Stadt im vergangenen September mehrere Male die sogenannte Filtration durchlaufen habe. Diesem Verfahren hätten die ukrainischen Spezialdienste alle unterzogen, die während der Besatzung hier gelebt und in staatlichen Einrichtungen gearbeitet hätten, welche unter der Kontrolle der russischen Besatzer standen.
Sie selbst habe alles über ihre Kollegen erzählt, die sie für Kollaborateure gehalten habe. „Wahrscheinlich hat die Polizei jetzt einfach nicht genug Zeit, um diese Fälle zu untersuchen. Sie hat jetzt viele andere Aufgaben. Ich hoffe nur, dass das nach dem Krieg nicht vergessen wird“, sagt Natalja.
In Kupjansk haben ukrainische Strafverfolgungsbeamte sogar schon vor und dann nach der Befreiung eine wohl recht große Anzahl von Kollaborateuren dingfest gemacht. Der erste Beamte, der mit den Russen zusammenarbeitete, war der damalige Bürgermeister der Stadt, Gennadi Matsegora. Nach ihm liefen auch viele medizinische Fachkräfte zu den Besatzern über. Darunter waren auch Vertreter der Leitung des Krankenhauses, in dem Natalja arbeitet. Diejenigen, gegen die die ukrainische Justiz ein Strafverfahren wegen Hochverrats eröffnet hat, sind meist gemeinsam mit den Besatzern nach Russland geflohen. Natalja glaubt jedoch weiterhin, dass die Behörden früher oder später ihrer habhaft werden.[Link auf https://taz.de/Situation-in-ukrainischen-Gefaengnissen/!5899347&s=Ukraine+Kollaboration/]
„Wenn der Krieg zu Ende ist, will ich Wladimir Putin vor den Internationalen Gerichtshof bringen“, sagt sie. „Aus welchem Grund ist er gekommen und wovon wollte er mich befreien? Von der Freude an der Unterhaltung mit meinen Kindern, zu der Zeit, als ich noch arbeiten konnte?“
Nataljas Tochter, die zu Beginn des Krieges in Charkiw lebte, musste aus der Ukraine fliehen und ist jetzt in den Vereinigten Staaten. „Dort hat sie ein Kind auf die Welt gebracht. Während dieser Zeit war ich nicht bei ihr. Ich habe meinen Enkel noch nicht gesehen! Ich habe meinen Sohn ein halbes Jahr lang nicht gesehen, der damals in Charkiw geblieben ist. Ich hatte nicht einmal die Möglichkeit, ihn zu kontaktieren, weil wir weder eine Telefonverbindung noch Internet hatten. Wovon hat mich Putin befreit?“, wiederholt Natalja und bricht in Tränen aus. Sie ist verbittert und sagt dann noch: „Er hat mir die Gesundheit genommen, er hat mir das Vertrauen in die Zukunft genommen. Aber er konnte mir nicht das Leben nehmen. Doch wenn es keine Freiheit gibt, dann ist dieses Leben sinnlos …“
Natalja erzählt, dass sie Menschen mit unterschiedlichen politischen Meinungen immer mit Verständnis begegnet sei. Aber nach all dem, was Russland der Ukraine angetan habe, könne sie Rechtfertigungen für die Aktionen des Kreml und des russischen Militärs nicht tolerieren. „Ich hatte Respekt vor denjenigen, die früher die Russen unterstützt haben. Aber als ich dann alles mit eigenen Augen gesehen habe, habe ich meine Meinung geändert. Ich glaube, dass diese Menschen nicht mehr denken können und komplett von Propaganda vergiftet werden.“
An den Tag, an dem Kupjansk von der russischen Besatzung befreit wurde, erinnert sich Natalja sehr gut. Das sei eine große Überraschung gewesen. Die Nacht zuvor hatten sie und ihr Mann im Keller ihres Hauses verbracht, auch eine Freundin mit Familie übernachtete dort. Als ihre Freundin am Morgen in die Stadt ging, kam sie sehr schnell zurückgelaufen und rief: „Stellt euch vor, die Unseren sind in der Stadt!“ Natalja glaubte ihr nicht, lief selbst in die Stadt, um zu überprüfen, ob das stimmte.
„Ich ging auf die Straße und sah sofort ihre Kolonne“, erinnert sie sich und erzählt weiter. „Ich bin 64 Jahre alt. Wie von Sinnen lief ich ihnen entgegen und wedelte mit den Armen. Das war so ein Glücksgefühl! Ich weinte. Ich wollte vor diesen Jungs niederknien, die uns beschützen und ihr Leben für uns geben.“ Als sie das sagt, beginnt Natalja wieder zu weinen.
Hoffnung auf Befreiung war verloren
Natalja räumt ein, dass selbst die Hartnäckigsten nach sechs Monaten Besatzung die Hoffnung auf eine Befreiung verloren hätten. „Wir hörten, dass die Kämpfe immer näher kamen, aber wir konnten uns kaum vorstellen, dass die Russen von hier abziehen würden. Sie zahlten uns noch am Vorabend der Befreiung unsere Gehälter in Rubel aus. Das tut doch niemand, wenn er vorhat, sich zurückzuziehen“, sagt die Ärztin.
Mit einem verschmitzten Lächeln lüftet Natalja ein Geheimnis: Sie habe ihr gesamtes Gehalt, das sie von den Russen erhalten habe, für die ukrainische Armee und Freiwillige gespendet. „Es ging es ums Prinzip. Schließlich hat uns Kyjiw während der gesamten Zeit der Besatzung unsere Gehälter weitergezahlt.“
Jetzt verlässt Natalja dennoch ihre Stadt. Sie hat Angst, in Kupjansk zu bleiben, dabei geht es jedoch nicht um die ständigen Angriffe. „Ich glaube aufrichtig an unsere Armee und unsere Jungs, aber ich habe Angst. Wenn die Russen wieder hierherkommen, werden sie mich nicht mehr pfleglich behandeln, nach allem, was ich bereits über sie gesagt habe.“
Dass die Russen erneut in Richtung Kupjansk angreifen wollen, zeigen derzeit die Aktivitäten ihrer Truppen an diesem Frontabschnitt.[Link auf https://taz.de/Kaempfe-im-Osten-der-Ukraine/!5912329&s=Russische+Armee+taz/]
Die Seele ist unruhig
Eigentlich will Natalja hier nicht alles aufgeben. Aber die Atmosphäre um sie herum ersticke sie. „Wer wechselt im Alter seinen Wohnort, kündigt seinen Job und geht ins Ungewisse? In einer normalen Situation – niemand! Aber meine Seele ist hier unruhig“, sagt sie, greift nach den gepackten Kisten und schließt die Tür ihres Dienstzimmers. Am Eingang des Krankenhauses kommt ihr ein Mann bereits mit einem Karren an der Hand entgegen. Es ist Wowa, ihr Mann.
„Natürlich ist das alles schwer für uns. Der Krieg ist zu einem Erkennungszeichen der Menschen geworden. Die schlechten sind sichtbarer geworden, die guten noch besser. Kupjansk ist die Ukraine – oder, Wowa?“, fragt sie ihren Mann, der die Kisten auf den Karren lädt. „Natürlich! Das war und ist so und wird auch in Zukunft so sein“, antwortet der.
Als alles verstaut ist, sagt Natalja ernst: „Wenn ich 50 Jahre und nicht 64 Jahre alt wäre, dann würde ich selbst zur Armee gehen. Wenn ich mein Leben für die Freiheit geben müsste, würde ich das tun.“ Wieder fängt sie an zu weinen. Ihr Mann legt zärtlich seinen rechten Arm um ihre Schulter, mit der linken Hand nimmt er den Karren. „Alles wird gut! Wenn wir doch nur genug Ausrüstung und Waffen hätten. Unsere Leute haben genug Durchhaltevermögen, um zu gewinnen“, meint er.
Unter dem Dröhnen neuer Explosionen machen sich die beiden langsam auf den Weg nach Hause.
Aus dem Russischen Barbara Oertel
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