Klassengesellschaft in Deutschland: Rückkehr nach Flörsheim
Unsere Autorin las Didier Eribon – und fühlte sich zum ersten Mal verstanden. Sie weiß, was es bedeutet, den gesellschaftlichen Aufstieg zu wagen.
Den Satz mit der Religionslehrerin sagte meine Mutter zu mir, als ich versuchte, ihr zu erklären, was ich an der Uni treibe. Zugegeben, mit Religionswissenschaft habe ich es ihr nicht gerade leicht gemacht. Selbst Leute mit bürgerlichem Hintergrund und Hochschulabschluss in Germanistik wissen nicht, was das ist. Wenn ich meine Mutter an ihren Satz erinnere, lacht sie und sagt: „Stimmte doch auch.“ Stimmte ja auch. Ich bin keine Religionslehrerin. Sie versteht nur bis heute nicht, warum ich den Satz trotzdem schlimm finde. So wie sie bis heute nicht versteht, dass ich Karlheinz Böhm nicht mag.
„Was magst du eigentlich? Hauptsache dagegen“, hatte sie mir immer gesagt, wenn ich irgendwas, was sie gut fand, nicht so gut fand. Vielleicht hatte sie Recht. Ich war ein Papakind. Meine jüngere Schwester das Mamakind. Alles, was Mutter tat, dachte, mochte, war mir suspekt. So wie ihr suspekt war, was ich tat, dachte, mochte.
Aber wie soll sie mich auch verstehen. Mich, der ich ihren Satz „Nicht einmal Religionslehrerin wirst du“ in den Stand eines Kronzeugen berief. Dort repräsentiert er das komplette Unverständnis einer Mutter aus der Arbeiterklasse für das, was ich mit meinem Leben anstellte. Und das stellte ich so an, wie ich es später bei dem Schriftsteller Saul Bellow gelesen hatte: „Ich gehe die Dinge im Freistil an, so wie ich es mir selbst beigebracht habe.“ Ohne Rücksicht auf Kontostand und Rente.
Ätzende Enge in Arbeiterhaushalten
Als ich diesen Sommer „Rückkehr nach Reims“ las, das autobiografische Buch des französischen Soziologen Didier Eribon, hatte ich ein Gefühl, das derzeit wohl vor allem AfD-Wähler haben: „Endlich sagt mal jemand, wie es ist.“ Und nicht nur, weil mich der Satz seiner Mutter – „Soziologie? Hat das was mit der Gesellschaft zu tun?“ – an meine Mutter erinnerte. Ich bin weder homosexuell noch Universitätsprofessorin, und auch in vielen anderen Details unterscheidet sich meine Familie deutlich von der Eribons.
Trotzdem: Es war das erste Mal, dass jemand in meiner linken, bürgerlichen Filterblase über seine Herkunft aus einer Arbeiterfamilie so über diese redete, wie es Linke nicht so gern hören: wie ätzend eng es in Arbeiterhaushalten ist, räumlich, ökonomisch, geistig und emotional. Er thematisiert, was für bürgerliche Linke kein Thema ist: Dass man als Exot mit proletarischer Herkunft keinen profitablen Sonderstatus in der bürgerlichen Welt hat, sondern einen hohen Preis zahlt: den radikalen Bruch mit der eigenen Herkunft, die man dennoch nicht los wird.
Als Klassenflüchtling musste ich alles neu lernen: wie man denkt, spricht, sich benimmt. Das heißt lernen, was es überhaupt bedeutet, sich mit einem Gegenstand auseinanderzusetzen. „Ach, du immer mit deinen Ideen“, beendete meine Mutter jedes Gespräch, das meine Fragen an die Welt, an sie, an mich zum Gegenstand hatte. Als Lohnabhängige hatte sie nichts zu verschenken und zu verschwenden. Auch keinen Gedanken an Weltsichten, an denen sie vielleicht auch festhielt, damit sie wenigstens irgendein Kapital hatte, das sicher war.
„Von dir erwarte ich sowieso nichts mehr“, lautete das Fazit meiner Mutter schon zu Zeiten, als ich lieber in den Bücherbus stieg, um in der Erwachsenenabteilung Thomas Manns „Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ auszuleihen, anstatt mit meiner Mutter die Prospekte vom Supermarkt nach Angeboten zu durchstöbern. Ich hatte keine Ahnung, wer Thomas Mann war. Aber das Wort „Hochstapler“ klang halt aufregend und erinnerte mich an die Sendung, von der meine Mutter keine Folge verpasste: „Aktenzeichen XY … ungelöst“.
Meine Mutter hatte nur ein paar Jahre auf einer Schule verbracht, war Textilreinigerin, Hausfrau, Putzfrau, Küchenhilfe in dem Kleinstadtkrankenhaus im Südhessischen, in dem sie mich geboren hatte. Ich hatte nichts dagegen, dass sie an SOS-Kinderdörfer spendete. Dass sie mir bis ich 14 war, nur 5 Mark Taschengeld im Monat gab. Aber, dass sie ich die von der Nachbarstochter abgelegten Winterjacken aus Kunstschaffell tragen musste und sie mir in den Spendenbriefumschlag für die Schule nur ein 50-Pfennig-Stück legte, fand ich unmöglich.
„Bei den anderen Kindern klimpert es nie im Briefumschlag.“ „Die sind ja auch reich.“ Was mir damals total peinlich war, wofür ich mich schämte und wofür ich meine Mutter hasste, kann ich heute als souveränen Klassenstandpunkt betrachten. Aber erzählen Sie mal Sechstklässlern was von Klassenstandpunkten.
„Du bist doch so schlau“
Meine Mutter hatte keine Ahnung, was Klasse bedeutete. Sie sprach von „den kleinen Leuten“, so wie sie auch von „den Ausländern“ sprach, obwohl sie selbst mit einem verheiratet war und eine ihrer Töchter, ich, eine Aufenthaltsgenehmigung brauchte.
„Was soll nur aus dir werden?“ Diese rhetorische Frage stellen Mütter und Väter klassenübergreifend. Auch meiner Schwester stellte meine Mutter diese Frage. Die aber hatte sich irgendwann entschieden, eine Ausbildung zur Hotelfachfrau zu machen. Mutter gefiel das. Wenn ich sie allerdings fragte, was denn ihrer Meinung nach aus mir werden solle, antwortete sie: „Das musst du doch wissen. Du bist doch sonst so schlau.“ Ihr einziger Vorschlag für meine Karriereplanung lautete: „Warum gehst du nicht ins Fernsehen. Zu ‚Wer wird Millionär?‘. Wozu bist du denn sonst so schlau?“
Wie wenig schlau ich wirklich war, wusste sie nicht. Ein Selbstversuch: Ich scheitere auf der Website der Sendung schon bei der 1.000-Euro-Frage. Zum Schlaumachen hielt man sich bei uns zu Hause vor allem einen Fernseher. Samstags wurde das Programm erweitert, meine jüngere Schwester und ich in den „Lottoladen“ geschickt, um die Bild-Zeitung zu kaufen und den Lottoschein mit Spiel 77 abzugeben.
Auf dem kleinen Bücherregal (Möbelhausware, Eiche rustikal) in unserem Wohnzimmer standen: ein Atlas, zwei Bände Konsalik, ein Simmel, Putzos „Der Pate“, Falladas „Kleiner Mann was nun“ und „Der eiserne Gustav“, „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ und „Nicht ohne meine Tochter“. Dann waren da noch einige Deutsch-Lehrbücher meines Vaters, ein Band kroatische Märchen und Émile Zolas „Germinal“, von dem bis heute niemand weiß, wie er überhaupt in unser Wohnzimmer kam. Ebenso unbekannt blieb bis heute dessen Inhalt, Arbeiterkämpfe in einem Bergwerk im 19. Jahrhundert.
Während die Bücher so wie die bunten Römergläser in der Vitrine vor allem als Deko fungierten, waren die Platten in den zwei Taschen aus Kunstleder mindestens so oft im Gebrauch wie der Videorecorder: Neben Beatles, Abba, jugoslawischen Chansons, Heintje, Karel Gott und Bruce Springsteen war es vor allem Miles Davis: „Porgy & Bess“, „Fahrstuhl zum Schafott“, „Sketches of Spain“.
„Zu Gast“ in Deutschland
Mein Vater verehrte Miles Davis, weil der, wie mein Vater sagte, „immer auf der Flucht“ war. Immer auf der Suche nach dem Neuen. Mein Vater war alles andere als ein Jazzkenner. Er war Baustellenarbeiter, Küchenmonteur und arbeitete für die US-Army in Hessen. Vielleicht verehrte mein Vater Miles Davis, weil er selbst als jugoslawischer Marinesoldat die neue Welt bereist hatte. Vielleicht weil er vor seiner Vergangenheit floh, in der die Nazis seine Eltern, Geschwister, Tanten und Onkel ermordet hatten, worüber er nie redete. Vielleicht wurde er deswegen zu einem großen Gesellschafter, der immer Leute um sich haben musste, immer die ganz großen Feste feiern musste, auf denen er der Unterhalter war. Nie blickte er zurück, immer nur nach vorne.
Aber auch mein Vater konnte mir nicht sagen, wo ich mich umschauen könnte, damit ich es einmal besser habe. Aber er erwartete von mir auch nicht, dass ich irgendeinen Job hatte, sondern dass ich auf Familienfesten nicht mein Lieblingsjackett vom Flohmarkt trug, sondern das grellgrüne Damenjackett mit den Schulterpolstern, das er mir gekauft hatte. Er erwartete, dass ich so schwimmen können sollte wie Esther Williams, dass ich sonntags in die Kirche ging, während er im Radio jugoslawischen Gastarbeiterfunk hörte. Und er erwartete, dass ich mich politisch nicht so vorlaut äußere, weil wir in diesem Land „zu Gast“ seien und uns nicht darüber beschweren dürften, wie wir hier behandelt werden. „Sonst schmeißen die mich hier raus, und ich werde arbeitslos.“
Anfang der 80er Jahre, Wirtschaftskrise, mein Vater wurde arbeitslos. Die große Mietwohnung mit der großzügigen amerikanischen Küche wurde zu teuer. Meine Mutter impfte mir und meiner Schwester ein, niemandem davon zu erzählen, dass unser Vater nun „schwarz arbeite“. Wir hatten beide keine Ahnung, was das überhaupt hieß, und stellten uns vor, dass er sehr dreckige, aber auch sehr geheimnisvolle Arbeit machen musste.
Als ich in der 7. Klasse ein Schülerpraktikum machen sollte, war das Geschrei dann groß. Meine Schulfreundinnen, deren Eltern Deutsch- und Kunstlehrer waren, gingen zu Verlagen und Siebdruckereien. Ich weiß bis heute nicht genau, was eine Siebdruckerei so macht, damals hätte ich gerne näher gewusst, was es mit der Schwarzarbeit auf sich hat. Aber mein Vater hatte sich schon beim Nachbarn unter uns informiert, der einen dubiosen, aber florierenden Metallhandel führte. Er kam mit der Information zurück, dass sich derzeit als Bauzeichner oder Zahntechniker gutes Geld verdienen lasse. Was ein Bauzeichner genau machte, fand ich nicht heraus, ein Internet gab es damals noch nicht, und außerdem hatte ich genug von den Baustellen, auf denen ich meinem Vater geholfen hatte, Küchen- und Werkzeugteile durch die Gegend zu tragen. Und an anderer Leute Zähne herumzufummeln, hatte ich auch keine Lust.
Stattdessen landete ich bei einem Optiker in Wiesbaden. Wie ich auf Optiker kam, weiß ich nicht, ich trug ja nicht einmal eine Brille. Auf der Suche nach einem Beruf hatte ich die Gelben Seiten durchgeblättert, und die Anzeige des Optikers hatte mir wohl gefallen.
Ich schmiss dann ein paar Wochen lang die Brillen von Heinz Schenk, von Schimanski und von Roncalli-Gründer Bernhard Paul in den Ultraschallreiniger. Danach war ich einen Schritt weiter: Optikerin würde ich nicht werden.
Meiner Mutter gefiel das nicht. Heinz Schenk und Schimanski fand sie ja gut. Was ihr auch gefallen hätte, wäre, wenn ich Gärtnerin, Tierpflegerin oder Supermarktkassiererin geworden wäre. Echte Berufe eben. Erwartet hat sie von mir nicht, dass ich mich in der Welt der anderen Leute umschaue. Und noch weniger, dass ich mir für diese andere Welt eine Aufenthaltsgenehmigung besorgte. Ich flüchtete aus ihrer Welt. Aus der Welt der Arbeiterklasse.
„Akrap droht Haftstrafe“
Ich ging auf Demonstrationen gegen die Abschaffung des Asylrechts und gründete eine linksradikale Spaßpartei. Eines morgens weckte mich mein Vater mit dem Lokalblatt in der Hand, auf dessen Titel in großen Lettern stand: „Akrap droht Haftstrafe“. Weil ich als Ausländerin bei den Stadtparlamentswahlen kandidierte, hatten lokale Politiker versucht, mir Angst einzujagen. Angst hatte nun aber vor allem mein Vater, weil nachts mehrfach jemand anrief und „Scheiß Ausländer! Euch sollte man vergasen!“ ins Telefon brüllte.
Ich bildete mir lange ein, dass ich zu den Linken und den Bürgerlichen ging, um etwas zu tun, damit meine Eltern es später mal besser haben würden. Und lange war ich der Meinung, dass nicht ich es war, die gegangen ist, sondern dass ich zu Hause unerwünscht war. „Dann geh doch, wenn es dir nicht passt“ ist noch so ein Gespenstersatz aus der unveröffentlichten Anthologie „Mutters Sätze“.
Ein Jahr vor dem Abi zog ich von zu Hause aus. Die Streitereien mit meiner Mutter waren zu heftig geworden, wir brachen den Kontakt ab. Da ich kein Geld hatte, ging ich auf einen besetzten Bauwagenplatz und putzte bei einem maoistischen Motorradhändler die Wohnung. Dann starb mein Vater, kurz bevor ich Abitur machte, und meine Mutter und ich näherten uns wieder an. Als sie hörte, dass ich putzen ging, blühte sie auf. Endlich ein Thema, über das sie mit mir reden konnte, ein Terrain, auf dem sie sich sicher fühlte, mir etwas erklären konnte. Auch sie hatte sich aus ärmlichen Verhältnissen in Mecklenburg-Vorpommern stammend, ihr ganzes Leben selbst finanzieren müssen. In ihren Augen war ich jetzt nicht mehr ein Sonderling, sondern mit ihr auf Augenhöhe oder besser auf Kniehöhe, die Fliesen schrubbend.
Als ich dann aber bei den Linken blieb und zu den Studenten ging, hatte sie erwartet, dass ich heroinabhängig werde und unter Brücken schlafe. Nicht erwartet hatte sie, dass sich mein Leben mehr oder weniger so abspielen würde wie jedes andere auch: in einer Wohnung mit Küche und Bad, an einem bezahlten Arbeitsplatz, auf Betriebsfeiern und an Urlaubsorten, die von Chartermaschinen angeflogen werden.
„Ja, ja, Madame geht zur Universität. Bildest dir wohl was drauf ein“, sagte sie mit Vorliebe dann zu mir, wenn ich versuchte, ihre Meinung über Linke – „Die reden auch viel, wenn der Tag lang ist, anstatt zu arbeiten“ – auszureden. Auf der Universität begegnete ich linken Studenten, die sich darüber empörten, dass der Studentenrabatt für den öffentlichen Nahverkehr gestrichen wurde. Wenn ich denen sagte, dass der Studentenrabatt kein Menschenrecht sei und meine putzende Mutter auch den vollen Preis für das Busticket zahlen musste, guckten die mich nur komisch an.
Als ich meinen ersten Job als Redakteurin bei einer großen Boulevardzeitung hatte, wusste ich: Meinen linken Freunden würde das überhaupt nicht gefallen. Aber ich hoffte, wenigstens meiner Mutter ein Mal imponieren zu können: Ich machte Geschichten über Pferde und Fußballer und saß bei der Schwimmerin Britta Steffen auf dem Schoß. Glücklicherweise saß Britta Steffen dann auch bald bei „Wetten, das..?“ im Fernsehen – und als ich zu Weihnachten mit ein paar Ausgaben der BZ nach Hause kam, feierten wir zum ersten Mal seit dem Tod meines Vaters wieder ein fröhliches Weihnachtsfest.
Im Überschwang hatte ich Karten für etwas besorgt, von dem ich dachte, ich würde meiner Mutter damit eine Riesenfreude machen: „Schwanensee on Ice“, dargeboten vom russischen Staatsballett in der Alten Oper in Frankfurt.
Die drei Stunden auf den billigsten Plätzen waren die Hölle. Ich strengte mich an, alles toll zu finden, sagte bei jeder artistischen Einlage „Wow“ und „Guck mal“. Meine Mutter aber war ultragelangweilt und ärgerte sich, dass sie wegen des „Gehampels“ die TV-Aufzeichnung des Konzerts von Semino Rossi verpasst hatte, ihrem Lieblingsschlagersänger, der ein paar Wochen vorher in derselben Oper aufgetreten war.
Didier Eribons Buch las ich im Sommer am Strand des kroatischen Dorfs, in dem mein Vater sich seinen kleinen Traum vom Haus am Meer selbst zusammengezimmert hatte. Meine Schwester war da. Wir stritten uns. Auch, weil die Lektüre Eribons die Erinnerungen an unsere gemeinsame Vergangenheit hochspülte. Ich warf ihr „Ressentiments“ vor. „Du und deine Ressentiments. Hauptsache, du weißt, was das ist“, antwortete sie.
Linke arrogante Kinder
Die Literaturkritikerin Elke Heidenreich befand kürzlich, Didier Eribon hätte seinen Eltern halt mal früher erklären sollen, was er so mache, dann wäre es auch nicht zu dem großen Bruch mit ihnen gekommen. Sie habe ihrer proletarischen Mutter schließlich auch immer erklärt, was sie so mache. Es sei kein Wunder, dass die Arbeiter rechts werden, wenn ihre linken Kinder so arrogant seien wie Eribon.
Arrogant? Jemandem, der versucht zu verstehen, was er lange verdrängt hat, Arroganz vorzuwerfen, ist nicht gerade das Gegenteil von arrogant. Zudem ist Heidenreich einer Meinung mit Eribon: Die Linken sind schuld daran, dass die Arbeiter heute rechts wählen. Didier Eribons These, die hierzulande vor allem von bürgerlicher Seite begeistert rezipiert wurde, teile ich nicht gänzlich. Schon allein deswegen, weil mittlerweile völlig unklar ist, was und wo „links“ überhaupt sein soll. Und, weil Deutschland nicht Frankreich ist.
Wenn ich meine Arbeitereltern fragte, warum sie eigentlich nie kommunistisch wählten und sie dann von Verbrechern sprachen, ist das auch ein Ergebnis deutscher Politik, die kriminalisierte, wer die Sache der Arbeiter radikal vertrat: Die Kommunistische Partei wurde 1933 von den Nazis und 1956 von der CDU verboten. Links war die deutsche Arbeiterklasse in der BRD vor allem in der Vorstellung bürgerlicher Linker. Aber nicht in der Realität.
In Berlin baut ein gelernter Schweißer den größten Hindu-Tempel Deutschlands – seit mehr als neun Jahren. Große Erwartungen treiben uns an. Sie finden sich in jedem Leben, besonders in der Weihnachtszeit. Die taz.am wochenende vom 24./25./26. Dezember widmet sich ihnen. Mit dabei: eine Kunstschätzerin, ein Pfarrer und ein Alleinunterhalter, die über den professionellen Umgang mit Erwartungen reden. Und: der magische Moment, bevor das Überraschungsei ausgepackt wird. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Meinen eigenen Arbeitereltern haben nie links, sondern konservativ gewählt. Und jetzt sitze ich da und frage mich, ob ich mich fragen muss, welchen Teil ich dazu beigetragen habe, dass meine Mutter nie links wurde. Das ist absurd.
Es wird viel über den Arbeiter geredet. Aber den gibt es nun mal nicht. Auch für den Arbeiter gilt wie für jeden Bürger das Recht auf Individualität. Ich bin mir sicher, auch im Erinnerungsregal meiner Mutter gibt es einen Band „Tochters Sätze“, den sie immer wieder liest. Ich weiß, dass sie sich fragt, welchen Anteil sie daran hat, dass ich zu den anderen gegangen bin.
Wenn wir darüber wirklich reden könnten, es könnte eine schöne Weihnachtsgeschichte werden. Dazu aber müssten wir auch darüber reden, was sie bei der Bundestagswahl wählt. Und das hab ich mich bisher noch nicht getraut.
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