Zwei Männer auf einer Couch, davor Bierdosen

Dänemark, 1999, Besäufnis Foto: Privat

Jugendliche in Ostdeutschland:Wir waren wie Brüder

Unser Autor ist vor Neonazis weggelaufen und er war mit Rechten befreundet. In den Neunzigern in Ostdeutschland ging das zusammen. Und heute?

Ein Artikel von

1.10.2018, 13:54  Uhr

Die eigene Hässlichkeit kann ein Rausch sein. Wenn man sie umarmt und das Grauen in den Gesichtern derer sieht, die einen beobachten und verachten, aber sich nicht an einen herantrauen, dann strömt Macht durch die Adern wie elektrischer Strom.

Für diesen Text wurde der taz-Redakteur Daniel Schulz 2019 mit dem Theodor-Wolff-Preis in der Kategorie „Meinung Überregional“ ausgezeichnet.

Schon 2018 war Daniel Schulz für diesen Text mit dem Deutschen Reporterpreis in der Kategorie „Bester Essay“ geehrt worden.

Weitere ausgezeichnete taz-Texte finden Sie hier.

Als ich bei über hundert Kilometern pro Stunde einem BMW hinter uns auf die Motorhaube pisse, spüre ich diese Macht. Als ich da im Dachfenster stehe, die Hose bis zu den Oberschenkeln heruntergelassen, sehe ich das große weiße Gesicht des Fahrers: Die Augen geweitet, vor Schreck, Entsetzen, Empörung, bläht es sich auf wie ein Ballon, ich würde gern mit einer Nadel hineinstechen.

Ich bin neunzehn, ich bin zehn Meter groß und acht Meter breit, ich bin unverwundbar.

Als am 27. August 2018 Männer meiner Generation, so um die vierzig, in Chemnitz einen „Trauermarsch“ veranstalten und einige ihre nackten Hintern in die Kameras halten, wie man es bei YouTube sehen kann, denke ich an meine Autobahnfahrt. Als schwere Männer Hitlergrüße zeigen und Menschen angreifen, deren Hautfarbe ihnen nicht passt, als die Polizisten nicht einschreiten, bin ich paralysiert, als würde etwas Dunkles hochkommen, von dem ich dachte, ich hätte es hinter mir gelassen. Aber ich erinnere mich auch an diesen Machtrausch, den Kick, wenn du jemandem klarmachst: Regeln? Und was, wenn ich auf deine Regeln scheiße, mein Freund? Was dann?

Ich sehe Chemnitz und frage mich: Was habt ihr mit mir zu tun? Was ich mit euch?

Die Sieger der Neunziger

Dieser Text wurde für den Deutschen Reporterpreis 2019 nominiert. Sechs weitere Beiträge, die in der taz erschienen sind, stehen ebenfalls auf der Liste der Nominierten. Hier sind sie alle nachzulesen. Die Entscheidung über die besten Texte fällt am 3. Dezember.

Zum Tag der Deutschen Einheit wird es wieder die geben, die erzählen, warum die Wiedervereinigung eine Erfolgsgeschichte ist. Schon das Wort „Wiedervereinigung“ ist eine Lüge, werden die anderen sagen, die vor allem sehen, was verloren ging: Betriebe, Selbstachtung, ganze Leben. Gerade sind die besonders gut zu hören, die sagen: Erkennt endlich die Leistungen derjenigen an, die sich eine neue Welt aufbauen mussten. Die auch oft sagen: Lasst mich in Ruhe mit den Opfergeschichten, wir sind stolz auf das, was wir geschafft haben, selbst wenn wir gescheitert sind.

Regeln? Und was, wenn ich auf deine Regeln scheiße, mein Freund? Was dann?

Gerade, fast dreißig Jahre nach der Wende, erzählt die Generation meiner Eltern und Großeltern ihre Geschichten. Nicht das erste Mal, aber es scheint die richtige Zeit zu sein. Die sächsische Staatsministerin für Integration, Petra Köpping, hat einige dieser Geschichten aufgeschrieben in ihrem Buch „Integriert doch erst mal uns!“ und sie füllt in Ostdeutschland zur Zeit jedes Haus.

Es geht viel um verlorene Arbeitsplätze und ja, das klingt hübsch technisch, wie ein leicht lösbares Problem. Aber in diesem preußischen Vollbeschäftigungsstaat namens DDR, in dem Arbeit gleich Lebenssinn war und die wenigen, die keine Jobs hatten, „Assis“ gerufen wurden, bedeutete das eben auch: Kollegen, Brüder, Ehemänner, die sich erhängten, Geschwister und Cousins, die sich langsam zu Tode soffen, Familien, in denen es erst heiß aufwallte wie in einem Vulkan, weil einer jetzt mehr hatte als die anderen und dann erstarrte alles zu einer toten Landschaft kalter Schlacke. Frauen, die so sehr anpackten, um sich, ihre Männer und ihre Kinder durchzubringen, bis nichts mehr von ihnen übrig blieb als der Wille „es zu schaffen“.

Ist da noch Platz für die Erzählungen der neunziger Jahre aus der Sicht derjenigen, die beim Fall der Mauer zu alt waren, um nichts von der Vergangenheit mitbekommen zu haben, aber zu jung um mitzureden, wie die Zukunft aussehen sollte? Über das Jahrzehnt, in dem auch die Menschen aufgewachsen sind, die heute Hitlergrüße zeigen und brüllen?

„Mit den neunziger Jahren verbinde ich persönliche Erlebnisse, die derzeit wieder hochkommen“, sagt Manja Präkels, „und wenn ich im Land unterwegs bin, sehe ich jetzt oft genau die Leute bei der AfD wieder, die sich als Sieger der Kämpfe der neunziger Jahre begreifen.“

Präkels hat das Buch „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ geschrieben, über die letzten Tage der DDR und das barbarische Jahrzehnt, das Ostdeutschland danach erlebte. Präkels ist 1974 geboren und in Zehdenick aufgewachsen, einer Stadt nördlich von Berlin. Ihr Buch ist neben „Oder Florida“ von Christian Bangel der zweite Roman mit autobiografischen Zügen, der im vergangenen Jahr erschienen ist und vom Ostdeutschland der neunziger Jahre handelt.

Ich habe sie angerufen, um sie zu fragen, ob auch sie sich an damals erinnert fühlt, wenn sie die Bilder aus Chemnitz und Köthen sieht. Sie sagt, wenn sie auf Lesereisen unterwegs sei oder bei Tagungen, dann treffe sie auf Rechtsextreme, die angetrieben sind von dem, was sie damals erreicht haben in Rostock-Lichtenhagen und bei den vielen kleineren Feuern, die kaum jemand sah. „Sie begreifen sich als Sieger dieser Kämpfe“, sagt Präkels, „weil nichtweiße Menschen damals aus Ostdeutschland abtransportiert worden sind. Das hat die Gewalt jener Jahre in ihren Augen nachträglich legitimiert.“

Wann fängt man also eine Geschichte über damals an? Für mich begann es nicht 1989. Für mich begann es in der DDR.

Ein Hakenkreuz auf der Schulbank

In der zweiten Klasse malt Ricardo mit dem Bleistift ein Hakenkreuz auf die Schulbank. An sich nichts Besonderes, auch ich habe das schon gemacht, einmal an einem Junitag 1987, während ich in mein Diktatheft krakele: „Heute kommt unsere Mutter spät nach Hause. Wir wollen helfen.“ Hakenkreuze malen ist das Verbotenste, was ich mir vorstellen kann. Jedes Mal brüllt ein kleines Tier in meinem Brustkasten seine Freude darüber hinaus, nicht erwischt worden zu sein. Die Kunst ist, aus dem Hakenkreuz gleich wieder ein kleines Fenster zu machen, bevor einen jemand sieht.

Aber Ricardo ist zu langsam gewesen oder vielleicht hat er vergessen, die Striche weiter zu ziehen, ich sehe es, zwei Freunde sehen es, wir nehmen ihn uns vor, als die Lehrerin nicht im Klassenzimmer ist. Es ihr zu sagen, geht nicht. Eine Petze zu sein, war schlimmer als alles andere. Wir müssen das unter uns regeln.

„Du weißt, dass das falsch war?“, frage ich.

Er heult. Er ist schwerer als ich und größer, aber er versucht nichts, zwei andere Jungs aus der Klasse stehen neben ihm. „Nimm die Brille ab“, sage ich. Ricardo heult noch ein bisschen mehr, er fleht mit großen Augen und ja, na klar, wohnen wir im gleichen Block und ja, wir wollen uns am Nachmittag wieder beim Sandkasten vor dem Haus treffen, aber erst einmal muss das hier erledigt werden.

Der im sozialistischen Jugoslawien geborene Schriftsteller Tijan Sila hat dieses Verhalten von Jungen in seinem Buch „Tierchen Unlimited“ so beschrieben: „Die Erziehung von Grundschülern sollte das Ethos der Partei spiegeln, und das erschloss sich mir damals nur in Gegensätzen: oben ein kaltes, appolinisches Gesicht, das Keuschheit, Nüchternheit und Leidensfähigkeit forderte, und darunter ein triebhafter, dämonischer Torso, der Härte, Kampf, Rivalität oder Opfer gut fand.“ Vielleicht blieb dieser Torso übrig, als der Kopf mitsamt der DDR verging.

Rechte Gewalt ist „Rowdytum“

Ums Kämpfen ging es in der DDR oft, die größten Kämpfer waren die, die nicht mehr lebten: die kommunistischen Antifaschisten, die in den Lagern gestorben waren, damit wir es besser hatten. Von Wandbildern und aus unseren Schulbüchern blickten uns muskulöse weiße Männer an. Von den Juden erzählten unsere Lehrerinnen nur, dass die Nationalsozialisten sie umgebracht hatten. Gekämpft hatten sie jedenfalls nicht.

Auf dem Nachhauseweg von der Schule erzählen wir Jungs uns Judenwitze. Zu viert oder zu fünft laufen wir über Kopfsteinpflaster und schwarzen Sand nach Hause, am Friedhof und an der Kneipe vorbei hin zu den vier Neubaublöcken am Rande des Dorfes.

Einer fragt: „Was ist der Hauptgewinn in der KZ-Lotterie?“

Ich sage: „Kenn ich doch schon. Eine Platzkarte in der Gaskammer.“

Auf dem Nachhauseweg erzählen wir Jungs uns Judenwitze

Später habe ich unsere Witze in dem Buch „Das hat’s bei uns nicht gegeben!“ wiedergefunden. Veröffentlicht hat es vor einigen Jahren die Amadeu Antonio Stiftung, benannt nach einem angolanischen Vertragsarbeiter, den junge Männer 1990 in Eberswalde so lange schlugen, bis er ins Koma fiel und später starb.

Woher wir unser Witze hatten, weiß ich nicht mehr. Es hätte sie gar nicht geben dürfen. In der Verfassung der DDR stand, der Faschismus sei besiegt. Und weil er nun einmal besiegt war, durfte er nicht existieren. Die Staatssicherheit, das lässt sich in dem Buch der Stiftung ebenso nachlesen wie in den Berichten des Geheimdienstes selbst, nannte Hakenkreuze auf jüdischen Friedhöfen und Neonazis, die andere Menschen zusammenschlugen, „Rowdytum“ und tat so, als gäbe es keinen politischen Hintergrund. Punks und alle, die anders aussahen als sich die sozialistische Elite ihre Bürger vorstellte, verfolgten Geheimdienst und Polizei dagegen hart als Auswüchse einer Dekadenz, die nur aus dem Westen kommen konnte.

Daran knüpft die AfD heute an. Die Partei setzt wie keine andere darauf, eine ostdeutsche Identität zu feiern und zu fördern. In Wahlkämpfen und Reden umwerben ihre Politiker die Menschen damit, wie fein deutsch und wenig verfremdet es in Ostdeutschland so zugehe. Und die Erzählung vom unpolitischen Rowdytum scheint bei vielen Polizisten ebenfalls heute noch zu funktionieren.

Eine verstörende Untersuchung

War das in der Bundesrepublik denn besser? Klassische Frage, die immer kommt, wenn man etwas über die DDR schreibt. Vielleicht ließe sich sagen, es gab in Westdeutschland wenigstens die Chance auf ein öffentliches Gespräch. In der DDR lief so eine Serie wie „Holocaust“ nicht im Fernsehen, die Leute konnten danach nicht darüber reden, sich aufregen oder weinen – zu Hause, in der Kneipe, im Bus. Und bei allem Verständnis für den Willen, sich von Westdeutschen nicht mehr das eigene Leben ausdeuten zu lassen: Ist es wichtiger, das Andenken an die DDR zu retten oder sich Gedanken darüber zu machen, warum die eigenen Kinder von Nazis gejagt werden oder selbst andere jagen?

Nach dem Überfall von Neonazis auf ein Punk-Konzert in der Ostberliner Zionskirche 1987 wollte das Zentralkomitee der SED dann doch einmal die neonazistischen Umtriebe untersuchen. Die Forscher registrierten 1988 bis zu 500 Taten aus dem rechtsextremen Milieu pro Monat. Die Ergebnisse verschreckten die Machthaber so sehr, dass sie sie gleich wieder wegschlossen. Der Oberstleutnant der Kriminalpolizei, der das Team geleitet hatte, wurde ab da von der Stasi beobachtet.

Wir lesen „Pawel“ in der vierten Klasse. Wir haben das grüne Schulbuch vor uns auf dem Tisch liegen, wir lesen abwechselnd ein paar Sätze vor. Ein Leutnant der Wehrmacht sitzt am Rande eines brennenden sowjetischen Dorfes und sieht einen spielenden Jungen. Er denkt: „Worin besteht der Unterschied zwischen diesem und einem deutschen Kind?“ Er rettet den Jungen vor dem heranrasenden Auto eines Feldwebels, sie fliehen zusammen zu sowjetischen Soldaten und der Leutnant kehrt an der Seite der Roten Armee nach Deutschland zurück. Fünfeinhalb Seiten dauert die Transformation des Nazi-Offiziers zum Kommunisten und sie beschreibt in ihrer kindgerechten Kürze recht gut den antifaschistischen Mythos der DDR. Der Staat musste ein paar Verführer bestrafen, den großen Teil seiner Bürger konnte er dann, ohne groß über die Vergangenheit zu reden, zum Aufbau des neuen Staates einsetzen.

Zugleich wussten wir wenig vom Fremden. Selbst unsere angeblichen Brüder kannten wir nicht. „Wir zeigen unsere freundschaftliche Verbundenheit mit dem Sowjetvolk“, schreibe ich am 8. Mai in meinen Heimatkundehefter. Aber wir sehen sie kaum, obwohl viele Kasernen gar nicht so weit weg sind. Manchmal marschiert ein Trupp mit Kalaschnikows auf dem Rücken an unserem Kindergarten vorbei und wir drücken uns an den Zaun und sehen ihnen nach. „Scheißrussen“, sagt ein Junge neben mir, und als ich ihn frage warum, sagt er: „Wenn der blöde Hitler unsere Wehrmacht nicht kaputt gemacht hätte, wären die jetzt nicht hier.“ Das hatte ihm jedenfalls sein Vater erzählt.

Wir wussten nicht, wer die Juden waren. Wir wussten nicht, wer die Russen waren. Wer die Nazis waren, wussten wir. Der Nazi war einer, der aus dem Westen kam. Der Kapitalismus galt als Vorstufe des Faschismus, und tatsächlich saßen ja noch alte Nazi-Eliten auf genügend Machtpositionen, um die als Beweis zu präsentieren. Als die Staatssicherheit 1960 im Bezirk Rostock eine „Aufstellung über Hakenkreuzschmierereien“ mit über fünfzig Delikten erstellte, sagte der Leiter der Bezirksverwaltung, diese seien „Teil der Provokation aus Westdeutschland“. In „Käuzchenkuhle“, einem der bekanntesten Jugendbücher der DDR, löst ein Junge zusammen mit seinen Freunden einen Kriminalfall, bei dem „der Fremde“, ein ehemaliger SS-Mann aus Westdeutschland, zurückkehrt, um alte Nazi-Raubkunst zu bergen. Noch 2006 erklärte mir der SPD-Innenminister eines ostdeutschen Bundeslandes vor einem Interview, das Naziproblem käme aus dem Westen und, nein, in der DDR habe es das nicht gegeben.

Der Fall der Mauer brach mir das Herz. Ich hatte Angst vor dem Westen, vor den Faschisten, einfach davor, dass alles, was ich kannte, kaputt gehen könnte.

Ich wollte Krieg
Ein Foto des Autors

Zuhause auf dem Dorf, 2000, Warten auf Freunde Foto: Privat

Die Erwachsenen rührten keinen Finger. Sie saßen vor dem Fernseher und sahen sich Demonstrationen an. Sie unterrichteten uns weiter in der Schule, als sei alles völlig normal. Dass wir wirtschaftlich keine Chance hatten, war mir ja klar, jeder Junge, der wusste, wo die Matchboxautos herkamen, begriff das. Aber mein Vater war Oberstleutnant der verdammten Nationalen Volksarmee, er hatte mal dreißig Panzer kommandiert, wo waren die denn jetzt?

Ich wollte eine chinesische Lösung, ich wollte Tiananmen-Platz in Berlin und Leipzig. Als mein Vater, der Feigling, nicht loszog, um die Irren da draußen zu stoppen, überlegte ich, wie ich ihm seine Makarow-Dienstpistole klauen könnte. Mein Plan war, in Westberlin ein paar Leute zu erschießen und einen Krieg zu provozieren. Denn den, da war ich mir sicher, den würden wir gewinnen.

Wir fuhren mit dem Begrüßungsgeld nach Berlin-Spandau. Bei Karstadt kaufte ich mir ein Telespiel, einen kleinen blauen Computer, mit dem ich Eishockey zocken konnte.

Mit jedem neuen Level wurde der Puck schneller und schwieriger zu erreichen. Es fing mit Piep – piep – piep an und steigerte sich pieppiep pieppiep pieppiep bis zu pipipipipipip. Wie hypnotisiert starrte ich auf die kleine blinkende Scheibe, bis die Welt um mich herum nur noch gedämpft zu hören war, wie hinter Watte. Die Erwachsenen hatten mich verraten, ich hatte mich für ein Computerspiel verkauft. Ich war wütend, aber ich hatte keine Ahnung auf wen.

„Du warst im HJ-Modus“, hat zwei Jahrzehnte später ein Freund zu mir gesagt, „wie die Hitlerjungen beim Volkssturm“. Da wohnte ich schon lange in Berlin. Er hatte in den Jugoslawien-Kriegen genügend Jungen gesehen, die für Wut, Angst und Ohnmacht ähnlich der meinen gestorben waren.

Eine Rakete mit Freund-Feind-Zielsystem

In der zweiten Klasse sangen wir: „Soldaten sind vorbeimarschiert, die ganze Kompanie. Und wenn wir groß sind, wollen wir Soldat sein so wie sie.“ In unserem Musikbuch standen Lieder über den Frieden auf der Welt und „Ein Männlein steht im Walde ganz still und stumm.“ Aber eben auch: „Mein Bruder ist Soldat im großen Panzerwagen, und stolz darf ich es sagen: Mein Bruder schützt den Staat.“

Vor wem der große Bruder uns schützte, war klar: Vor dem Westen. Aber niemand schützte mich jetzt. Kämpfen wollte ich, aber gegen wen? Wohin fliegt eine Rakete mit einem Freund-Feind-Zielsystem, wenn die eigenen Eltern zum Gegner übergelaufen sind?

War ich der einzige, dem es so ging? Ich weiß es nicht, ich habe mich mit Freunden nie darüber unterhalten.

Der Zerfall beginnt im Fernsehen. Ich sehe weinende Menschen, starre Menschen, graue Menschen, meistens vor irgendwelchen Schornsteinen oder Werktoren und immer macht irgendetwas zu. Dann zerfallen die Männer auf dem Dorf. Wenn ich von der Schule komme, sitzen sie an den Garagen. Sie haben früher Kräne gefahren, große russische Traktoren und Mähdrescher. Jetzt erzählen sie sich Witze über ihre Frauen, die mit irgendwelchen Putzjobs oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen versuchen, die Familien über Wasser zu halten. Sie sagen: „Die Alte nervt“. Dann trinken sie noch einen Schnaps. Oft reden sie gar nicht.

In den Zeitungen, im Radio, im Fernsehen lesen, sehen und hören wir die passenden Botschaften dazu. Ostdeutsche sind zu doof, sich in der neuen Welt zurecht zu finden. Ostdeutsche sind faul. Ostdeutsche sind betrunken. Erst schäme ich mich noch, dann schaue ich der geworfenen Scheiße belustigt beim Fliegen zu und noch später bin ich stolz darauf, dass „wir“ härter sind als die so leicht zu schockierenden Wessis, die ihr ganzes Leben als Kausalzusammenhang erzählen können, in dem es für alles einen guten Grund und keine dunklen Flecken gibt. Es kann auf eine dämonische Art befreiend sein, wenn von dir und den Leuten um dich herum nur noch das Schlechteste erwartet wird. Als Zwölf- oder Dreizehnjähriger sehe ich das noch nicht, ich sehe nur die Männer in ihren Garagen und ich sehe meine Zukunft.

Die Polizei weicht zurück

Mein Vater trinkt dort nicht. Die Bundeswehr hat ihn übernommen. Im Frühjahr 1992 werden sie bei der Kontrolle eines sowjetischen Stützpunkts beschossen. Mein Vater verlässt die Armee und verkauft später Versicherungen. So wie viele andere Männer aus der Polizei, dem Ministerium für Staatssicherheit und der Nationalen Volksarmee. Ein Abstieg war es, aber er war nicht so hart.

Im Fernsehen sieht man Häuser brennen, in denen vietnamesische Vertragsarbeiter leben. Man sieht Männer, die mit Gehwegplatten auf Menschen werfen. Ich sehe, wie die Polizisten verloren vor der Meute stehen. Ich sehe, wie sie zurückweichen.

Der Zerfall beginnt im Fernsehen. Ich sehe weinende Menschen, starre Menschen, graue Menschen

„Offenbar ist vielen im Westen nicht klar, dass in Ostdeutschland zwei Generationenkohorten existieren, deren kollektive politische Erfahrung sich daraus speist, ein politisches System gestürzt und anschließend den neuen Staat in Hoyerswerda und Rostock gezwungen zu haben, vor ihrem rassistisch motivierten Willen zurückzuweichen.“ Das schreibt der Rechtsextremismus-Experte David Begrich nach den Märschen von Chemnitz in einem Text, den viele auf Facebook teilen. Begrich war damals in Rostock-Lichtenhagen, er war einer derjenigen, auf den die grölenden Männer Gehwegplatten warfen.

Bis Ende der neunziger Jahre weicht dieser neue Staat zurück – in den Kleinstädten und Dörfern. Viele Menschen, die so alt sind wie ich, rechnen nicht mehr mit ihm. Wir sehen alle dasselbe: Es kommen keine Polizisten, wenn dreißig Kahlrasierte vor einem Jugendklub auftauchen und Leute vermöbeln oder sie kommen nur zu zweit und bleiben dann in ihren Autos sitzen. Was sollen sie machen? Selbst verdroschen werden? Das passiert manchmal auch.

Die große Macht der Volkspolizisten ist ebenso gebrochen wie die unserer Lehrerinnen. In der DDR konnten diese Autoritäten noch im Alleingang ganze Biografien versauen – du darfst studieren und du nicht – und jetzt lachen wir sie aus, wenn sie vor uns stehen. Wir lachen, bis sie heulen. Sie haben Angst vor der neuen freien deutschen Jugend.

Du kannst sterben, ganz leicht

Heute bin ich öfter in osteuropäischen Staaten unterwegs, die früher ebenfalls sozialistisch waren. Wenn ich dort mit Leuten meines Alters über die Brüche der Neunziger rede, die Barbarei, die Entgrenzungen, die sie oft härter und krasser beschreiben, weil es dort härter und krasser war als in Deutschland, dann finde ich bei ihnen ein Verhältnis zur Polizei, was mich an meines damals erinnert: irgendetwas zwischen Furcht und Verachtung.

Und natürlich sind das heute nicht die Neunziger, der neue Staat hat sich konsolidiert. Aber wenn wie in Chemnitz dann doch zu wenige Polizisten dort stehen, wenn Beamte in Köthen eine rechtsextreme Rednerin bei ihren Vergasungs- und Mordfantasien nur filmen, statt sofort in die Demo zu gehen, dann bestärkt das Nazis wie ihre Gegner in dem, was sie gelernt haben: Der Staat weicht zurück.

Nach dem Mauerfall lernte ich noch etwas, in den folgenden Jahren, als die Liste der Toten immer länger wurde: Du kannst sterben, ganz leicht. Wenn in einer Horde von Nazis nur ein Psycho dabei ist, nur einer, dem deine Fresse nicht gefällt und der dann nicht aufhören kann, dann bist du tot. Manche Bekannte bildeten sich ein, sicher zu sein, weil sie weiß waren. Sie glaubten, sich verstecken zu können. Aber wer anders ist und wer nicht, das legst nicht du selbst fest, sondern der Nazi. Es starben Mahmud Azhar und Farid Guendoul ebenso wie Wolfgang Auch und Horst Hennersdorf.

Als ich dem Hass zum ersten Mal persönlich begegne, bin ich elf oder zwölf Jahre alt. Meine Mutter arbeitet noch immer als Agrochemikerin, sie berechnet, wie viel Dünger das gelbe Streuflugzeug auf die Felder um unser Dorf herunterfallen lässt. Der Pilot dieses Flugzeuges sitzt eines Tages bei uns im Wohnzimmer auf einem brauen Stoffsessel, er wartet auf meine Mutter und ich frage ihn, weil ich ihn mag, weil ich ihn cool finde, ich meine, er ist schließlich Pilot, jedenfalls frage ich ihn, wie es denn jetzt für ihn weitergeht. Und er erzählt von den „Wallstreetjuden“, die das alles zu verantworten hätten, er wird lauter, erregter, brennende Röte erst am Hals, dann im Gesicht. Ich weiß das noch so genau, weil ich mit dem Wort „Wallstreet“ nichts anfangen kann und Juden, denke ich, gibt es doch bei uns gar keine. Der Mann überrollt mich mit einer Wut, von der ich weder die Quelle kenne noch das Ziel.

Die Söhne der Nazi-Clans

Neue Regeln. Ich hätte sie gerne gelernt, wenn ich denn welche begriffen hätte. Ist es besser, den Bus zu nehmen, aus dem man nicht mehr rauskommt, wenn Glatzen einsteigen? Oder besser laufen oder Fahrrad, aber dann bist du zu langsam, wenn sie dich mit dem Auto jagen? Auch andere versuchten, die neue Welt zu ordnen: Die Kreisstadt ist rechts, die Dörfer sind links. Aber diese Ordnung zerbröselte sofort wieder, wenn fünfzehn, zwanzig, dreißig Nazis ein Dorffest aufmischten.

Viele Glatzen kamen aus großen Familien, die lebten in ihren Häusern inmitten von Hitlerbüsten und Reichskriegsflaggen. Die Clan-Söhne mit den Namen, die man fürchten musste, waren vier bis acht Jahre älter als ich. Mit ihren tiefergelegten Golfs oder zu Fuß patrouillierten sie durch die Stadt. Wen sie verschonten und wen sie sich vornahmen, folgte einem Kodex, den vor allem sie selbst verstanden. Wenn sie jemanden aus DDR-Zeiten kannten, aus der Schule, konnte das gut sein. Oder eben besonders schlecht, wenn sie ihn schon damals nicht mochten. Bunte Haare waren scheiße, lange auch. Aber wer aus der Kreisstadt kam, die übrigens Mitte der Neunziger zur Kleinstadt degradiert wurde, der war auch mit langen Haaren an einem Abend okay, und man mischte lieber eine andere Nazi-Gang auf, weil die vom Dorf nebenan war und „sich hier breit gemacht hatte“.

In den neunziger Jahren habe ich diese Zusammenhänge nur vage begriffen. Vieles habe ich erst bei Gesprächen für diesen Text erfahren. Ich kannte keinen der wichtigen Nazis, ich kam vom Dorf, ich war weit entfernt vom Zentrum der Macht. Ich konnte nicht zwischen denen unterscheiden, gegen die ich mich vielleicht hätte wehren können, ohne dass gleich fünf Mann auf die Suche gingen, und denen, die Lebensgefahr bedeuteten.

Mir passierten einfach Dinge.

Ich sitze im Bus, drei Glatzen steigen ein, ohne zu bezahlen. Sie laufen nach hinten durch, ich tue so, als würde ich lesen. Sie laufen an mir vorbei, plötzlich ist es nass in meinem Gesicht. Einer hat mir ins Gesicht gespuckt. Bevor ich das kapiere, drückt mir der kleinste der Typen seinen Daumen in die linke Wange und reibt kräftig, bis mir die Zähne wehtun. „Du musst dich doch saubermachen“, sagt er mit hoher Stimme. „Muss Mutti dir erst bis in den Bus nachlaufen, hm?“ Wahrscheinlich sehe ich aus wie ein Reh im Scheinwerferlicht eines Autos, die drei bepissen sich fast vor Lachen. Die Hand des Kleinen riecht nach altem Tabak.

Als ich die drei Kilometer von der Schule mal nach Hause laufe, hält ein Auto mit quietschenden Reifen neben mir. Ich renne sofort los, rein ins Feld. Hinter mir höre ich es lachen. Ich laufe über zartes Frühlingsgrün, schwere Brocken Matsch kleben an meinen Schuhen und fallen wieder ab. Sie fahren auf der Straße nebenher, rauchen und schauen mir zu. Ein Kilometer vor dem Dorf geben sie Gas und verschwinden.

Autor als kleiner Junge

Bezirk Potsdam, Ende der achtziger Jahre, vor dem Schulfasching Foto: privat

Der Junge, der in der DDR auf die „Scheißrussen“ geschimpft hat, erklärt mir die Bordbewaffnung seiner Karre. Er zeigt mir seinen Baseballschläger und wo er die Schreckschusspistole unter dem Beifahrersitz versteckt hat. „Ich fahr nicht mehr unbewaffnet raus“, sagt er, „ich bin doch nicht blöd.“

Wie durch die Milchglasscheibe eines Bahnhofsklos sehe ich die Zeit von 1991 bis 1998. Es fällt mir schwer, mich zu erinnern. Es geht nicht nur mir so. „Manchmal habe ich mich gefragt, ob ich mir die ganzen Neunziger nur eingebildet habe“, sagt Manja Präkels, als wir uns darüber unterhalten. Sie sagt: „Selbst Freunde, die dabei waren, konnten oder wollten sich nicht mehr erinnern.“

Ich bin Beute

Als Kind war ich noch klein und dick, aber in der Pubertät schieße ich in die Höhe. Genetisch bin ich Nazi, fast 1,90 Meter groß, blond, graublaue Augen. Ich trainiere mit Hanteln. Aber mir fehlt das Schläger-Gen, die Lust am Blut der anderen, ich sehe den Hunger in den Augen der Clan-Söhne und ihrer Handlanger und ich weiß, ich bin Beute. Also versuche ich zu verschwinden, ich trage grau, ich bin ein Mäuschen. Gott, wenn ich doch nur kleiner wäre.

Hatte ich nicht erst gestern noch alles über Ernst Thälmann und seine Genossen gelesen? Wie sie gestorben waren im Kampf gegen den Faschismus? Ich will nicht sterben, ich will nur in Ruhe gelassen werden. Ich schäme mich. Wir schämen uns alle. „Die neunziger Jahre sind in Ostdeutschland ein großes Tabu“, sagt Manja Präkels. „Diese Zeit ist mit großer Scham behaftet.“ Jeder hat seinen eigenen Grund dafür. Der eine wird gefeuert und findet nie wieder Arbeit, der nächste steht hinter der Gardine und freut sich heimlich, weil das Asylbewerberheim brennt und ich, ich bin eben ein Feigling.

Es wäre durchaus anders gegangen. Es gab die aufrechten Antifaschisten, die Punks, ich wusste von ihnen, ich sah sie allerdings nie auf der Straße. Frauen, die mit mir zur Schule gingen und mit denen ich für diesen Text gesprochen habe, sagten mir, sie hätten keine Angst gehabt. Eine erzählte mir, die Glatzen aus ihrem Dorf hätten meist versucht, sie zu beeindrucken. Sie sagt auch, sie wüsste nicht, ob die schlimmsten Schläger wirklich Nazis waren. Es war und ist nicht ganz einfach, die Trennlinie zwischen denen zu ziehen, die schlagen wollten und sich dafür eine Rechtfertigung in „Mein Kampf“ suchten und denen, die schlugen, weil sie es politisch geboten fanden. Gewalt war normal und in dieser Normalität schwammen die Nazis wie Fische im Meer.

Meinen Eltern erzählte ich nichts. Das wäre petzen. Die Jungs haben die Dinge früher unter sich ausgemacht und das sollen sie jetzt auch. Außerdem war mir ja nichts passiert. Kein Zahn ausgeschlagen, alle Augen noch drin, tot war ich auch nicht. Andere haben ihren Vätern und Müttern etwas erzählt, Manja Präkels schreibt darüber in ihrem Buch und sie schreibt auch, was viele Eltern geantwortet haben: Provozier doch nicht!

Welche Realität ist richtig?

Die Erwachsenen konnten sich nicht vorstellen, dass die lieben kleinen Ricardos, Michaels und Kais von früher zu Kampfmaschinen mutiert sein sollten. Ich hätte es ihnen auch nicht erklären können. Also beschworen sie eine Parallelwelt herauf. Es gibt kein Problem mit Rechtsextremismus, sagten die Bürgermeister, wenn wieder mal einer verpocht wurde oder starb. Ich fragte mich, wer verrückt ist, die oder ich?

„Über die Eltern brach die Katastrophe herein, die mussten überleben“, sagt Manja Präkels dazu, „und dabei gingen ihnen die Kinder oft verloren.“ Und wenn ständig nur geleugnet werde, wenn sich gegenseitig permanent bestätigt werde, es sei normal, wenn bei den Spielen der A-Jugend das Horst-Wessel-Lied gesungen werde, dann entstehe eine neue Normalität.

Ich bin Beute. Also versuche ich zu verschwinden, ich bin ein Mäuschen

Und heute? Ein sächsischer Ministerpräsident, der erst einmal betonen möchte, in Chemnitz sei alles nicht so schlimm gewesen. Ein Verfassungsschutzchef, der in der Bild sagt, ein Video von einem Angriff sei veröffentlicht worden, um von einem Mord abzulenken. Welche Realität ist die richtige? Die meisten Menschen glauben einem Ministerpräsidenten mehr als einem Mann, der nicht weiß ist und erzählt, wie er verfolgt wurde.

Ab der siebten Klasse, im Herbst 1991, gehe ich aufs Gymnasium. Meine Freunde vom Dorf treffe ich nur noch selten, ich war jetzt etwas Besseres, zumindest sehen sie das so oder ich denke, dass sie es denken. Ich ziehe mich zurück. Ich habe früher schon gern gelesen, jetzt lese ich eben noch mehr. Kurz vor der Wende sind wir in einen anderen Block gezogen, ich habe ein eigenes Zimmer und muss nicht mehr mit meinem Vater und meiner Mutter in einem Bett schlafen. Das macht es einfacher, mich zu verstecken. Als ich sechzehn Jahre alt bin, kaufen meine Eltern einen Computer und ich spiele Eishockeymanager. Diese Welten sind vom Draußen unberührt und kontrollierbar. Ab und an gehe ich raus, tauche auf wie ein U-Boot nach langer Fahrt. Die Nachrichten von der Oberfläche sind über Jahre die gleichen: Entweder es gibt Stress oder einer erzählt, wie es Stress gab.

„Der hat seine Freundin gezwungen, als Nutte zu arbeiten und die dann mit dem Kabel erwürgt.“

„Neulich haben sie den einen an der Havel fast kaltgemacht.“

„Die sind mit der Axt in den Jugendklub rein. Die hinter der Tür hat es gleich erwischt. Die Bullen waren wieder bloß zu zweit da.“

Ich finde neue Freunde: Rechte

Freunde habe ich wenige. Ich bin ein Trottel vom Dorf. Meine Mutter hat mir zwar nach langer Bettelei eine Levis gekauft, aber an meinem dicken Hintern sieht die Jeans so aus, als versuchte jemand, meinen Arsch zu zwei dünnen Würsten zu kneten. Tragen muss ich sie trotzdem, die Hose war teuer. Im Schulbus lachen sie über mich. Ich bin oft alleine, also ein Ziel und deshalb gehe ich noch weniger raus.

Nach drei Jahren am Gymnasium finde ich andere Freunde.

Dabei sind: Ein kleiner Dünner, der oft lächelt und der mich mit dem Auto nach Hause fährt, wenn es spät wird. Er sagt: Schon mein Vater war ein Rechter. Dafür hatte er Ärger mit den Scheißkommunisten.

Ein anderer aus der Clique schaut oft finster, aber kitzelt einen ab, wenn es in der Schule scheiße gelaufen ist. Er findet die NPD gut und hat Kontakte zu einem Fascho-Clan in einem größeren Dorf in der Nähe.

Außerdem: Der Sohn eines Polizisten, der immer laut ist, immer Faxen macht, großzügig mit allen teilt und der Kanaken scheiße findet.

Dann einer, der immer ganz ruhig ist, obwohl ihm seine Mutter Stress macht, er dürfe nicht absacken, nicht versagen, nicht untergehen in dieser neuen Welt. Er hört zu Hause CDs von Bands wie Zyklon B und Zillertaler Türkenjäger. Auf der Heckscheibe seines Autos prangt in Fraktur der Schriftzug „Euthanasie“. Die Band heißt eigentlich „Oithanasie“, aber er findet es damals ein lustiges Wortspiel, den Namen so zu schreiben.

Autor im Bett, nebendran Kotzeimer

Zuhause auf dem Dorf, 1997, aufwachen nach dem 18. Geburtstag Foto: privat

Wir durchstreifen das Land im Konvoi. Zum nächsten McDonald’s an der Autobahn, an die Ostsee, nach Tschechien, nach Dänemark. Je mehr wir sind, desto mehr weitet sich unsere Landkarte.

Zwei Autos sind gut, vier Autos sind besser. Im Schwarm schrecken wir andere ab. Ich entdecke, wie geil es sein kann, jemandem Schiss zu machen statt selbst der Schisser zu sein. Ich pinkle einem Wessi auf die Motorhaube.

Der Soundtrack der Böhsen Onkelz

„Rechts“ und „links“, das ist eine Sache der Klamotten, der Frisur und der „inneren Einstellung“, wie wir das damals nennen. Die Mode der harten Nazis verbreitet sich in Molekülen auch an den Gymnasien, die grünen Bomberjacken mit dem orangefarbenen Innenfutter tragen viele. Ich habe lange Haare, ich habe „nichts gegen Ausländer“, ich finde es scheiße, sie zu jagen und zu verprügeln. Das sage ich manchmal auch und dann streiten wir uns. Ich muss vor Nazis wegrennen. Also bin ich links.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

In der Nahrungskette der Jungsgruppen stehen wir nicht weit oben. Wenn die Tighten aus der Muckibude anrücken, die tätowierten Riesenbrocken mit Kampfsport oder Knast im Lebenslauf und keiner der anderen hat irgendeine Beziehung zu jemandem, der jemanden kennt, dann machen wir uns klein oder lösen uns in Luft auf.

Stress gibt es immer noch, natürlich. Wir wollen zum Herrentag, wie das bei uns konsequent heißt, raus an einen See fahren. Zwei möchten da unbedingt mit dem Fahrrad hin. Scheißidee, sagen wir anderen, da kommt ihr alleine niemals an. Sie ziehen es durch. Wir sammeln sie später blutend von der Landstraße und lachen sie aus.

Der Soundtrack dieser Zeit kam von den Böhsen Onkelz. Ich hasste diese Band, bei ihren weinerlichen Liedern für gefallene Jungs dachte ich an die saufenden Männer in den Garagen. Ein Lied der Onkelz ist allerdings bis heute in meinem Kopf: „Wir waren mehr als Freunde/Wir war’n wie Brüder/Viele Jahre sangen wir/Die gleichen Lieder.“ Es heißt „Nur die Besten sterben jung“ und ich mochte es, vielleicht, weil ich die blöden Jungpioniere vermisste, die Zeit, als wir lieber Papier und Flaschen gesammelt haben, als uns gegenseitig das Leben zur Hölle zu machen und weil ich dachte: Ja, sterben kannst du ja wirklich.

Mein erfundener türkischer Freund

Sicher bin ich noch immer nicht. Eines Abends fahre ich zufälligerweise nicht zu dem Parkplatz am Netto-Markt, wo wir uns immer treffen. Es sind nur wenige da und sie sind leichte Beute für eine größere Gruppe Schläger, die aus einem Nachbarort anrückt. Einen erwischt es besonders schlimm. Er fährt noch mit dem Moped nach Hause, bekommt dann aber seinen Kopf nicht mehr aus dem Helm, Tritte und Schläge haben ihn zu sehr anschwellen lassen. Er landet auf der Intensivstation.

Manche Erinnerungen reißt man sich ein wie Splitter und sie schmerzen noch Jahre danach. Der türkische Freund, den ich erfunden habe, ist so ein Splitter. Wir sind nach Ungarn gefahren, das letzte Mal zusammen. Wir liegen am Balaton, spielen Fußball. Wir reißen die Türen unserer Klos auf und fotografieren uns gegenseitig beim Kacken, wir rasieren einander die Brusthaare. Und dann, wir sitzen in einem Café, ich lese Zeitung, vielleicht habe ich da etwas über einen Überfall gelesen, ich weiß es nicht mehr. Ein Freund sagt irgendetwas über „blöde Kanaken“ und dass sie es verdient hätten und ich bin sofort auf hundertachtzig. Ich schreie, ich hätte einen türkischen Freund und der läge in Berlin im Krankenhaus, „wegen Leuten wie dir“. Es ist ein kurzer Moment, wenige Sekunden nur und sofort fühle ich mich mies.

Weil ich gelogen habe, ich habe keine türkischen Freunde und auch keine mit türkischen Namen, woher auch? Es gab an unserer Schule den Sohn eines Ingenieurs aus Angola oder Mosambik, der war nicht weiß. Selbst die Dönerfrauen, die ich kannte, waren in der Kreisstadt oder in einem der Dörfer geboren. Ich schäme mich auch, weil ich weiß: Es gibt Menschen, die sind wirklich verbrannt oder wurden zu Tode getreten. Und ich erfinde einen. Gleichzeitig habe ich Angst, dass jetzt unsere Freundschaft vorbei ist.

Das gehört auch zur Wahrheit jener Jahre, viele kannten die Rechten, die Rechtsradikalen, die Neonazis nicht nur von Weitem. Wir waren mit ihnen befreundet, wir mochten manche von ihnen, wir profitierten von ihrem Schutz. Im Buch von Manja Präkels hat der Obernazi der Protagonistin vielleicht das Leben gerettet. „Dass die Nazis oft unsere früheren Freunde aus der Schule waren, unsere Brüder, unsere Cousinen, das machte die Auseinandersetzung damals so schwierig“, sagt Manja Präkels. „Und das macht sie auch heute schwierig.“

Sie sagt auch, sie habe damals manchmal das Gefühl gehabt, jemand halte eine schützende Hand über sie. „Vielleicht aus der Zärtlichkeit der kindlichen Erinnerungen aneinander. Aber derlei Zärtlichkeit gibt es für Fremde, für Menschen anderer Hautfarbe nicht.“

Heute haben dieses Dilemma nicht mehr nur Ostdeutsche, die AfD ist auch im Westen erfolgreich. Wenn man sich mit seinem Bruder oder einem Freund streiten muss, dann lässt sich der Nazi nicht mehr nach Sachsen auslagern, dann ist man mitten in einer deutschen Identitätskrise. Präkels sagt, das sei doch die große Frage: „Sitzen wir lieber mit einem uns vertrauten Rechtsextremen am Tisch und tun so, als wäre alles normal oder stellen wir ihn und damit auch uns selbst infrage, indem wir uns für die einsetzen, die für uns Fremde sind?“

„Hm, scheiße, ist der schwer verletzt?“, sagt der Freund. Ich murmle irgendwas von nicht ganz so schlimm, ich lüge weiter, wer damit einmal angefangen hat, kann nicht einfach aufhören. „Tut mir leid, habe ich nicht so gemeint“, sagt er.

Für meinen Zivildienst gehe ich nach Berlin. Ab 1999 studiere ich in Leipzig. Ich habe Glück und treffe gute Leute aus dem Westen und dem Osten. Wenn ich mich in den richtigen Bezirken aufhalte, treffe ich keine Männer mit Glatzen. Nur ab und an höre ich Echos aus der Vergangenheit. Anfang der Nullerjahre findet ein Freund ein Loch in der Heckscheibe seines Autos, das Kind der Familie über ihm hat eine Vase aus dem Fenster geworfen. Der Vater des Kindes, eine Glatze mit Glatzenkumpels, hat keinen Bock, für den Schaden aufzukommen und das macht er meinem Freund klar. Ich überlege, ob ich meine Leute in Brandenburg anrufen soll, aber der Nazi ist aus Leipzig und muss nicht 200 Kilometer weit fahren, um mit mehr Leuten zurückzuschlagen.

In der Kleinstadt, in der ich zur Schule ging, leben heute auch Frauen mit Kopftüchern, die ihren Söhnen auf Russisch hinterherbrüllen, sie sollen gefälligst auf sie warten. In den Kneipen und Cafés bedienen Menschen, deren Eltern aus Vietnam und der Türkei kamen. Der Freund, der damals „Euthanasie“ auf seiner Heckscheibe stehen hatte, und den ich für diesem Text wiedergetroffen habe, sagt, er sei mit „Kurden, Türken, Russen, Vietnamesen“ befreundet. Er findet aber, man solle doch die Leute verstehen, die lieber nicht mit so vielen Ausländern zusammenleben wollen. Als ich ihn frage, ob er auch so leben will, sagt er: „Ach, ich weiß es doch auch nicht.“

Ich habe nicht gekämpft und schon gar nicht gewonnen. Ich bin einfach gegangen.

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