Overshoot-Debatte: Sind die 1,5 Grad noch zu retten?
Klimawissenschaftler*innen sind sich uneinig, ob das 1,5-Grad-Ziel noch taugt. Woran man Klima-Erfolge und globale Gerechtigkeit messen kann.
A ls sich 2015 in Paris die Regierungen der Welt auf das 1,5-Grad-Ziel einigten, jubelten die Delegierten auf der Klimakonferenz, applaudierten, pfiffen, umarmten sich: endlich ein ambitioniertes Klimaziel! Wissenschaftler*innen, Journalist*innen und Aktivist*innen feierten das Pariser Abkommen als historisch. Neun Jahre später erhitzt sich die Erde immer weiter.
2024 ist offiziell das erste Jahr, das die 1,5-Grad-Grenze geknackt hat. Das 1,5-Grad-Ziel wurde damit nicht unwiederbringlich verfehlt – das lässt sich erst wissenschaftlich feststellen, wenn es jahrzehntelang im Durchschnitt heißer ist als 1,5 Grad. Aber das erste Jahr über 1,5 Grad hat symbolische Bedeutung. Und es spaltet die Klimaforschung in der Frage, wie wir über den Kampf gegen die Erderhitzung sprechen sollten.
Zeke Hausfather sagt: „Das 1,5-Grad-Ziel ist tot.“
Tessa Möller sagt: „Das 1,5-Grad-Ziel wird nie sterben.“
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Die Klimawissenschaftler*innen haben beide am aktuellen Bericht des Weltklimarats IPCC mitgearbeitet, dem Standardwerk der Klimaforschung, in dem Hunderte Wissenschaftler*innen regelmäßig den Stand der Forschung zusammenfassen. Und doch sind sie sich uneinig. Die Welt hat die 1,5-Grad-Grenze überschritten. Brauchen wir sie dann noch?
Ein historischer Erfolg
Das 1,5-Grad-Ziel, auf das sich die Regierungen der Welt auf der Klimakonferenz 2015 in Paris geeinigt hatten, war ein Kompromiss. Viele Staaten wollten sich ein weniger ambitioniertes Ziel setzen, aber besonders die kleinen Inselstaaten beharrten auf ihrer Position, so wenig Klimawandel wie möglich zuzulassen: Die Erderhitzung bedrohe ganz konkret ihre Existenz, weil sie vom Meeresspiegelanstieg verschluckt werden könnten. Die besonders gefährdeten Staaten konnten sich mit Deutschland und Frankreich verbünden, sogar die USA machten Druck. Das Klimaabkommen von Paris war ein historischer Erfolg, den noch während der Konferenz die wenigsten für möglich gehalten hatten.
„Das war ein gut gemeinter Vorstoß“, sagt Zeke Hausfather. „Aber vor Paris gab es kaum Forschung zu 1,5 Grad. Selbst die besonders optimistischen Szenarien im Weltklimarat-Bericht liefen auf 1,7 oder 1,8 Grad Erwärmung hinaus.“ Der US-Amerikaner Hausfather leitet die Klima-Abteilung des Finanzdienstleisters Stripe, der auch die Finanzierung von Technologien zur Entnahme von CO2 aus der Atmosphäre vorantreiben will. „Gleichzeitig ist das, was 2015 möglich schien, 2024 schon viel weniger machbar.“ Hausfather hält es für unrealistisch, dass die Erderhitzung tatsächlich auf 1,5 Grad begrenzt werden kann. Die globalen Emissionen müssten dafür in den nächsten zehn Jahren auf null sinken. „Das widerspricht nicht den Gesetzen der Physik, aber es ist unglaublich unwahrscheinlich und würde wohl enormes menschliches Leid verursachen, weil in ärmeren Regionen immer noch viele auf Kohle, Öl und Gas angewiesen sind. Wir haben einfach zu lang gewartet.“
Nadine Mengis, Klimaforscherin
Tessa Möller sieht das anders. „Schlussendlich läuft es darauf hinaus, dass jede Tonne CO2 zählt.“ Sie fürchtet, dass „nach 1,5 Grad auf politischer Ebene 2 Grad kommen“, also dass, statt um jedes Zehntelgrad Erderhitzung zu kämpfen, Politiker*innen einfach auf zwei Grad als nächstes Ziel umschwenken.
Möller forscht am Internationalen Institut für angewandte Systemanalyse in Wien und promoviert an der Humboldt-Universität Berlin. Im August veröffentlichte sie als Erstautorin eine Studie im Fachmagazin Nature Communications. Darin warnt sie, unter anderem zusammen mit dem Klimaforscher Johan Rockström, davor, die 1,5-Grad-Grenze zu überschreiten: Es sei einfach nicht klar, bei welchem Temperaturanstieg einige Erdsysteme wie der Westantarktische Eisschild, der Amazonas oder die Atlantische Umwälzzirkulation kippen, also unwiederbringlich kollabieren. Schon bei 1,5 Grad Erderhitzung sei die Gefahr groß, und sie wachse mit jedem Zehntelgrad stärkerer Erderhitzung, besonders nach zwei Grad.
1,5 Grad nur kurz überschreiten
Umso wichtiger findet Möller es, die 1,5 Grad immer weiter anzupeilen, „aus der Hoffnung, dass wir 1,5 Grad kaum überschreiten und die Temperatur dann wieder zum Sinken bringen können“. Die Zeit zwischen dem Überschreiten des in Paris vereinbarten Ziels und der Rückkehr solle möglichst kurz sein. Dieser Zeitraum heißt „Overshoot“: Die Welt schießt über ihr Temperaturziel hinaus, kehrt dann aber zurück.
Um die globale Durchschnittstemperatur rasch wieder zu senken, reicht die sogenannte Klimaneutralität nicht aus, also nur so viel CO2 aus der Atmosphäre zu entfernen, wie ausgestoßen wird. Stattdessen müsste es zu netto-negativen Emissionen kommen: Wir ziehen mehr CO2 aus der Atmosphäre, als wir ausstoßen. Heute geschieht CO2-Entnahme vor allem durch das Aufforsten von Wäldern und die Wiedervernässung von Mooren: Knapp zwei Milliarden Tonnen CO2 entnimmt die Natur mit menschlicher Hilfe jährlich der Atmosphäre.
Nur etwa zwei Millionen Tonnen CO2, ein Tausendstel also, werden von neuartigen Technologien gebunden. Dabei wird CO2 zum Beispiel direkt aus der Luft gefiltert und unterirdisch gespeichert. Allein für Klimaneutralität werden neuartige Technologien zur CO2-Entnahme einigen Berechnungen zufolge nicht Millionen, sondern Milliarden Tonnen CO2 aus der Atmosphäre entfernen müssen – und noch viel mehr, wenn mehr CO2 entnommen werden soll, als ausgestoßen wird. Unabhängig von der technischen Machbarkeit befürchten einige Wissenschaftler*innen, dass mit CO2-Entnahme-Technologien davon abgelenkt wird, die Treibhausgasemissionen zu senken.
Schließlich könne man die ausgestoßenen Gase ja wieder aus der Atmosphäre entfernen. „Mitigation Deterrence“ nennen die Forscher*innen das. Tessa Möller ist eine von denen, die davor warnen: „Meine größte Sorge ist, dass aktuell CO2-Entnahme als Lösung für die Klimakrise vor allem von fossilen Energieproduzenten gepriesen wird, damit die ihr Geschäftsmodell nicht ändern müssen. Das ist wirklich nicht das, was wir brauchen.“
Zeke Hausfather ist weniger besorgt: „CO2-Entnahme, die wirklich langfristig CO2 aus der Atmosphäre entfernt, über Jahrtausende, ist teuer. Wenn du CO2 nach dem Ausstoß wieder entfernst, statt den Ausstoß zu vermeiden, gibst du zwei- bis dreimal so viel aus.“ Aus dem gleichen Grund ist Hausfather skeptisch, was die Rückkehr zu 1,5 Grad nach einem Overshoot angeht: „Wer das will, fordert implizit, Billionen Dollar für CO2-Entnahme auszugeben“, sagt er. Billiger als 100 Dollar pro Tonne werde CO2-Entnahme wohl nicht werden.
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So bald wie möglich klimaneutral werden
Technologien zur CO2-Entnahme seien wichtig, um solche Emissionen auszugleichen, die sich nicht vermeiden lassen. Zum Beispiel wird angenommen, dass sich Zement nicht ohne Treibhausgasausstoß herstellen lässt. „Wenn wir so viel Geld dafür ausgeben wollen, zu 1,5 Grad zurückzukehren, ist das sicher kein schlechtes Ziel“, sagt Hausfather. „Aber wir sollten uns im Klaren darüber sein, wie aufwendig das wird.“
Statt an der 1,5-Grad-Grenze festzuhalten, will Hausfather sich lieber darauf konzentrieren, so früh wie möglich Klimaneutralität zu erreichen: „Worum es letztendlich geht, ist weniger das 1,5-Grad-Ziel, sondern eher, den Gipfel der Erwärmung so niedrig wie möglich zu halten. 1,56 Grad wären toll, 1,57 Grad wären toll, sogar 1,8 wären besser als das, worauf wir gerade zusteuern. Ich sorge mich eher um den Gipfel der Erwärmung als darum, was wir danach machen.“
Das ist ein Teil der Overshoot-Debatte: Forscher*innen wie Hausfather wollen nicht von einer möglichst frühen Klimaneutralität ablenken. Möller und ihre Kolleg*innen wollen vor den Gefahren einer Welt warnen, die heißer als 1,5 Grad ist, und die Risiken durch CO2-Entnahme minimieren.
Tessa Möller hat aber noch eine andere Motivation, die 1,5-Grad-Grenze zu verteidigen: Gerechtigkeit. „1,5 Grad sollten unser Referenzwert sein für alles, was passiert“, sagt sie. Die Modelle zeigten, dass es möglich wäre, mit den jetzt verfügbaren Technologien die Erderhitzung auf 1,5 Grad zu begrenzen. Alle Folgen eines noch höheren Temperaturanstiegs seien also vermeidbar: die häufigeren Dürren und stärkeren Stürme, der Anstieg des Meeresspiegels.
„Wenn wir 1,5 Grad als Referenzwert nehmen, sind wir demgegenüber rechenschaftspflichtig: Wenn wir overshooten, wer ist dann verantwortlich dafür, das CO2 wieder aus der Atmosphäre zu entfernen? Da könnte man schauen, welche Länder ihr Budget überschritten haben, obwohl eigentlich die nötigen Technologien schon da sind, um unsere Emissionen weitestgehend zu reduzieren.“ Diese Länder, sagt Möller, machten dadurch Schulden, CO2-Schulden. „Das ist ein langfristiges Problem“, gibt sie zu, „aber es ist jetzt schon sehr wichtig, darüber nachzudenken. Irgendwann werden wir uns damit beschäftigen müssen.“
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Klimagerechtigkeit fordern Aktivist*innen schon lange: Die reichen Länder, die die Erde mit ihren Treibhausgasemissionen erhitzen, sollten für die Schäden bezahlen, wenn ärmere Länder von Stürmen, Dürren oder Fluten verwüstet werden, die aufgrund des Klimawandels häufiger und stärker werden. Reich sind die Industriestaaten schließlich nicht zuletzt damit geworden, Kohle, Öl und Gas zu verbrennen und darauf ihre Wirtschaft aufzubauen. Möller geht noch einen Schritt weiter: Wer mehr CO2 ausstößt, als es die 1,5-Grad-Grenze zulässt, soll nicht nur für die Katastrophen bezahlen müssen, sondern auch dafür, dieses CO2 wieder aus der Atmosphäre zu entfernen.
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Zeke Hausfather hält auch das für unrealistisch: „CO2-Schulden zu dokumentieren ist eine gute Sache. Aber ob die Welt solchen Gerechtigkeitsfragen Taten folgen lässt, hängt von den politischen Realitäten in der Zukunft ab.“ Schon jetzt gebe es die Forderung nach Ausgleichszahlungen der reichen an die ärmeren Länder, „aber das Verlangen danach aufseiten der reichen Länder ist begrenzt“ – kaum ein Industriestaat will sich auf eine Diskussion über Klima-Reparationen einlassen, weil die sehr schnell sehr hoch werden können.
Es gibt also die, die wie Tessa Möller an der 1,5-Grad-Grenze festhalten und über die Zeit nach dem Gipfel der Emissionen sprechen wollen. Sie wollen so Kipppunkte vermeiden und unsere CO2-Schuld gegenüber den nachfolgenden Generationen und anderen Ländern bemessen. Diese Schuld sollen wir dann durch die Entnahme von CO2 aus der Atmosphäre begleichen. Und es gibt die, die wie Zeke Hausfather 1,5 Grad für gescheitert halten, sich lieber auf einen möglichst frühen Rückgang der Emissionen konzentrieren und CO2-Entnahme dafür nutzen wollen, schwer vermeidbare Emissionen auszugleichen. Vorsicht und Gerechtigkeit gegen Pragmatismus gewissermaßen. Das wäre eine schöne Zusammenfassung. Wenn es da nicht Nadine Mengis gäbe.
Spricht man mit Mengis, wird schnell klar: Da ist jemand nicht glücklich darüber, in welche Richtung sich die Debatte bewegt. Sie beklagt die „Arroganz der Menschheit“, seufzt immer wieder und schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. Mengis forscht am Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel unter anderem dazu, welche Auswirkungen CO2-Entnahme auf die Meere haben wird. Und sie sagt, über Overshoot zu sprechen sei nicht nur voreilig – sondern gefährlich.
„Ich finde die 1,5-Grad-Grenze wichtig, aber nicht mit Overshoot“, sagt sie. „Ich glaube auch, dass wir Technologien zur CO2-Entnahme brauchen, um Netto-Null-Ziele zu erreichen. Aber ich bin immer wieder frustriert, wenn Leute sagen, 'dann haben wir ja die Lösung!’“ Mitigation Deterrence, die Angst vor zu viel Hoffnung in CO2-Entnahme, „die ist real“, sagt Mengis.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Darin ist sie sich einig mit Tessa Möller. Aber was die CO2-Schulden angeht, widerspricht sie. In einem Meinungsstück, das im Fachmagazin Nature abgedruckt wurde, kritisiert sie die Schulden-Metapher, die Möller so wichtig ist. Denn Schulden implizieren Zinsen. Und um zu verstehen, welche Zinsen uns die Erde in Form von Meeresspiegelanstieg, Wetterveränderungen und veränderten Ozeanströmungen in Rechnung stellt, „braucht es wesentlich mehr Forschung“.
Das ist Fachmagazin-Sprache. Übersetzt heißt das: Wir haben keine Ahnung, wie die Erde reagiert, wenn wir CO2 entfernen, wie sich dann Niederschlagsmuster, Wolkenbildung, der Meeresspiegelanstieg verändern oder in Mengis’ Worten: „Wir wissen nicht genau, was alles zurückruderbar ist.“ Wenn wir Klimaneutralität erreicht haben, zum Beispiel, sei der aktuelle Stand der Forschung, dass sich in den folgenden Jahrzehnten die Temperatur noch um plusminus 0,3 Grad verändern wird. „Plusminus!“, sagt Mengis entnervt, „wir wissen noch nicht mal, in welche Richtung!“
Mengis wäre lieber, die Menschheit würde ihren Eingriff auf das Erdsystem so weit wie möglich reduzieren, Klimaneutralität statt Rückgang der CO2-Konzentration. „Das ist wieder diese Arroganz der Menschheit, zu denken, wir könnten da irgendwas gezielt rückgängig machen“, sagt sie. „Lasst uns doch einfach unseren Einfluss aufs Klima auf null bringen, so schnell wie möglich.“
Immerhin in diesem Punkt sind sich Mengis, Hausfather und Möller einig: Je schneller die CO2-Emissionen reduziert werden, desto besser. Aber, das ist Mengis wichtig, an den Rest – Sturmfluten, Hitzewellen, Hochwasser – müssen wir uns anpassen. „Ohne irgendwelche Ausreden von Overshoot.“
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