piwik no script img

Kinder im GazastreifenLernen in Trümmern

Israel zerstöre das palästinensische Bildungswesen systematisch, mahnen UN-Vertreter. Derweil wird in Gaza unter freiem Himmel unterrichtet.

Schulbesuch im Gazastreifen: Muhammad und Abed auf ihrem Schulgelände in Chan Junis am 14. April Foto: reuters

Kairo/Chan Junis taz | Muhammad und Abed streifen durch ihre alte Schule in Chan Junis im südlichen Gazastreifen, oder besser gesagt: durch das, was von ihr übrig ist. Der Schulhof ist übersät mit Gebäudetrümmern, die Fensterseite zu ihrem Klassenzimmer ist durch die Druckwelle einer Explosion weggebrochen und gibt den Blick frei auf den Rest des zerstörten Schulgebäudes. Die beiden Freunde heben alte Schul­materialien aus dem Schutt.

„Ich war der Klassenbeste“, sagt der zehnjährige Muhammad al-Fadschem und schlägt vor, man könne den Unterricht doch in Zelten weiterführen. So gerne würde er mit der Schule weitermachen. Aber wie zuvor wird es wohl nie wieder werden: „Ich habe Freunde, die im Krieg gestorben sind“, sagt er, „Bassem, Muhammad und Abdallah. Sie waren oft bei uns zu Hause, wir sind jeden Tag zusammen zur Schule gegangen.“

Die beschriebenen Szenen aus Chan Junis stammen von der Nachrichtenagentur Reuters. Laut palästinensischem Bildungsministerium sind fast 5.500 Schülerinnen und Schüler und mehr als 260 Lehrerinnen und Lehrer bei der israelischen Offensive im Gazastreifen umgekommen, die nach dem 7. Oktober und der Geiselnahme der Hamas begann.

Seit mehr als sechs Monaten haben die 625.000 Schulkinder in Gaza keine Schule mehr besucht. „Es gibt im Moment absolut keine Form von Ausbildung und Schule im Gazastreifen“, sagt Jonathan Crick, Sprecher des Kinderhilfswerks Unicef in Jerusalem. UN-Experten prangern inzwischen eine „systematische Vernichtung des Bildungswesens“ in Gaza an, wie es in einer im April veröffentlichten Erklärung heißt.

„Es ist vertretbar zu fragen, ob hier eine Absicht vorliegt, das palästinensische Bildungssystem umfassend zu zerstören, etwas, das als ‚Scholastizid‘ bekannt ist“, steht dort weiter. Der Begriff beziehe sich auf die „systematische Vernichtung der Bildung durch Verhaftungen, dem Töten von Schülern und Lehrern und anderen Bildungsmitarbeitern und der Zerstörung der Bildungsinfrastruktur“.

Auch Inger Ashing, Generaldirektorin von Save the Children, sowie Jan Egeland, Chef der Hilfsorganisation Norwegian Refugee Council, warnen in einer gemeinsamen Erklärung vor den Folgen dieser Zerstörung. Diese werde dauerhafte Auswirkungen auf eine ganze Generation haben. Selbst wenn die Waffen schweigen würden, werde es keine Schulen geben, zu denen die Kinder zurückkehren können, schreiben sie. „Wir wissen aus vorherigen Krisen: Je länger die Kinder der Schule fernbleiben, desto größer ist das Risiko, dass sie nie wieder zurückkehren.“

Zu Hause im Container

Das ist einer der Gründe für eine neue Initiative in Chan Junis, nicht weit entfernt von der zerstörten Schule von Muhammad und Abed. Unter freiem Himmel haben sich gut 50 Kinder und einige Lehrkräfte versammelt. Auf dem Boden sitzend lesen die Kinder eine Kurzgeschichte von einem an eine Hauswand gehängten Plakat. Ihr Enthusiasmus macht sich schon an der Lautstärke fest.

Improvisierter Schultag: Unterricht in Chan Junis Foto: Abu Shanaa

„Wir haben damit begonnen, um den Kindern mit ihren Ängsten und den Bombardierungen auch etwas psychologische Abhilfe zu verschaffen“, erklärt der Lehrer Muhammad Kudari. „Wir versuchen, richtige Unterrichtsszenen zu imitieren. Sie lernen arabische Gedichte, rezitieren Literatur, haben Englisch- und Mathe-Unterricht.“ Es sei der Versuch, die Schülerinnen und Schüler wieder dort abzuholen, wo sie sind, und zu verhindern, dass sie sich noch weiter von ihrer Schulbildung entfernen. „Aber das ist natürlich kein Ersatz für wirkliche Schule“, gibt er zu. Dann verteilt er ein Dutzend Hefte, viel zu wenige für die anwesenden Kinder. Viele der ausgestreckten Kinderhände bleiben leer.

Die Drittklässlerin Iman Ahmad hat Glück gehabt und geht mit einem Heft nach Hause, beziehungsweise zu dem Container, in der ihre Familie lebt, seit sie aus Gaza-Stadt vor den israelischen Angriffen geflohen ist. Dort verbringt sie den Tag mit ihren Geschwistern. Aber auch hier ist es nicht sicher. „Vor dem Krieg bin ich jeden Morgen aufgewacht, habe gefrühstückt und meine Schuluniform angezogen. Jetzt wache ich auf, wenn ich die Explosionen höre. Aber ich habe mich inzwischen daran gewöhnt“, erzählt sie.

Ibtisam al-Ramlawi, Imans Mutter, ist besorgt, wie es mit der Bildung ihrer vier Töchter weitergeht. Wenn ihre Töchter von zu Hause sprächen, dann ginge es meist um die Schule, in die sie mit ihren Freunden gegangen sind. „Ich habe Angst, dass meine Kinder abdriften, weil sie keinen Unterricht mehr haben. Wir haben versucht, das so gut es geht mit Lehrbüchern auszugleichen. Ich habe so hart daran gearbeitet, dass meine Kinder eine vernünftige Bildung haben. Als Mutter ist das für mich furchtbar“, fasst sie ihre Gefühlslage zusammen.

Immerhin, die neue Initiative gibt auch ihrer Tochter ein wenig Hoffnung. „Es erinnert mich an die Zeit mit meinen Freunden in der Schule. Es ist ein wundervolles Gefühl, dass ich in den letzten Monaten des Krieges vergessen habe“, sagt sie.

Am Ende des improvisierten Schultags umringen die Kinder den Lehrer Muhammad Kudari, der den Kindern ein rotes Herz auf die Backen stempelt – eine Bestätigung dafür, dass sie da gewesen sind. Aber eigentlich viel mehr: eine kleine Erinnerung daran, dass für kurze Zeit wieder ein wenig Normalität in das Leben der Kinder eingezogen ist.

Anmerkung: Dieser Text basiert in Teilen auf Material eines vom Autor in Chan Junis beauftragten Kameramanns.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

10 Kommentare

 / 
  • Verantworten wird sich Israel definitiv für die gezielte Sprengung von zivilen Einrichtungen müssen. So z.B. der Al-Israa-Universität, die laut Berichten wochenlang von der israelischen Armee als Stützpunkt genutzt wurde und sich demnach definitiv keine Hamas Kämpfer mehr in ihr befanden, das gleiche gilt für eine UN Schule im Norden Gaza´s. Die Videos die davon von IDF Soldaten im Internet erschienen, sollten auch verurteilt werden. (Forschung & Lehre: Palästinensische Universitäten Ziel der Zerstörung; oder auch NZZ: Israel sprengt gezielt öffentliche Gebäude in Gaza – nach dem Krieg werden sie den Palästinensern fehlen).



    Zudem wurde mehrfach berichtet wie UNRWA Schulen, die zwischenzeitlich zu Flüchtlingslagern wurden, von Bomben getroffen wurden (so zum Beispiel im Januar- UN: Nine killed in direct hit on UNRWA shelter in Gaza). Wie in dem Bericht der UN gesagt wird, teilt die UN die Koordinaten ihrer Einrichtungen mit der IDF. Schulen und Universitäten sind zivile Einrichtungen die genauso wie Kulturgüter, von denen auch einige zerstört wurde, im humanitären Völkerrecht einen besonderen Schutz genießen (ICRC). Wie auch bei medizinischen Einrichtungen können sie diesen Schutzstatus nur verlieren wenn sie nachweisbar militärisch genutzt werden. Laut dem Chefankläger Karim Khan der IStGH liegt die Beweislast bei der IDF. Sie müssen theoretisch gesehen für jeden Fall nachweisen, das die Einrichtung militärisch genutzt wurde.

  • Immer dasselbe Muster: Die Hamas verschanzt sich feige hinter und unter Krankenhäusern und Schulen, um dann Israel Kriegsverbrechen vorwerfen zu können.

  • Der Wiederaufbau des Bildungswesens wird steinig, so viel ist sicher. Ich hoffe, dass die internationale Gemeinschaft Gaza damit nicht alleine lässt, materiell aber vor allem auch was die Inhalte betrifft. Eine besondere Herausforderung wird sein, keine Hass-Ideologien mehr ins Schulsystem zu lassen. So wie in Nachkriegsdeutschland die Schulen bzw. Lehrer entnazifiziert werden mussten, wird es unerlässlich sein, den Einfluss der Hamas-Ideologen auf das Schulsystem in Gaza zu eliminieren. Die Kinder müssen unbedingt die Wahrheit über den 7. Oktober erfahren.

  • Warum sollte das israelische Militär gezielt Schulen vernichten? Eine gut gebildete Bevölkerung dürfte potentiell doch eher ein Problem für die Fundamentalisten der Hamas und die autokratischen Potentaten der palästinensischen Bewegung sein. Oder wird in den Schulen eher einseitig indoktriniert, als umfassend gebildet? Aber das würde die UN als Hauptsponsor doch bestimmt nicht zulassen.

    • @vieldenker:

      Bildung ist nicht gleich Bildung.

      Ich weiß nicht ob es immer noch so ist; aber einst lehnte die Gewerkschaft der UNRWA-Mitarbeiter in Gaza es kategorisch ab, im Rahmen des Lehrplanes über Menschenrechte über den Holocaust zu unterrichten, die meinten das würde die Schüler nur verwirren. Der Gewerkschaftsvorsitzende Suhail al-Hindi betonte hingegen die Notwendigkeit palästinensische Geschichte zu unterrichten, über die Massaker die gegen sie verübt worden seien, zuletzt im Gaza-Krieg (er meinte wohl den von 2008/2009).

      www.middleeastmoni...f-strikes-in-gaza/

      Falls jemand davon gehört haben sollte, dass die Gewerkschaft ihren Standpunkt geändert hat, möge er sich melden!

      Derselbe Suhail al-Hindi wurde dann 2017 gefeuert, obwohl er bestritt ins Hamas-Politbüro gewählt worden zu sein.

      www.timesofisrael....sed-of-hamas-ties/

      Er hatte natürlich gelogen:

      www.middleeastmoni...visit-to-in-egypt/

      Das pikante an der Geschichte ist, dass derselbe schon einmal von der UNRWA gefeuert wurde; die Gewerkschaft protestierte und streikte aber so lange, bis die Entlassung rückgängig gemacht wurde:

      www.middleeastmoni...a-union-elections/

  • Der UN Bericht spricht von einer "systematischen Vernichtung des Bildungswesens“ in Gaza.

    Wie muss ich mir das vorstellen? Jemand beim israelischen Militär hat eine Liste aller Schulen erstellt die zerstört werden sollen und diese Liste wir nun eins nach dem anderen abgehakt?

    Klingt für mich nach sehr viel Phantasie.

    • @Benzo:

      Ist viel einfacher, nämlich indem man einen einen sog. unterschiedslosen Angriff im Sinne von Art. 51 IV und V des Zusatzprotokolls I zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 durchführt. Muss man also gar keine Liste abarbeiten.

    • @Benzo:

      Finde ich nicht. Listen von "militärischen" Zielen zu erstellen, einen Plan auszuarbeiten und später durchführen zu lassen, ist doch, wofür die Offiziersgrade da sind. Die Frage ist doch eher, ob die Behauptung stimmt oder ob die Schulen als Kollateralschäden zerstört werden. Wenn da alles weg gebombt wird wie deutsche Großstädte in den 40ern, ist die Behauptung für mich nicht haltbar

  • Wie sollen angesichts dieser katastrophalen Bildungsbedingungen in Gaza, älter werdende Kinder gegen den Einfluss der Hamas gewappnet werden? Abgesehen von der ökonomischen Katastrophe, Armut, die aus nicht erfolgter Bildung in Gaza erfolgt?

    • @Lindenberg:

      Wo waren sie denn vorher gegen den Einfluss der Hamas gewappnet? Offensichtlich nicht in diesen Schulen.