Südukraine unter Beschuss: Cherson, leidgeprüft und stolz

Zweieinhalb Monate nach der Befreiung Chersons haben die Ukrai­ne­r:in­nen endlich ihre Angst verloren. Doch der russische Beschuss geht weiter.

Eine Verkäuferin wartet auf einem Markt in Cherson auf Kundschaft

Marktverkäuferin wartet auf Kundschaft, Cherson nach der Befreiung im November 2022 Foto: dpa

Schon in den ersten Minuten nach der Bekanntgabe, dass Cherson von der russischen Besatzung befreit worden war, wollte ich hierherkommen. Wie alle Ukrai­ne­r*in­nen habe ich mit angehaltenem Atem beobachtet, wie die mutigen Ein­woh­ne­r*in­nen von Cherson drei Monate lang friedlich gegen die Besatzer protestierten. Ukrainische Fahnen gegen russische Panzer. Es war unmöglich, ohne Tränen, Angst und Bewunderung zuzusehen.

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Achteinhalb Monate später gelang es der ukrainischen Armee, Cherson zu befreien. Drei Tage lang feierten die Menschen. Heute ist die Euphorie der Unruhe gewichen. Jeden Tag werden in Cherson und im befreiten Teil der Region Einheimische getötet oder verletzt. Die russischen Einheiten beschießen die Städte und Dörfer nun vom linken Ufer des Flusses Dnipro, der die Region in zwei Hälften teilt, mit Mörsern, Kanonen und Raketenartillerie.

Ständig kommt es zu Artilleriegefechten zwischen Besatzern und ukrainischer Armee. „Das sind unsere. Sie antworten. Haben Sie keine Angst!“­– sagen beruhigend und mit ein wenig Stolz die Einheimischen, die gelernt haben, die Geräusche von Explosionen zu unterscheiden.

Die Russen werden hier nur „Orks“ genannt. Generell kann man in Cherson kaum noch etwas Gutes über Putin, Russland und die Russen selbst hören. Mit der Besetzung der Stadt hängten die Okkupanten Plakate mit den Slogans „Russland ist für immer hier“, „Cherson ist eine russische Stadt“ und „Cherson gehört für immer zu Russland“ an die Straßen.

Die „ewige russische Stadt“

Diese Slogans sind inzwischen zu lokalen Witzen und Memes geworden. Oft hört man von Einheimischen über einen erneuten Beschuss mit der ironischen Bemerkung: „Oh, die beschießen schon wieder ihre ewige russische Stadt!“

Obwohl die Strom- und Wasserversorgung in fast allen Teilen Chersons wiederhergestellt wurde, hat es das Leben hier nicht eilig zurückzukehren. Die Stadt ist menschenleer, denn es ist nicht abzusehen, wo die Granaten nach einem weiteren chaotischen Beschuss einschlagen werden.

Einige Teile der Stadt, die näher am Flussufer liegen, sind wie ausgestorben: Die Geschäfte sind geschlossen, die Fenster mit Schildern vernagelt und es sind keine Menschen auf den Straßen. Die öffentlichen Verkehrsmittel fahren ab 15 Uhr nicht mehr, selbst relativ belebte Straßen werden bei Einbruch der Dunkelheit menschenleer und ab 19 Uhr gilt eine Ausgangssperre.

Obwohl die Kämpfe nach der Befreiung der Stadt wieder aufgenommen wurden, sind Moral und Optimismus der Cher­so­ner:in­nen weiterhin hoch. Die Menschen geben zu, dass sie nach achteinhalb Monaten unter der Besatzung erst jetzt anfangen, mit erhobenem Kopf durch die Straßen zu gehen und dass das Lächeln in ihre Gesichter zurückkehrt. Sie haben keine Angst mehr. Das Wichtigste ist, dass sie wieder zu Hause sind. Und sie sind bereit, jedes Leid zu ertragen, nur um die Rückkehr der Besatzer zu verhindern.

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Einen Sammelband mit den Tagebüchern hat der Verlag edition.fotoTAPETA im September herausgebracht.

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Anastasia Magazova ist 1989 auf der Krim (Ukraine) geboren. Studium der ukrainischen Philologie sowie Journalismus in Simferopol (Ukraine). Seit 2013 Autorin der taz und seit 2015 Korrespondentin für die Deutsche Welle (DW). Absolventin des Ostkurses 2014 und des Ostkurses plus 2018 des ifp in München. Als Marion-Gräfin-Dönhoff-Stipendiatin 2016 Praktikum beim Flensburger Tageblatt. Stipendiatin des Europäischen Journalisten-Fellowships der FU Berlin (2019-2020) in Berlin. Als Journalistin interessiert sie sich besonders für die Politik in Osteuropa sowie die deutsch-ukrainischen Beziehungen.

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Eine Illustration. Ein riesiger Stift, der in ein aufgeschlagenes Buch schreibt.

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