Klimaphysiker über Erderhitzung: „Nicht nur auf 1,5 Grad fixieren“
Der Klimaphysiker Anders Levermann ist dagegen, das 1,5-Grad-Ziel als absolute Forderung zu sehen. Er warnt vor Widerstand gegen Ökomaßnahmen.
taz: Herr Levermann, die Klimaaktivisten von Fridays for Future und die Gretawelt verlangen kategorisch, dass am Ziel festgehalten wird, die Erderhitzung auf 1,5 Grad zu begrenzen. Das unterstützen Sie sicher?
Anders Levermann: Es geht darum, gefährlichen Klimawandel zu vermeiden. Falsch ist, denke ich, sich dabei nur auf 1,5 Grad zu fixieren.
Fridays beziehen sich darauf, dass die Klimawissenschaft 1,5 Grad verlangt. Das Argument ist, dass das Verpassen von 1,5 Grad sehr schlimme Folgen haben wird und „wir Gefahr laufen, uns Rückkopplungseffekten im Klimasystem auszusetzen, die nicht mehr aufzuhalten sind“, wie die Klimapolitik-Aktivistinnen Luisa Neubauer und Carola Rackete schreiben.
Was die Folgen angeht, haben die Beiden nicht unrecht. Ich arbeite seit 18 Jahren daran, die Folgen des Klimawandels zu untersuchen, und es sind viele. Es gibt Systeme, die kippen können, die Arktis, die Antarktis, die Korallenriffe. Aber ein weit verbreitetes Missverständnis ist, dass die globale Erwärmung in eine selbstverstärkende Spirale gerät, wenn wir sie nicht auf 1,5 Grad begrenzen. Davor haben viele Angst, aber das ist nicht der Fall.
Anders Levermann, 47, leitet den Bereich Nachhaltige Lösungsstrategien am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) und lehrt an der Columbia University.
Deshalb können die Fridays immer noch sagen, dass die Begrenzung auf 1,5 Grad wünschenswert ist, aber sie können nicht sagen, dass die Wissenschaft zwingend 1,5 Grad verlangt. Verstehen Sie mich nicht falsch, mit jedem Zehntelgrad mehr können schlimme Dinge passieren, aber es gibt keine harte Evidenz, dass eine Erwärmung um 2 Grad unsere Gesellschaften fundamental bedrohen würde.
Ein schlagartiges Ausschalten der Kohlekraftwerke, der Verbrennungsmotoren würde das aber sehr wahrscheinlich tun, es würde den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden. Und dieses schlagartige Ausschalten wäre wohl die Konsequenz, wenn wir bei der jetzt leider schon weit vorangeschrittenen Erwärmung noch mit aller Gewalt das 1,5-Grad-Ziel einhalten wollten. Ich bin sehr für Tempo, aber das gilt es abzuwägen.
Ein zentrales Argument ist die Forderung nach „Klimagerechtigkeit“. Alle dürfen nur noch gleich wenig CO2 ausstoßen.
Es ist vollkommen richtig, dass die reichen Länder größere Anstrengungen machen müssen. Weil sie es ökonomisch und technisch können und weil sie eine Verantwortung haben. Aber das Restbudget für ein Erreichen von 1,5 Grad ist so klein, dass die USA dann 2023 klimaneutral sein müssten. Das kann nicht gehen.
Es bedeutet, dass innerhalb von drei Jahren alle Kohlekraftewerke, alle Gaskraftwerke, alle Ölkraftwerke und alle Verbrennungsmotoren ausgeschaltet sein müssten und es auch keine Betonproduktion mehr geben dürfte. Das ist nicht verträglich mit einer Demokratie und 70 Millionen Trump-Wählern, die man nicht mögen muss, die aber eine Realität sind.
Wie könnte man es anders hinkriegen?
Alle müssen auf null Treibhausgas Ausstoß bis 2050, und sie müssen jetzt sofort mit der Reduktion anfangen. Das ist nicht gerecht, aber es bedeutet, dass die Staaten, die viel emittieren, sich mehr anstrengen müssen, und die weniger entwickelten starten gleich durch.
Damit bleibt man nicht unter 1,5 Grad, aber man bleibt unter 2 Grad, der im Paris Abkommen formulierten Obergrenze. Und unter der sollten wir wirklich bleiben. Die politischen und wirtschaftlichen Instrumente, um dieses Ziel zu erreichen, sind jetzt das Wichtigste, worauf wir uns konzentrieren müssen.
Noch mal: Was ist mit den Kipppunkten?
Erstmal: Es gibt Kipppunkte von Teilen des Klimasystems, aber wir können nicht genau sagen, bei welcher Temperatur wir die für welche Elemente im Erdsystem überschreiten. Dass wir sie bei unbegrenzter Erwärmung irgendwann überschreiten, ist klar, nur wann? Da gibt es einfach Unsicherheitsbereiche.
Aber, und das ist mir wichtig, es gibt definitiv nicht den einen Kipppunkt für das gesamte Klima, vor dem sich alle fürchten, der die Erwärmung dann immer weiter beschleunigt und vorantreibt. Alle Länder auf null Emissionen bis 2050 hätte den Vorteil, dass damit das Risiko sinkt, dass es gesellschaftlich kippt. Denn auch gesellschaftlich kann es Kipppunkte geben, positive oder negative.
Sie meinen, dass also demnächst nicht die Leute auf die Bäume klettern, die 1,5 Grad wollen, sondern die in radikaler Opposition zu ernsthafter Klimapolitik stehen.
Ja. Stellen wir uns vor, dass wir tatsächlich innerhalb der nächsten drei Jahre während der Biden-Administration alle Kohlekraftwerke in den USA abschalten und alle Autos mit Verbrennungsmotor verboten werden, dann bedeutet das faktisch, dass bei vielen auf dem Land der Strom abgeschaltet wird und das Leben zum Erliegen kommt. Wie soll das gehen, ohne dass ein Bürgerkrieg ausbricht?
Dann könnten die global zerstörerischen Großemittierer aber einfach sagen, sorry, wir müssen weitermachen, weil sonst die Demokratie kippt.
Das ist das Argument, das sie seit langem bringen – und in der Form ist es übel falsch. Einfach weitermachen mit den Treibhausgasen würde nämlich wirklich die Demokratie kippen, weil Wetterextreme und so weiter unsere Sicherheit und unseren Wohlstand kaputtmachen. Nein, wir können es schaffen, nur eben nicht in drei Jahren in den USA. Wir müssen jetzt anfangen, aber wir brauchen etwas Zeit.
Faktisch haben wir 1,5 Grad schon gerissen, so traurig das ist. Wir haben jetzt 1,2 Grad Erwärmung im Durchschnitt, und dann gibt es noch nachlaufende Effekte. Selbst wenn wir die derzeitige CO2-Konzentration in der Atmosphäre nicht mehr erhöhen würden, bekämen wir noch wenigstens ein halbes Grad drauf.
Manche sagen, wir wären schon bei 1,3 Grad?
Wir haben Schwankungen im System und Unsicherheitsbereiche, das ist normal. Es gibt eine Spannbreite von 0,4 Grad, auch dadurch wird die kategorische 1,5-Grad-Forderung problematisch.
Nun haben sich Teile der klimapolitisch engagierten Leute auf die Grünen eingeschossen. Diese seien nicht „radikal“ genug, weil sie wie alle anderen auch keinen 1,5-Grad-Plan hätten.
Der Punkt ist, dass wir eben leider nicht in der Welt leben, in der es um 1,5 oder 2 Grad geht. Wir sind weltweit von den Emissionen her auf dem Weg zu über 3 Grad Erwärmung, optimistisch gerechnet, eigentlich über 4 Grad noch innerhalb dieses Jahrhunderts. Wenn wir nicht sogar angesichts der Kohle-Renaissance in Asien eher wieder auf dem Weg zu 5 Grad sind, auf dem wir bis vor fünf Jahren waren.
Was folgt daraus?
Der Streit innerhalb derer, die ökologisch denken, ist das Letzte, was wir brauchen. Man sollte den Streit mit der nicht ökologisch denkenden Welt führen.
Eine Protestbewegung als nicht institutionalisierter Teil einer liberalen Demokratie ist aber nicht für Realpolitik zuständig, sondern für maximale Forderungen, das ist ihr Job.
Das verstehe ich. Sie sollen 1,5 Grad fordern. Aber sie sollen nicht gegen die kämpfen, die 2 Grad fordern.
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