Jahreswechsel als Illusion: Das gute Leben für alle muss her

„Dinner for One“, die ziemlich unlustige Fernsehsendung, soll dieses schreckliche Jahr beenden? Deutschland muss sein Feiertagsgame echt upsteppen.

Filmszene

„Same procedure…?„ – Ja, leider Foto: WDR

Meine Friseurin hat mir erzählt, dass sie sich an Silvester einfach wegballern will. Die letzten zwei Jahre in der Pandemie sind die ersten ihrer Selbstständigkeit und es läuft noch nicht so, wie sie es sich Ende 2019 ausgerechnet hatte.

Sie will dieses Jahr einfach mit einem harten Cut und billigem Schampus hinter sich lassen. Das verstehe ich gut, aber wünsche mir, Silvester wäre weniger auf Effizienz als auf einen mentalen Neuanfang ausgelegt. Ein ganzes Jahr soll man in nur einem Abend plus Katerkulanz am Neujahrstag hinter sich lassen.

Ich bräuchte mindestens bis zum Frühling, um mich von diesem Jahr zu erholen. Gut, ich sehe ein, dass das nicht machbar ist. Aber dass der 2.1. ein Montag ist klatscht mir ins Gesicht, als ob dieses Jahr nicht genug Schellen verteilt hätte. Silvester schafft es nicht mir vorzugaukeln, dass sich im neuen Jahr etwas ändert.

Das neue Jahr tut auch nie so, als ob die alten Probleme verschwinden werden. Im Gegenteil: Ab dem 2. erledigt man alles, was um die Weihnachtszeit herum liegen geblieben ist. In diesem Jahr fallen sowohl Weihnachten als auch Silvester auf ein Wochenende – wie unnötig ist das denn?!

Langweiliges Feiertagsgame

Klar, nicht alles war schlecht. Aber individuelle Glücksmomente sind ja für den politischen Lauf der Dinge nicht relevant. Was schlecht ist, bleibt es auch offenbar. Nur weil 25 Nazis festgenommen worden sind, die einen Umsturz planten, ist die Terrorgefahr von rechts nicht gebannt. Und die Pandemie, sind wir die in 2023 los? Was ist mit dem Gesundheitssystem, das Karl Lauterbach nicht gebacken kriegt, zu reformieren?

Schlecht bezahltes Personal auf der einen Seite, Pa­ti­en­t*in­nen und ihre Angehörigen auf der anderen Seite kritisieren den auf Profit ausgerichteten Sektor gleichermaßen. Was ist mit teuren Preisen und niedrigen Einkommen? Was mit dem Krieg, den Russland in der Ukraine führt?

Nicht zuletzt werde ich mir auch im neuen Jahr wohl oft die Frage stellen, wie viele Menschen in Iran noch getötet werden vom Regime? Wir könnten mit der Aufzählung noch bis morgen hier sitzen. Von all dem soll „Dinner for One“, die unlustigste Fernsehsendung neben dem Horrorfilm „Der Kleine Lord“ mich über die Feiertage abholen. Nein, das funktioniert nicht.

Deutschland muss sein Feiertagsgame echt upsteppen. Noruz, das Neujahrfest, das von Afghanistan über Iran bis Kurdistan gefeiert wird, dauert zwei Wochen! Im Frühling! Da kann man alle Sorgen vergessen und Hoffnung schöpfen. Aber so? Meine Friseurin hat Recht: Es muss etwas radikaler zugehen, damit man sich von den alltäglichen Sorgen, die man als Mensch ohne finanzielles Netz eben hat, ablenken kann.

Damit meine ich nicht die Feierei an Silvester, also gönnen Sie sich ruhig. Aber vielleicht können wir im nächsten Jahr etwas radikaler werden mit unseren Forderungen für ein gutes Leben für alle. Damit man sich nicht von Wochenende zu Wochenende zu Feiertag schleppen muss.

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