Justizreform in Israel: Nach dem Taumel
Netanjahu hat die Reform auf Eis gelegt. Zwischen seinen Anhänger*innen und Gegner*innen entwickelt sich jedoch ein neuer Nahostkonflikt.
Der Druck ist raus, vorerst. In Israel liegt die umkämpfte Reform des Justizwesens nach den Massenprotesten der letzten Wochen auf Eis – zumindest für einige Wochen, bis die Parlamentsabgeordneten Ende April wieder zusammenkommen. Bis dahin legt die Knesset eine Sitzungspause ein.
Nun stehen die Pessachfeiertage an. Doch so richtig durchatmen werden an diesem höchsten jüdischen Fest wohl die wenigsten. Allen ist klar: Nichts ist entschieden.
Benjamin Netanjahu, erst seit Dezember wieder Regierungschef, steht mit dem Rücken zur Wand. Sein Koalitionspartner Itamar Ben-Gvir hat zwar nachgegeben und der Aussetzung der Justizreform zugestimmt: Den Preis dafür, dass der Minister für Nationale Sicherheit die Koalition nicht platzen ließ, hat Netanjahu bezahlt, indem er Ben-Gvir eine eigene Nationalgarde zusagte. Sie soll parallel zur regulären Polizei landesweit auf den Straßen patrouillieren.
Nach den bislang bekannten Plänen soll die Garde die gleichen Befugnisse bekommen wie die Polizei, aber nicht dem Innenministerium, sondern Ben-Gvirs Ministerium unterstehen. „Die Nationalgarde wird als qualifizierte und geschulte Kraft dienen, um verschiedene Notfälle, Kriminalität und Terror zu bewältigen und bei Bedarf die Staatsführung zu stärken“, heißt es in einem Vorschlag, den Ben-Gvir vorlegte. Ein Komitee, dem das Kabinett noch zustimmen muss, soll innerhalb von 60 Tagen Details ausarbeiten.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Die Menschenrechtsorganisation Association for Civil Rights in Israel warnte vor einer „privaten bewaffneten Miliz, die direkt unter Ben-Gvirs Kontrolle“ stünde. Befürchtet wird eine Art Miliz der israelischen Siedlungsbewegung. Der Rechtsextremist Ben-Gvir ist einer ihrer Wortführer und provoziert gern mit rassistischen, anti-arabischen Parolen. Wegen Hassrede und Mitgliedschaft in einer jüdisch-rechtsterroristischen Organisation wurde er in der Vergangenheit angeklagt und verurteilt.
Dass Netanjahu seinem extremistischen Minister entgegenkommt, zeigt, wie sehr der Regierungschef unter Druck seiner Koalitionspartner steht – und wie sehr diese bemüht sind, gegen den Widerstand der Protestbewegung dem Land nachhaltig ihren illiberalen Stempel aufzudrücken.
Vor der Pessachpause hatten sich vergangene Woche die Ereignisse überschlagen. Am Sonntag kündigte Netanjahu an, seinen Verteidigungsminister Joav Gallant zu feuern, der die eigene Regierung aufgerufen hatte, die Justizreform nicht ohne Dialog mit der Opposition durchzupeitschen. Wenig später befand sich das Land im Ausnahmezustand. In Tel Aviv brannten Barrikaden, in Jerusalem durchbrachen Demonstrierende Polizeisperren auf dem Weg zur Residenz Netanjahus. Am Montag legte auch noch die Dachorganisation der Gewerkschaften mit einem Generalstreik das Land lahm. Am Abend endlich trat Netanjahu vor die Kameras. „Wenn es eine Möglichkeit gibt, einen Bürgerkrieg durch Dialog zu vermeiden, nehme ich als Ministerpräsident eine Auszeit für den Dialog“, sagte er.
„Bibi muss gehen“
Die Freude über diesen Zwischensieg währte nur kurz. Nach dem Taumel wurde den Regierungskritiker*innen schnell klar: Netanjahu hatte zwar für den Moment keine andere Wahl, als die Justizreform zu verschieben – nicht nur wegen der Straßenproteste, sondern auch wegen des ökonomischen Drucks und der Reservesoldat*innen, die aus Protest ihren Dienst verweigert hatten.
Auch vonseiten der USA steht Netanjahu, der weiter auf eine Einladung ins Weiße Haus wartet, unter Druck.
Doch am Ende, glauben viele Regierungskritiker*innen, spielt die Regierung nur auf Zeit, um der Protestbewegung den Wind aus den Segeln zu nehmen und ihre Gesetzesvorhaben in einem Monat doch noch vom Parlament absegnen zu lassen. Die geplante Reform zielt in erster Linie auf eine Schwächung des einflussreichen Obersten Gerichts ab sowie auf deutlich mehr Mitsprache der Regierung bei der Auswahl von Richter*innen.
Immerhin: Seit Dienstag verhandeln Opposition und Regierung über einen möglichen Kompromiss – oder besser: über einen unmöglichen Kompromiss. Denn dass eine Einigung in Sicht ist, daran zweifeln die meisten Israelis. Das Land ist gespalten. Die einen wollen ein national-religiöses Regime und ein Großisrael, das auch die palästinensischen Gebiete umfasst. Und kein Oberstes Gericht der Welt soll ihnen bei dem umfassenden Staatsumbau dazwischenfunken. Die anderen – wo auch immer sie sich im rechts-links-Spektrum verorten – stehen für ein liberales, säkulares und demokratisches Israel mit einer klaren Trennung zwischen Exekutive und Judikative.
„Die jüngsten Ereignisse zeigen, dass die Liberalen nicht bereit sind, ein autoritäres, theokratisches Regime zu akzeptieren“, sagt Ofri Ilany, Historiker am Van-Leer-Institut in Jerusalem und Kolumnist der Tageszeitung Haaretz. Nach dem Sieg des rechts-religiösen Lagers bei der Wahl im vergangenen November habe in Israel das Gefühl vorgeherrscht, die Menschen würden die Entwicklung entweder hinnehmen oder das Land verlassen. „Es hat sich herausgestellt, dass es so einfach nicht ist“, resümiert Ilany, „die liberale Bevölkerung ist mächtig, nicht zuletzt in wirtschaftlicher Hinsicht.“ Außerdem habe sie starken Einfluss auf die Armee, vor allem auf die Eliteeinheiten.
Bekommt Israel nun eine Verfassung?
Israels liberales Lager und die politische Mitte haben derzeit wieder Rückenwind. Erstmals seit Monaten hätte ein Mitte-links-Bündnis wieder eine Mehrheit in der Knesset, selbst ohne Beteiligung von mehrheitlich arabischen Parteien. Netanjahus Likud befindet sich im freien Fall. Immer mehr Israelis, die einst „Bibi“ Netanjahu wählten, wenden sich von ihm ab. „Bibi muss nach Hause gehen“, sagt ein Verkäufer, der Netanjahu einst unterstützte, in einem Elektrogeschäft in Tel Aviv, „das alles ist doch Wahnsinn.“
Vielen ist klar geworden, dass Netanjahu tatsächlich bereit ist, das Land in den Abgrund zu stürzen, um sich an der Macht zu halten und einer möglichen Gefängnisstrafe zu entgehen. Der 73-Jährige steht wegen Korruptionsverdacht vor Gericht. Um einer möglichen Haftstrafe zu entgehen, braucht er seine Koalitionspartner, die ihm mit Gesetzesänderungen Immunität verschaffen könnten.
Doch Israels Protestbewegung hat Appetit bekommen. Manche träumen gar davon, dass sich das Land endlich eine Verfassung gibt. Seit der Staatsgründung hat Israel lediglich von der Knesset verabschiedete Grundgesetze. Sie geben im Zusammenspiel mit der Rechtsprechung des Obersten Gerichts dem israelischen Rechtsstaat seine Form.
Immer wieder hatten Demonstrierende zuletzt gigantische Kopien der Unabhängigkeitserklärung von 1948 an Gebäuden oder der Altstadtmauer von Jerusalem ausgerollt. In der heißt es, dass bis Oktober 1948 eine Verfassung geschrieben werden soll. Bislang sind sämtliche Vorstöße gescheitert.
Ofri Ilany glaubt nicht, dass Israel bald eine Verfassung bekommt. Vielmehr befinde sich das Land am Anfang eines Prozesses, der zu einer Neuordnung der Beziehungen zwischen den – wie er sagt – „Stämmen Israels“ führen könnte. Tatsächlich macht in der Protestbewegung die Idee die Runde, dass sich das Land – anknüpfend an die zwei Königreiche Israel und Juda aus biblischen Zeiten – in zwei teilen könnte. In der Version des 21. Jahrhunderts wäre Israel der säkulare Staat, Juda der religiöse. Noch liegt ein solches Szenario in weiter Ferne, doch Ilany beobachtet eine enorme Anziehungskraft der Vorstellung. Viele Israelis würden sich schlicht nicht von religiös-nationalistischen Kräften regieren lassen wollen.
Zwischen Bürgerkrieg und neuen Koalitionen
Immer mehr Menschen halten einen Bürgerkrieg für möglich. Nach Präsident Herzog hat auch Netanjahu das Wort Bürgerkrieg in den Mund genommen, als er die Justizreform einfror. Und es sind nicht nur Zusammenstöße zwischen Demonstrierenden beider Lager, sondern auch Pläne wie der für Ben-Gvirs Nationalgarde, die im Land die Furcht nähren, dass die Konfrontation nicht auf Massenproteste und zivilen Ungehorsam beschränkt bleiben könnte. Aufseiten der Liberalen wächst der Hass auf „Gottesfürchtige“, aufseiten der Religiösen die Ablehnung der Säkularen.
Ein möglicher Ausweg wäre, dass moderate Oppositionskräfte wie Ex-Verteidigungsminister Benny Gantz die extremistischen Kräfte in der Regierung ersetzen. Eine verschärfte Sicherheitslage könnte zu einem solchen Umbau der Koalition führen. Ein Blick ins Westjordanland, wo sich die Lage mit der neuen israelischen Regierung zugespitzt hat, genügt. Aber auch Entwicklungen im Libanon und in Iran beunruhigen Sicherheitsexpert*innen. Am Ende bleibt das Land gespalten. Zusätzlich zu äußeren Bedrohungen hat Israel seinen neuen Nahostkonflikt zu lösen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels