Kandidatin für den Juso-Vorsitz: Jungsozialistin mit Plänen
Jessica Rosenthal will den Kapitalismus überwinden, Vermögen besteuern und die Welt verändern. Und sie will neue Chefin der Jusos werden.
Rosenthal möchte im November zur Chefin der Jusos gewählt werden, der Nachwuchsorganisation der SPD. Hauptberuflich arbeitet die Vorsitzende des Juso-Landesverbandes NRW als Deutsch- und Geschichtslehrerin an einer Bonner Realschule – nicht in der Altstadt oder im Villenviertel, wo in jedem zweiten Fenster eine Beethoven-Büste steht. Sondern in Tannenbusch. Dort, wo die Armut größer ist und die Chancen geringer sind als in anderen Teilen der Stadt. Ein Ort wie geschaffen für eine aufstrebende SPD-Politikerin.
Soziale Gerechtigkeit ist Rosenthals großes Thema. Ihr Referendariat hat sie an einer gut ausgestatteten Schule gemacht – „eine ganz andere Welt“, wie sie sagt. Hier, in Tannenbusch, seien die SchülerInnen genauso wissbegierig wie überall sonst. Nur die Voraussetzungen seien andere: keine Whiteboards, keine Beamer, stattdessen hohe Sprachbarrieren und zu wenig Personal. „Manche Fenster sind kaputt und lassen sich nicht richtig öffnen“, sagt sie. „Das ist natürlich besonders ärgerlich zu Coronazeiten.“
Anfang August gab Juso-Chef Kevin Kühnert bekannt, den Vorsitz der JungsozialistInnen abgeben zu wollen. Rosenthal war interessiert. „Ja, ich werde beim Bundeskongress im November kandidieren“, sagte sie im Spiegel. Und feuerte in besagtem Interview auch gleich aus allen Rohren.
Recht auf Stadt
Den auf Ausbeutung beruhenden Kapitalismus? Müsse man überwinden. Das profitorientierte Gesundheitssystem? „Pervers.“ Den öffentlichen Nahverkehr? Bitte kostenlos anbieten! Mit solchen Statements machte sich NRWs Juso-Vorsitzende Rosenthal schnell bekannt.
In Bonn-Tannenbusch auf der Straße erkennt sie noch niemand. Bei einem Rundgang durch das Viertel erläutert sie, was in ihren Augen falsch läuft in Deutschland. Eine Hochhaussiedlung kommt in Sichtweite. „Da gibt es große Probleme“, sagt sie und erzählt von Immobilienfirmen, die zwar gerne die Miete kassierten, Mängel aber nur zögerlich behöben. „Immer mehr Menschen werden verdrängt“, sagt sie, „und ich frage mich: Wem gehört eigentlich die Stadt?“ Die Antwort gibt sie gleich selbst: „Leider vor allem denen mit den dicksten Portemonnaies.“
Ihre Aussage zum Kapitalismus sei vielfach missinterpretiert worden, betont Rosenthal. „Diejenigen, die denken, ich will zurück zur DDR, liegen falsch. Die DDR war eine Diktatur. Ich bin durch und durch Demokratin.“ Stattdessen gehe es ihr um Umverteilung und Gerechtigkeit.
„Ich stehe für die sozial-ökologische Wende“, sagt sie. „Die Ausbeutung der Natur, der Menschen und des globalen Südens müssen aufhören. Bei den Jusos habe ich WeltveränderInnen gefunden, die das auch so sehen.“ Rosenthal spricht solche Sätze mit Bedacht. Das Binnen-I ist fast immer dabei.
Scholz? Na ja…
Wäre sie bei solchen Positionen nicht auch bei den Grünen gut aufgehoben? Nein, entgegnet die SPD-Frau. „Wenn ich den Klimawandel zurückdrängen will, dann müssen sich untere Einkommensschichten den Strom trotzdem leisten können. Da sind mir die Grünen zu einseitig.“ Und Olaf Scholz, der designierte SPD-Kanzlerkandidat, der einst für die Agenda 2010 und damit für Hartz IV eintrat?
„Jubelstürme hat seine Wahl bei uns nicht ausgelöst“, sagt Rosenthal – ihr Standardsatz, wenn sie nach Scholz gefragt wird. Die SPD habe sich in den letzten Jahren verändert, und damit auch der Kanzlerkandidat. „Von Hartz IV haben wir uns verabschiedet.“
Wer die direkte, weniger diplomatische Jessica Rosenthal erleben möchte, muss den Youtube-Kanal der NRW-SPD durchstöbern. Als sie 2018 den Juso-Vorsitz übernahm, beantwortete sie 30 Fragen in 180 Sekunden. Nazis: „Sind scheiße.“ Seehofer: „Ein Vollidiot, ein Spalter, ein Hetzer.“ NRW-Innenminister Herbert Reul: „Skandalminister, der spätestens seit dem Hambacher Forst zurücktreten muss.“ Letztes Karnevalskostüm: „Robin Hood.“
Empfohlener externer Inhalt
Ein würdevolles Leben ist Rosenthal wichtig. Gut ausgestattete Schulen, bezahlbare Strompreise, kostenlose Busfahrten: Wie all das bezahlt werden soll, dazu sagt sie wenig Konkretes. Von der Schuldenbremse hält sie nichts, von höheren Steuern auf Vermögen dagegen viel. Sie wolle die SPD für junge Leute wählbar halten, sagt Rosenthal.
Ein Vollzeitjob
Auf die Frage, was sie an der eigenen Partei stört, antwortet sie bloß: „Es gibt nie eine Partei, mit der man hundert Prozent übereinstimmt. Ich finde inhaltliche Auseinandersetzungen aber extrem wichtig.“
Ihre eigenen SchülerInnen hätten von ihrem Engagement noch nichts mitbekommen. Überhaupt achte sie streng darauf, Job und Politik zu trennen. „Ich prüfe im Unterricht noch viel stärker, ob ich die Vielfalt der Meinungen abbilde“, sagt Rosenthal. Allein die Zeit wird ihr manchmal knapp: Seit März ist sie auch Vorsitzende der Bonner SPD, weshalb sie ihre Lehrerinnenstelle auf 60 Prozent reduziert hat. Sie lacht. Zwar werde nun das Geld etwas knapper, aber eine Vollzeitstelle sei im Moment einfach nicht drin.
Zurück auf dem Schulhof. Eine Flaschensammlerin prüft die Abfalleimer, eine ältere Frau. Ein junger Mann fährt mit seinem Roller im Kreis und lässt dabei die Reifen quietschen. „Ich bin unheimlich gerne in Bonn“, sagt Rosenthal. Klar gebe es auch auf kommunaler Ebene viele Probleme. Die Kombination aus dörflichen Stadtteilen und internationalem Großstadtflair hat es ihr aber angetan: „Um es mit einem Hashtag zu sagen, ich bin #bonnverliebt.“
Und doch brennt in ihr der Wunsch nach etwas Größerem, nach Berlin und Bundespolitik. „Ich bin davon überzeugt, dass der Einzelne was verändern kann“, sagt sie. Das mag abgedroschen klingen, wirkt aus ihrem Mund aber glaubhaft. Denn was wäre schon die Alternative? „Wer nur auf dem Sofa sitzt, kann auch nix verändern.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen