Jüdische Stimmen nach Demonstrationen: Wie sicher sind wir wirklich?
Die islamistischen Demonstrationen in Essen und Düsseldorf lösen Entsetzen aus. Wie eine Jüdin und ein Jude versuchen, damit umzugehen.
D er Tag, an dem rund 3.000 Islamisten und ihre Anhänger durch die Essener Innenstadt zogen, wird später bundesweit Bestürzung auslösen. Dort schwenkten Islamisten am vergangenen Freitag das Schwarze Banner, eine Flagge, auf der die sogenannte Schahada, das islamische Glaubensbekenntnis prangt, und das der sogenannte Islamische Staat, al-Qaida und die Taliban nutzen. Sie forderten ein islamistisches Kalifat. Sie liefen getrennt, Frauen und Kinder am Ende des Zugs.
Als Vizekanzler Robert Habeck zwei Tage zuvor eine viel gelobte Videoansprache veröffentlichte, benannte er so deutlich Antisemitismus in Deutschland, wie es schon lange kein Politiker getan hatte. Er sei gewachsen, der Antisemitismus, sagte er, bei Islamisten, Rechtsextremen, aber auch „in Teilen der politischen Linken“. Und Habeck stellte sich an die Seite Israels.
Viele Jüdinnen und Juden in diesem Land stellten sich daraufhin eine Frage, die seit dem bestialischen Massaker der Hamas-Terroristen an Zivilisten am 7. Oktober immer wieder in der jüdischen Community gestellt wird: Dass die Politik klare Worte finde, das sei ja schön. Aber: Wie sicher sind wir wirklich?
Die Shoa durch Zufälle überlebt
Am 4. November, einen Tag nach der islamistischen Demonstration in Essen, werden in Düsseldorf salafistische Influencer und solche, die ihnen nahestehen, einen Demozug für „Menschlichkeit“ im „Konflikt zwischen Israel und Palästina“ anführen. Der Terror der Hamas wird dort verharmlost werden, es wird die Shoa relativierende Plakate und Parolen geben. Auch in anderen deutschen Städten werden sich Tausende versammeln.
Zwei Stunden zuvor sitzt Herbert Rubinstein auf einem gepolsterten Stuhl in seiner Düsseldorfer Wohnung, neben ihm, auf dem Sofa, seine Frau Ruth. Rubinstein, 87, hat die Shoa nur durch Zufälle überlebt.
1936 wurde er in Czernowitz, der heutigen Ukraine geboren. Seine Kindheit verbrachte er ab 1941 zwangsweise im Ghetto. Rubinsteins Vater wurde von den Sowjets zwangsrekrutiert und später erschossen. Mit falschen Papieren umgingen Rubinstein, seine Mutter und sein Großvater die Deportation ins Konzentrationslager.
Rubinstein ist ein ruhiger Mann, der mit Bedacht redet. Er strahlt eine Professionalität aus, wenn er über die Vergangenheit spricht und die Gegenwart analysiert – und wird weich, lächelt, wenn er erzählt, dass der glücklichste Moment in seinem Leben der war, als er die beste Frau der Welt bekommen habe, seine Ruthi.
Breite gesellschaftliche Verurteilung bleibt aus
1956 zieht Rubinstein mit seiner Mutter und seinem Stiefvater Max Rubin, einem Auschwitz-Überlebenden, in dessen alte Heimat, nach Düsseldorf. Rubinstein hat als junger Mann mit anderen jüdischen Jugendlichen aus Düsseldorf und Essen begonnen, Jugendgruppen aufzubauen, die die Deutschen ausgelöscht hatten. „Wir werden den Nazis nicht den Sieg überlassen, dass es kein jüdisches Leben mehr in Deutschland gibt“, sagt er sich damals.
Rubinstein ist einer, der in seinem Leben stets die Balance gehalten hat zwischen Offenheit nach außen, dem Dialog, einem Miteinander in der Stadtgesellschaft, mit der Politik und religiösen Gruppen auf der einen und der Stärkung der eigenen jüdischen Strukturen auf der anderen Seite.
Ist es nach dem 7. Oktober noch möglich, Dialog zu halten, wenn auf Deutschlands Straßen zum Hass gegen Juden aufgerufen wird? Wenn die breite gesellschaftliche Verurteilung des Hamas-Terrors ausbleibt?
Rubinstein sagt: „Ich finde diese radikalen Demonstrationen auf den Straßen Europas furchtbar. Sie richten sich gegen die Allgemeinheit, nicht nur gegen Juden.“ Er betont, dass es aber auch Momente der Verbundenheit gebe. Kleine, aber doch da.
Vielleicht war es Wunschdenken
Am Abend zuvor hätten sich Vertreter der großen Religionsgemeinschaften – Christen, Juden und Muslime – zu einem interreligiösen Friedensgebet vor dem Düsseldorfer Rathaus versammelt. Natürlich seien da nur gemäßigte dabei gewesen, sagt Rubinstein. Keine Radikalen.
Wie sicher fühlt er sich, wenn knappe zehn Autominuten von seiner Wohnung entfernt diese Radikalen aber in Massen demonstrieren werden? „Ich fühle mich hier nicht unsicher, aber ich fühle mich nicht mehr sicher“, sagt Rubinstein.
Das habe bereits 1972 angefangen, mit dem Attentat in München, bei dem palästinensische Terroristen ein Massaker an israelischen Olympia-Teilnehmern anrichteten. Von diesem Tag an habe er sich immer wieder eingeredet: „Es wird doch nicht so schlimm kommen. Die Menschen sind doch vernünftig. Man will doch ein Miteinander, ein vereintes Europa. Und die Welt verbessern.“ Aber vielleicht, sagt er, war das auch Wunschdenken.
Rubinstein spricht von Türen, die weit offen waren, und meint damit die jüdische Gemeinde. Zwar habe man nach dem Olympia-Attentat die Sicherheitsvorkehrungen angepasst, sich aber nie verschanzt. Rubinstein, die jüdische Gemeinde, lebte weiter – immer in dem Bewusstsein, dass der Judenhass im Nachkriegsdeutschland weiter existierte.
„Wir Juden sind ein Volk der Wunder“
Die jüdische Gemeinschaft der Stadt Düsseldorf ließ sich auch dann nicht zurückdrängen, als Salafisten bis 2016 in Nordrhein-Westfalen bei öffentlichen Auftritten ganze Plätze füllten, dann griff das Bundesinnenministerium durch.
Nun, vier Wochen nach dem 7. Oktober, spricht Rubinstein zum ersten Mal von geschlossenen Türen jüdischer Gemeinden. Eine Reaktion auf die Welle antisemitischer Gewalt und Hetze. Trotz dieses Rückschritts verharrt Rubinstein nicht im Pessimismus, er sucht nach Lösungen. „Bildung, Bildung, Bildung, mit drei Ausrufezeichen. Und die Parolen der AfD, die müssen demaskiert werden“, sagt er.
Rubinstein spricht von Gesprächen, die nun geführt werden müssen, mit denen, die sich noch nicht radikalisiert haben. Er wünsche sich, dass man Wege miteinander gehe und nicht gegeneinander arbeite. „Wir Juden sind ein Volk der Wunder. Ich glaube fest daran, dass wir diese schwere Zeit überstehen werden. Wir werden die Türen wieder weit öffnen. Aber wir brauchen Zeit.“
Am selben Tag, einige Stunden später. An einem langen, weißen Esstisch sitzt Nicole Pastuhoff, 23, hinter ihr, auf der Fensterbank, rosafarbene Orchideen und eine goldene Menora. Pastuhoff ist Studentin und Präsidentin des Jüdischen Studierendenverbands Nordrhein-Westfalens. Anders als Herbert Rubinstein wirkt sie resignierter, enttäuschter.
Alleingelassen, nutzlos und verloren
In den vergangenen vier Wochen hat Pastuhoff viele Reden auf Kundgebungen gehalten. Jede einzelne hat sie versucht mit etwas Positivem zu beenden. Sie habe gespürt, dass sie den Anwesenden in diesen schweren Zeiten Mut zusprechen müsse, sagt sie. Hinterher hätten sich viele bei ihr bedankt, für ihre stärkenden Worte. Doch von Mal zu Mal fragte sich Pastuhoff: Glaube ich selbst an das, was ich da erzähle?
Als ein Mob den Flughafen in Machatschkala stürmt, in der russischen Teilrepublik Dagestan, als dieser Jagd auf ankommende Juden eines Flugs aus Tel Aviv macht, bricht Pastuhoff in ihrer Wohnung zusammen, weint, so erzählt sie es.
Sie habe sich alleingelassen, nutzlos und verloren gefühlt. Sie denkt: „Es macht keinen Sinn: egal wie viel ich rede, egal wie viel wir organisieren, es schürt nur noch mehr Hass, macht es noch unbequemer für uns.“ In ihr macht sich ein Gefühl der Perspektivlosigkeit breit.
Pastuhoffs Familie stammt aus der Ukraine und Moldau. Ihre Mutter wuchs in der Sowjetunion mit dem Bewusstsein auf, ihr Judentum verstecken zu müssen. Um nicht aufzufallen, wurde sie getauft. Pastuhoff verstand nie, warum ihre Mutter verdrängte, dass sie jüdisch ist. Das sei nach den Bildern aus Russland anders, sagt sie. Zum ersten Mal habe sie die Angst ihrer Mutter und Großeltern verstanden.
Sie kann nicht frei sprechen
Pastuhoff ist in Düsseldorf geboren. Sie hat diese Stadt bislang als ihr Zuhause empfunden, bis jetzt. Antisemitismus, der war für sie zwar schon immer alltäglich. Aber jetzt habe er „krasse Dimensionen“ angenommen.
Seit dem 7. Oktober fühlt sich Pastuhoff unsicher, sagt sie. Auf der Straße dreht sie sich ständig um. Wenn sie jetzt in der Bahn Gespräche führt, nennt sie keine israelischen Städtenamen mehr; sie verzichtet auf die Wörter Antisemitismus, Palästina, Gaza und Hamas – aus Angst.
Wenn sie eine jüdische Person anruft, dann schickt Pastuhoff voraus: Ich bin in der Bahn. Damit der andere wisse: Sie kann jetzt nicht frei sprechen. Bei fremden Nummern, die sie anrufen, nennt sie niemals zuerst ihren Namen, sondern wartet darauf, dass sich der andere vorstellt – man wisse ja nie, wer anruft.
Manchmal fragt sie sich, ob ihre Angst tatsächlich berechtigt ist, oder ob sie übertreibt. Sie fragt sich, ob das alles nur in ihrem Kopf sei? Dann wieder wird ihr bewusst: Die Realität ist ja wirklich schlimm.
„Allahu Akbar“-Rufe schallen herüber
Burgplatz am Rheinufer in Düsseldorf, später am Abend. Nicole Pastuhoff und Herbert Rubinstein sind gekommen, um Kerzen anzuzünden. 1.400, für die von der Hamas ermordeten israelischen Zivilisten.
Eine Mahnwache, die auf Initiative der FDP stattfindet. Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Bundestages ist gekommen, die Bürgermeister der Stadt, Stephan Keller und Josef Hinkel, Vertreter und Mitglieder der Jüdischen Gemeinde, und andere, die sich solidarisch zeigen wollen.
Am Straßenrand: Polizeischutz. Eine Viertelstunde Fußmarsch entfernt findet die Abschlusskundgebung der propalästinensischen Demonstration mit 17.000 Teilnehmern statt. „Free Palestine“- und „Allahu Akbar“- Rufe schallen immer wieder herüber. Zur Mahnwache am Burgplatz sollen knapp 300 Menschen gekommen sein, wird es später heißen.
Herbert Rubinstein, Nicole Pastuhoff und ein weiterer junger Jude stehen in einem Halbkreis zusammen. Die drei kennen sich. Die Jungen befragen den Älteren Rubinstein: Wie geht es weiter für uns Juden? Wie sollen wir weiterleben?
„Vergesst nicht zu leben“
Rubinstein: Ihr jungen Menschen hättet nicht gedacht, dass so etwas wie am 7. Oktober möglich ist. Ich weiß, dass es möglich ist. Die Hölle hat im Nationalsozialismus angefangen. Ganz ist sie nie verschwunden.
Die Jungen: Gerade ist es trotz allem doch sicherer in Israel als anderswo auf der Welt, oder?
Rubinstein: Zurzeit ist Vorsicht geboten. Ob wir uns aber verstecken, ist unsere Entscheidung. Ich trage meinen Anstecker mit Israelfahne ohne Angst. Ich bin bereit, die Gefahr einzugehen.
Vergesst nicht zu leben, sagt Rubinstein noch. Er lächelt. Später am Abend wird das Kaddisch gesprochen, ein Gebet, das der Ermordeten gedenkt. Die Kerzen brennen weiter. In den Straßen Düsseldorfs werden noch viele Stunden Palästinaflaggen geschwenkt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Der Fall von Assad in Syrien
Eine Blamage für Putin