Kapitalismus und Narrative: Die neue Normalität
Was Greta Thunberg macht, schön und gut, sagen viele. Aber was kommt dann – was kommt nach dem Kapitalismus? Was sind ihre Narrative?
S pätestens die Wirtschaftskrise von 2008 hätte meine (privilegierten) zeitgenössischen Millennials wachrütteln müssen. Das Narrativ des liberalen Kapitalismus war in eine Identitätskrise geraten, ebenso wie unsere unvollkommene Demokratie. Das Ideal der Menschenrechte schien an Kraft zu verlieren.
Schnell beklagte die Welt, es fehle ein Gegennarrativ von „linker Seite“, was auch immer das bedeutet. Unzählige Autor*innen und Filmemacher*innen schlugen Ideen vor, nicht zuletzt Bergmann in „Utopien für Realisten“, Gameau mit seinem Dokumentarfilm „2040“ oder Neubauer und Repenning in „Vom Ende der Klimakrise“. Das scheint aber vielen nicht genug zu sein.
Vor einigen Wochen saß ich auf einer Parkbank mit einem guten Freund in unserer Heimatstadt in Madrid. Wir trugen beide eine Maske, wie es die jüngsten Maßnahmen gegen Sars-CoV-2 verlangten. Mein Kumpel kennt die genannten Werke bereits. Die nächsten zwei Stunden verbrachte er damit, Beweise zu finden, warum die darin zum Ausdruck gebrachten Ideen nicht funktionieren könnten.
Zum Beispiel sei regenerative Landwirtschaft gut und logisch, sagte er, aber ohne eine Politik, die sie strukturell befördert – wozu das Ganze? Thunberg hat keinen Plan, sagte er. Ich verstehe die Dringlichkeit, aber was kommt nach dem Kapitalismus, was ist ihr Narrativ?
Als wir so auf der Bank saßen und ich nur sein halbes Gesicht sehen konnte, in einer Situation, die sich alles andere als gewohnt anfühlte, dämmerte es mir. Er hatte sich demaskiert: mein Kumpel ist ein Sleepy Millennial.
Sleepy Millennials sind vom Weckruf 2008 nie komplett wach geworden. Manchmal ähneln sie den Boomern. Vielleicht weil wir langsam älter werden oder weil die Finanzkrise damals nicht alle gleich traf.
Im Hier und Jetzt
Liebe Sleepies, wenn die Coronakrise uns etwas beigebracht hat, dann dies: Die Welt, unser Leben kann und wird sich in Zukunft dauernd ändern. In einem unvorhersehbaren Klima passieren unvorhersehbare Dinge. Das Klima wartet nicht, wir müssen handeln. Schlagt es nach im alten Geschichtsbuch – Narrative werden immer im Hier und Jetzt geschrieben. Lasst die Menschenrechte euren Leitstern sein und fangt einfach an. Wir können nicht auf perfekt zusammengestellte Narrative warten. Unsere Ideale müssen wir uns täglich erkämpfen.
Greta, erinnerte ich meinen Kumpel, besitzt nun mal keinen Zauberstab. Die Ideen in diesen Werken waren als Denkanstöße gedacht. „Aber wo soll ich anfangen?“
Als Klima-Journalistin habe ich viele überforderte Menschen getroffen, die nicht wussten, wie sie sich selbst, ihren Familien und ihren Gemeinschaften weiterhelfen sollten.
Saydou hat ohne einen einzigen Cent angefangen, verwüstetes Land in Burkina Faso aufzuforsten und hat nun dutzende finanzielle Unterstützer und über eine Million Bäume gepflanzt. Chima hat in ihrem von der Palmölindustrie beherrschten Dorf ein – dare I say – Gegennarrativ gewagt, durch eine Umweltschule, in der sie Kindern die Vorteile von regenerativer Landwirtschaft beibringt.
Neuerfindung. Das ist die neue Normalität. Ich weiß, es ist unangenehm. Etwa so wie diese Masken.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands