Kairos Rechtsgelehrte als Sozialarbeiter: Scheichs gegen Islamisten
Neuerdings gehen Kairos Rechtsgelehrte statt in die Moschee in die Kaffeehäuser. Als Streetworker sollen sie Muslime vor radikalen Ideen bewahren.
Sie fallen auf: Die Einwohner des Viertels, meist Arbeiter der nahegelegenen Werkstätten der ägyptischen Eisenbahnen, drehen sich verwundert um zu den Scheichs in ihren dunklen Galabija-Beinkleidern und dem klassischen weiß-roten Turban der Al-Azhar-Graduierten.
Das Ziel der Scheichs ist ein Kaffeehaus. Sie arbeiten als eine Art theologische Streetworker und sind Teil eines neuen Programms der Al-Azhar mit dem Ziel, die Menschen an ihren Freizeitstätten zu erreichen. Das neue Motto der über tausend Jahre alten Universität, die sich als eine der wichtigsten Rechtsautoritäten im sunnitischen Islam sieht: „Aus den Moscheen raus auf die Straße“.
Rasch kommen im Café Sultana die Besucher zusammen, schütteln den Scheichs die Hände, setzten sich zu ihnen. Schnell entwickelt sich an mehreren Tischen ein Gespräch. Meist werden alltägliche Probleme besprochen, Fragen des Beziehungslebens oder der Arbeit. Oft geht es auch um wirtschaftliche Nöte: Wie kann man sich auf ehrliche Weise eine Wohnung leisten, um zu heiraten; wie das Überleben seiner Familie sichern, ohne auf falsche Wege zu geraten?
Reden gegen radikale Ideen
„Die Idee ist, dass wir alle Menschen erreichen, nicht nur die, die in eine Moschee gehen“, erklärt Scheich Ahmad Nagib die Initiative, die nun schon seit mehreren Wochen in verschiedenen Vierteln angelaufen ist. „Wenn wir zu den Menschen kommen, dann fühlen sie sich zu Hause und können leichter ins Gespräch kommen. So kommen wir ihnen nahe und können sie auch vor radikalen Ideen bewahren.“
Für die Scheichs geht es in diesem Programm auch darum, radikalen und militanten Islam-Interpretationen an der Kaffeehaus-Front Einhalt zu gebieten. Aber lässt sich so tatsächlich ein Sympathisant der Terrororganisation des sogenannten Islamischen Staates (IS) überzeugen? „Wir wollen die Saat der Radikalität in den Menschen eliminieren. Wenn es keine Saat gibt, die aufgehen kann, dann gibt es auch keine Radikalität. In den Cafés finden wir vielleicht jene, in denen die Saat vielleicht vorhanden, aber noch nicht aufgegangen ist. Aber die überzeugten Militanten hängen dort nicht ab“, erklärt Scheich Nagib.
Ein Kaffeehausbesucher
Manche mögen es merkwürdig finden, das Al-Azhar-Gelehrte mit ihren Turbanen im Kaffeehaus sitzen, „aber die Realität zwingt uns diese Maßnahme auf. Denn wenn wir als Al-Azhar diese Menschen nicht erreichen, dann könnten das andere tun, die ihre Köpfe mit radikalen Ideen verdrehen“, so Nagib weiter.
Muhammad Ahmad, einer der jungen Kaffeehausbesucher, stimmt dem zu. „Es ist wichtig, dass wir uns gegenseitig zuhören. Viele können nicht lesen und schreiben, andere haben eine schlechte Ausbildung. Wenn die Menschen richtig religiös angeleitet werden, dann sind sie nicht mehr für die Ideen des IS anfällig.“
IS-Anhänger zu Ungläubigen erklären?
Die Al-Azhar hat diese Initiative begonnen, weil ihr Kritiker immer wieder vorgeworfen haben, nicht eindeutig gegen radikale islamistische Positionen Stellung zu nehmen. Einige ihrer konservativen Scheichs und von ihr gelehrte Schriften seien selbst Teil des Problems, heißt es immer wieder. Seit Monaten findet in Ägypten eine Debatte über die Frage statt, ob IS-Terroristen von der Al-Azhar zu Ungläubigen erklärt werden sollen. Sie entbrannte nach mehreren blutigen Anschlägen auf Kirchen und im November letzten Jahres bei einem Attentat auf eine Moschee im Nordsinai, bei dem 311 Menschen ums Leben kamen.
Eine Woche nach dem Anschlag hielt Ahmad al-Tayyeb, der Großscheich der Al-Azhar, in der gleichen Moschee im Nordsinai demonstrativ die Freitagspredigt und verurteilte die Anschläge des IS. „Es ist eine religiöse Pflicht, diese Feinde Gottes und unseres Propheten zu bekämpfen“, predigte er. Doch für viele ist die Al-Azhar-Verurteilung der Terroranschläge nicht genug.
Der ägyptische Autor und Al-Azhar-Kritiker Ahmad Abdu Maher richtet in einem Gespräch mit dieser Zeitung eine klare Forderung an die Scheichs. „Erklärt den IS und alle die dazugehören zu Ungläubigen, denn sie geben vor, im Namen des Islam zu sprechen“, verlangt er. „Wir müssen der Welt sagen, dass das keine Muslime sind. Wir müssen unseren Islam verteidigen“, sagt er. Der IS bringe den Islam um. „Sie sind eine Katastrophe für unsere Religion. Wir müssen sie isolieren, und das können wir nur, wenn wir Muslime sie zu Ungläubigen erklären.“
Muhammad Abdel Fadil leitet in der Al-Azhar eine Abteilung, die die Internetdiskussion der radikalen Islamisten beobachtet und versucht theologische Gegenantworten zu geben. Der junge Scheich hat auch als Islamwissenschaftler promoviert – an der deutschen Universität Münster. Er verteidigt im Gespräch mit der taz die Position der Al-Azhar.
„Ungläubig“ – eine Kategorie im Kampf gegen den Terror?
„Mit jedem Anschlag wächst der Druck auf die Al-Azhar, die terroristischen Gruppen zu Ungläubigen zu erklären“, so Fadil. Doch das habe Al-Azhar abgelehnt. „Al-Azhar distanziert sich von terroristischen Gruppen und sagt, dass diese sich von den islamischen Prinzipien und dem Geist des Islam entfernt haben“, sagt Fadil. Sie habe sogar mehrmals unterstrichen, dass gegen den IS ein Krieg geführt werden müsse, weil dieser unschuldige Zivilisten töte.
Die Entscheidung aber, wer gläubig und wer ungläubig ist, liege nicht bei den Menschen – sondern einzig bei Gott, argumentiert der Scheich. Für ihn ist die Kategorie „ungläubig“ eine theologische, die im Kampf gegen Terror nichts zu suchen hat. „Im Islam kann man andere Menschen bekämpfen, auch wenn sie Muslime sind, und kann andere Menschen gut behandeln, auch wenn sie keine Muslime sind“, sagt er. Das sei der Grund, warum die Al-Azhar die Terroranschläge zwar als unislamische Taten verurteilt – aber die Täter nicht zu Ungläubigen erklärt.
Diesen Unterschied zwischen Tat und Täter will der Al-Azhar-Kritiker Ahmad Abdu Maher nicht gelten lassen. „Ungläubig, das ist eine Tat, die einen Täter hat. Jeder, der Ungläubiges tut, ist ein Ungläubiger“, meint er. Jemand, der angeblich im Namen der Gemeinschaft spricht, müsse von dieser auch ausgeschlossen werden können. „Solange jemand im Namen des Islam spricht und unislamisch handelt, ist es mein Recht zu sagen, dass er vom Islam abgefallen ist. Der IS, das sind Ungläubige, gerade weil sie im Namen meiner Religion sprechen“, begründet Maher.
Doch das ist eine Ebene, auf die sich die Al-Azhar nicht einlassen will. „Wir kritisieren die Terroristen, weil sie aus ihrer Laune heraus alle möglichen Menschen zu Ungläubigen erklären. Wir wollen nicht das Gleiche tun“, erklärt Scheich Abdel Fadil. Ein wichtiger Einwand. Der IS bezeichnet nicht nur Christen als Ungläubige, sondern auch alle Muslime, die nicht ihrer radikalen Lesart des Islam folgen. „Die haben diese Türe geöffnet, wir wollen sie verschließen“, sagt der Al-Azhar-Gelehrte.
Wo ist die Grenze?
Eine damit zusammenhängende Frage ist, wo die Grenze gezogen würde, bis zu der andere zu Ungläubigen erklärt werden. Beim IS mag das noch relativ klar sein – aber so manches arabische Regime geht recht inflationär mit dem Terroristenbegriff um. „Es besteht auch die Gefahr dass das darauf hinausläuft, jeden, der anders denkt, als Terroristen zu bezeichnen – und damit auch als Ungläubigen“, fürchtet Fadil.
Statt mit Begriffen wie „Ungläubige“ um sich zu werfen, müsse die Al-Azhar den Umgang mit den islamischen Quellen selbst reformieren, fordert der Scheich von seiner Institution. Vieles, mit dem die militanten Islamisten heute argumentieren, hätte in einem bestimmten historischen Kontext durchaus seine Bedeutung gehabt, argumentiert der Gelehrte. Scheich Muhammad Abdel Fadil fordert: Statt darüber zu diskutieren, wer zum Ungläubigen erklärt werden sollte, müsse mehr daran gearbeitet werden, die Interpretation der historischen Quellen des Islam an die heutige Zeit anzupassen.
Aber das ist eine andere, noch viel größere Diskussion.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bundestag bewilligt Rüstungsprojekte
Fürs Militär ist Kohle da
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Kürzungen im Berliner Haushalt
Kultur vor dem Aus
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
BSW-Chefin im ZDF
Wagenknecht räumt Irrtum vor russischem Angriff ein
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren